Auf Kaution frei

Unabhängige Medien im Nordirak kritisieren auch die großen kurdischen Parteien. Die Regionalregierung will die Pressefreiheit wieder einschränken.

Mariwan Hama Rasheed ist heute noch schockiert, wenn er das Band mit den Schüssen vorspielt, das er während der Demonstration in Halabja aufgenommen hat. Im März nutzten mehrere tausend Bewohner Halabjas die offiziellen Gedenkfeiern zum Jahrestag des Giftgasangriffs 1988, um auf die desolaten Zustände in ihrer Stadt und die ausbleibenden Entschädigungszahlungen hinzuweisen. Die Situation eskalierte, als Angehörige der Asaish, der Sicherheitspolizei der kurdischen Autonomiebehörde, den Demonstraten den Weg versperrten und in die Menge schossen. (Jungle World, 12/06)

Mariwan Hama Rasheed dokumentierte die Schüsse. Als einem der wenigen anwesenden Me­dien­ver­treter gelang es ihm, sein Material in Sicherheit zu bringen. »Den meisten Kollegen wurden Kameras und Filme abgenommen. Einige gaben ihr Material später freiwillig her, nachdem die Regierung sie dazu aufgefordert hatte, um Demons­tranten identifizieren zu können«, berichtet der Mitarbeiter der internationalen NGO Institute for War and Peace Reporting. Es gab jedoch auch kritische Berichte über die Ereignisse in Halabja. Hawez Hawezi von der Wochenzeitung Hawlati wurde für einen Beitrag sogar einige Tage inhaftiert. Dieser trug den Titel: »Kurdische Tyrannen, verschwindet!«

Bis zum Sturz des Ba’ath-Regimes im Jahr 2003 wurden auch im kurdischen Autonomiegebiet des Irak die Medien von der Presse der kurdischen Par­teien beherrscht. Gleichzeitig zur Entwicklung einer freien Presse in Bagdad entstanden in den vergangenen drei Jahren jedoch auch in den kurdischen Gebieten immer mehr unabhängige Zeitschriften, Zeitungen und Radiosender, wie etwa Radio Dengue Nwe in Halabja. Die bereits Ende 2000 gegründete Hawlati wurde innerhalb weniger Jahre zur auflagenstärksten Zeitung des Landes.

Erstmals gab es investigativen Journalismus in kurdischer Sprache. Journalistinnen und Journalisten von Hawlati gingen Korruptionsskandalen nach, sie behandelten gesellschaftliche und politische Probleme. Für die kurdische Gesellschaft, die während der jahrzehntelangen Kämpfe gegen über­mächtige Gegner keine Kultur der kontroversen Diskussion entwickelte, weil hinter jeder Kritik Illoyalität und Verrat vermutet wurden, stellte dies ein völliges Novum dar. Vom politischen Establishment wurde die Entstehung einer kritischen Öffent­lichkeit nicht nur begrüßt. Insbesondere in den von Massoud Barzanis Demokratischer Partei Kurdistans (KDP) beherrschten Territorien war der Vertrieb von Hawlati anfangs fast völlig unmöglich, seit dem Jahr 2004 kann die Zeitung aber auch dort ver­kauft werden. Im Gebiet von Präsident Jalal Talabanis Patriotischer Union Kurdistans (Puk) wurde Hawlati, wenn auch manchmal widerwillig, geduldet. Anfang 2006 entstanden neben Hawlati noch zwei weitere unabhängige und kritische Wochenzeitungen: Awene und Beyani. Viele Journalisten, die zuvor bei Hawlati gearbeitet haben, schreiben heute für Awene.

Mangels eines Postvertriebs werden Zeitungen im Irak nur auf der Straße verkauft. »Kommt eine neue Hawlati oder Awene, verkaufe ich fast alle Exemplare am ersten Tag. Auf den Zeitungen der Parteien bleibe ich oft eine ganze Woche sitzen«, sagt Abdullah, ein Zeitungsverkäufer in Arbil. Die Kurdistani Niwe der Puk und die Peyame Kurd der KDP sind die einzigen Tagseszeitunges in kurdischer Sprache, doch die parteiunabhängigen Blätter sind beliebter. »Nach wenigen Ausgaben konnten wir bereits 70 Prozent unserer Auflage verkaufen«, berichtet Asso Ahmed, der Chefredakteur von Beyani.

Trotzdem ist seine Zeitung bereits wenige Monate nach ihrer Gründung in schwe­re finanzielle Probleme geraten. »Noch gibt es hier keine offene Zensur, aber wir werden einerseits mit existenzbedrohenden Klagen überhäuft, und an­dererseits wagt es auch kaum eine Firma, in den unabhängigen kritischen Zei­tun­gen zu inserieren, da jede größere Firma mit ihren Investitionen vom Wohlwollen der Partei abhängig ist.« Kritische Artikel werden oft mit Klagen geahndet. Erst vor drei Wochen wurde Asso Ahmed wieder einmal aus der Unter­suchungshaft entlassen, nach­dem er einen Artikel über das Elektrizitätsministerium der kurdischen Regionalregierung veröffentlich hatte. Die für solche Freilassungen notwendigen Kautionen sind Teil des ökonomischen Drucks, der auf den unabhängigen Zeitungen lastet.

Der jüngste Höhepunkt des Versuchs, die aufblühende kritische Öffentlichkeit wieder unter Regierungskontrolle zu brin­gen, stellt die Verurteilung der beiden Chefredakteure von Awene und Hawlati, Asos Herdi und Twana Osman, zu sechs Monaten Haft dar. Das am Dienstag der vergangenen Woche gefällte Urteil bestraft einen Artikel in der damals noch von beiden gemeinsam gemachten Hawlati. Darin wurde der damalige Ministerpräsident des von der Puk beherrschten Teils Irakisch-Kurdistans, Omar Fatah, beschuldigt, für die Kündigung von zwei Mitarbeitern des Kommunikationsminis­teriums gesorgt zu haben. Die beiden hatten seinen privaten Telefonanschluss stillgelegt, weil Fatah monatelang keine Telefonrechnungen bezahlt hatte.

Die Mitarbeiter von Awene waren über dieses Urteil entsetzt. Sara Qadir, eine junge Redakteurin der Zeitung, fürchtet jedoch noch Schlimmeres für die Zukunft: »Zur Zeit befindet sich gerade ein neues Pressegesetz in Arbeit, das so formuliert ist, dass es jederzeit gegen kritische Journalisten eingesetzt werden kann.« Nach der Verabschiedung könnten Journalisten für Artikel bestraft werden, wenn diese gegen die »nationalen Interessen«, die Religion oder gegen die »allgemeinen Bräuche« gerichtet sind.

Tiare Rath, die Herausgeberin des Iraqi Crisis Report des Institute for War and Peace Reporting, sieht darin einen Paragrafen, der zur Kriminalisierung kritischer Medien genutzt werden kann: »Im Gegensatz zu Bagdad wer­den hier keine Journalisten von Terroristen ermordet. Allerdings ist hier die politische Kontrolle über die Medien stärker als in Bagdad, wo verschiedene politische Kräfte miteinander konkurrieren. Hier wird alles von den zwei großen Parteien beherrscht, die nun gemeinsam den Spielraum für unabhängige Medien wieder einschränken wollen.«

Ob dies so ohne weiteres gelingen wird, ist jedoch fraglich. Mittlerweile ist mit den Redakteuren von Hawlati, Awene und Beyani eine Generation junger Journalisten heran­gewachsen, die nicht mehr willens sind, nur für Verlautbarungsorgane von Regierungsparteien zu schreiben. Wer Sara Qadir in der Redaktion von Awene gegenübersitzt, glaubt ihr sofort, dass sie sich nicht einschüchtern lassen wird: »Wir machen unsere Arbeit weiter. Die Menschen hier interessieren sich für eine kritische und weltoffene Presse. Diese Nachfrage werden wir weiterhin befriedigen.«

Weniger optimistisch ist Asso Ahmed, der Chefredakteur von Beyani: »Wenn wir noch weitere kostspielige Klagen bekommen, müssen wir einfach aus wirtschaftlichen Gründen den Laden dicht machen. Wir sehen das Interesse unserer Leser, aber wir können schon jetzt nur deshalb überleben, weil viele unserer Redakteure auch noch einen anderen Brotberuf ausüben und hier auf jedes Honorar verzichten.«