Es kommt drauf an, wie man’s macht

Warum Sido nur offene Türen einrennt. Eine Falluntersuchung zu popkultureller Provokation und Analverkehr. von dietmar dath

Als ich vor ein paar Jahren das erste Mal vom damals allerneuesten, verschärft männlichen, teils weißen und teils nicht ganz so weißen Schmuddel-HipHop aus Berlin erfuhr, geschah dies bei einem Abendessen in der Hauptstadt selbst, im kleinen, handverlesenen Kreis. Ein Herr von der schönen Literatur war dabei und einer von der alerten Popkritik, zwei Damen von der Kunst und keine einzige Charaktermaske des Schwei­nesystems (vielleicht hätte der erste Sido-Longplayer dialektischerweise so heißen müssen, nur umgekehrt: »Schweinemaske des Charaktersystems«, na ja, vertane Chance, »schade um das schöne Kokain«, wie Arnold Hau zu klagen pflegte).

Als eingefleischter Literarizist, der neue Vorgänge an den Fronten Musik, Filme und Bildende Kunst grundsätzlich immer nur dann begreift, wenn sie sich wie Texte wiedergeben lassen, ja womöglich wie Romane erzählt werden können, wollte ich sofort wissen, wovon diese neue dufte Bumsmusik, die bald darauf die beiden willigen Kätzchen Jugendschutz und Diskursanalyse ordentlich hernehmen sollte, denn nun eigentlich handelt.

Von der Chancenlosigkeit der Kiezjugend, riet die eine; von der kollabierenden Import­dialektik des Gangsta-Rap, vermutete der andere; von der Unmöglichkeit, mittels Techno Wut und Hass auszudrücken, lautete ein dritter Vorschlag. Nichts davon schien mir im Entferntesten glaubhaft; so funktioniert keine Schmuddel-Musik, Kinder, niemals, nirgends, das weiß doch wirklich jeder. So funktioniert höchstens ein Feuilletonskandälchen.

Endlich aber fiel das Wort »Rosette«, und ein informierter Zeuge fasste sich ein Herz: »Es wird jedenfalls sehr viel in den Arsch gefickt in diesen Lyrics.« Ach so – ich begann zu verstehen, erst recht, als besagter Clown Sido mir kurz darauf den klärenden Gefallen tat, einen Track mit dem Titel »Arschficksong« aufzunehmen: »Die Leute quatschen mich voll / Ihr redet immer nur über Scheiße, Arschficken und Kotzen und so (Yeah) / Hier ist der Track für euch Spasten / Den Leuten fällt es auf, wir reden ständig über Scheiße / Egal, ob flüssig, fest, braune oder weiße / Sie fragen, ob ich nur über Analsex reden kann / Doch es geht nicht anders, ich bin der Arschfickmann.«

Na also. Dann ist ja alles klar; das geht auf: Wir haben es hier evidenterweise mit dem klassischsten aller archetypischen Kniffe des subkulturellen Claimabsteckens zu tun – man nehme eine Sache, die sauber äquidistant zum Spießer wie zum echten, passionierten Perversen in der Medienlandschaft herumsteht, und schon darf man damit eine dieser offenen Türen einrennen, für deren sachgemäße und termingerechte Erstürmung die Kulturindustrie auf gelegentliche Rammböcke vom Rand der Gesellschaft angewiesen ist.

Ich meine das gar nicht so verklemmt indie-moralisch, wie sich’s vielleicht liest: Offene Türen einzurennen, kann für eine clevere Symbolpolitik, die weiß, dass sie in ihrer ganzen ordentlichen Durchsemantisiertheit selbst im allergünstigsten Fall bloß Platzhalterin oder Vorbereiterin sehr viel weniger ordentlich lesbarer, aber dafür dann auch viel wichtigerer sozialer Erscheinungen (Rabatz, Streik, Feurio) sein kann, in den Talsenken der gesellschaftlichen Unruhekonjunktur erheblich lohnender werden als das öde Bemühen, sich an verschlossenen Türen der Zensur oder Repression die Rübe platt und den Verstand stumpf zu stoßen.

Gerade der Umstand, dass das Arschficken weder so geschenkt erlaubt und totgefilmt wie die Missionarsstellung noch so verrufen und fernsehuntauglich wie genüssliches Pissetrinken ist, macht die Sache einigermaßen rund: Der Spießer gerät in Versuchung, der Underground aber kennt bereits die nötige Technik (erst mal ganz vorsichtig, Baby).

Max Goldt hat anlässlich einer dieser unregelmäßig in Erscheinung tretenden Homo-Debatten des Kulturbetriebs überaus zutreffend festgestellt, dass die Vorstellung der letzten noch unter uns lebenden anständigen Familienväter, Schwule seien vor allem Leute, welche »den« immer »in die andere Seite reinstecken«, einen merkwürdigen Kontrast zu der Tatsache beisteuert, dass die durchschnittliche heterosexuelle Pornothek Titel wie »Teenies Arschdehnung« oder »Doppelstecker in Prag« im Allgemeinen gleich meterweise feilbietet. Der Hetero-Analverkehr ist die Metrosexualität des Kleinen Mannes – und somit symbolerotisch möglicherweise höchst ergiebig; es kommt eben darauf an, wie man’s macht. Arschficken als Topos solcher Spektakelchen gibt es in den Geschmacksnoten »ganz schlecht«, »etwas besser«, »noch besser« und endlich (wünsch dir was) »am besten«.

Spielen wir’s rasch an der Literatur durch, wie man diese Fälle zu unterscheiden hat, weil ich mich da leidlich auskenne und man das hier Vorgefundene dann ja nach Bedarf auf die audio­visuellen Analogsachverhalte übertragen kann.

»Ganz schlecht« gefällt der Arschfick, wenn damit eine kitschige Lifestyle-und-Selbstverwirklichungs-Bekenntnis-Schmierage gewürzt wird, wie das in dem Bestseller »Ich ergebe mich : Ein erotisches Geständnis« von Toni Bentley passiert ist. Dieser Fetzen hat 2004 als »The Surrender« schon die amerikanische Frauenzeitschriftenwelt in Erstaunen versetzt und wird seit kurzem hierzulande von »Heyne Hardcore« angeboten. »Seiner war der Erste. In meinem Arsch.« So beginnt die Fahrt ins verdrängte Anal-Ich der Erzählerin noch einigermaßen hoffnungsvoll, aber am Ende kommt nicht mehr dabei rum als eine selbstbewusste Zicke von der Stange, die anderen Frauen kluge Ratschläge erteilt (»Sex kann nur dann wirklich tief gehen, das Leben verändern und trans­zendent sein, wenn man von Gott gefickt wird oder wenn man den betreffenden Mann liebt, als wäre er Gott«, nee, also dann doch lieber Ratzinger).

»Besser« nutzt das Hintertürchen, wer gleich eine Groteske schreibt – der bizarre Brüder-Grimm-Porno »Hänsel und Gretel«, seit 1996 vom ehrwürdigen Schundhaus Zettner in Würzburg vertrieben und von einem pseudonymen Monster namens »Xariklia Fucksheanus« verfasst, erfrischt den Geist unter anderem mit einer »Schneewittchen«-Version, in der alle sieben Zwerge sich nacheinander nicht nur über die Muschi der Heldin freuen dürfen, sondern auch über ihr »nicht minder geiles und gie­riges, aufreizend enges Polöchlein«, ein Diminutiv, der so recht nach Märchen schmeckt und jedenfalls zweihundertmal mehr Poesie in den öden alten Leitkultur-Stoff injiziert als Frau Bentley mit ihrem Gottesfick in die Lebenshilfeliteratur.

»Noch besser« setzt die in Witz und Ernst höchst preiswürdige Erzählerin A. L. Kennedy die Schließmuskelpenetration in ihrem schönen Roman »Alles, was du brauchst« (1999, deutsch 2002) ein, nämlich zum Behuf der Illustration einer emanzipatorischen Botschaft, welche man etwa mit den Worten zusammenfassen könnte: »Ficken und ficken lassen, das ist der erwachsene Weg zur Gleichheit und zur Freiheit« – es geht hier nicht um Schockgekasper, sondern um etwas Freundliches, Humanes, Zartes, und deshalb muss es der bärbeißige alte Schriftsteller Nathan Staples sein, aus dessen Kopf Kennedy die Erkenntnis fischt, dass die schönsten sexuellen Erfahrungen diejenigen sind, bei denen die Rindenschicht zwischen dem Außen und dem Innern der Seele, die wir »ich« nennen, plötzlich weich und durchlässig wird: »Und dann erinnerte er sich einen unvorsichtigen Moment lang an Mauras süßestes Lächeln, wie eine süße, verzehrende Flamme. Er zuckte unter der geisterhaften Berührung – nicht das, nicht jetzt –, das erste Mal, dass sie ihren wundervollen, angefeuchteten Mittelfinger bis zum Anschlag in seinen dankbaren, erstaunten, dankbaren, dankbaren Arsch geschoben hatte.«

Auf diesem Hochplateau der Menschenfreundlichkeit angekommen, gibt es nur noch eine mögliche Steigerung – statt zur Befestigung des moralischen Status Quo (Bentley), zur Zuspitzung einer Absurdität (»Fucksheanus«) oder zur Erziehung des Herzens (Kennedy) kann man die Sache »am allerbesten« schlicht um ihrer selbst willen feiern – womit wir bei Samuel Delanys bis heute unerreichtem Meisterwerk »Mad Man« aus dem Jahre 1994 wären, einem 500-Seiten-fuckfeast quer durch die schwulen Subkulturen eines phantasmagorisch überhöhten und untertunnelten New York City, in dessen Verlauf nicht nur der eine oder andere »heavily into urine and excrement« gerät, sondern auch ein superviriler, zirka drei Meter großer Minotaurus auftritt, der sich mit dem Ich-Erzähler buchstäblich den Arsch abwischt – erlaubt ist, was gefällt und niemanden schädigt. In welchem marktüblichen Hetero-Porno könnten sich zwei Menschen je so schöne Komplimente machen wie das, welches Delanys Held von einem Mann empfängt, dem er soeben den Finger in den Po gesteckt und dazu vorbildlich einen geblasen hat: »Du könntest sogar Chrom von einer Motorhaube lutschen«?

Erst als Selbstzweck und tragendes Element des Genres »Wir machen hier, was wir wollen; das nennen wir geil« kann der Arschfick in der Kunst wenigstens momentweise das werden, wozu ihn der Schöpfer bestimmt hat: eine Praxis, die Menschen zufriedener macht, als sie vorher waren, und nebenbei ihr Körperbild verändert, ohne dass das gleich wieder so furchtbare Folgen wie eine neue Ethik oder Kinder nach sich zieht.

Dieser Text ist ein verstümmelter Vorabdruck aus dem Buch »Sauerei Moderne«, das irgendwann irgendwo erscheint.