Der Mozart des Kartentischs

Die Lebensgeschichte von Stuey Ungar, einem der besten Pokerspieler aller Zeiten, wird derzeit verfilmt. von elke wittich

Welchen Beruf wird jemand, dessen Intel­li­genzquotient 183 beträgt, der obendrein mit einem fotografischen Gedächtnis und genialen mathematischen Fähigkeiten ausgestattet ist, wohl erlernen? Für Isadore Ungar wäre das bis Ende der siebziger Jahre wohl keine Frage gewesen. Doktor würde sein Sohn Stuey eines Tages werden, das stand für den jüdischen Emigranten fest. Die schulischen Leistungen des Jungen waren schließlich überragend, entsprechend würde eine akademische Karriere ein Leichtes für ihn sein.

Stuey Ungar hatte jedoch einen völlig anderen Plan. Schon als Kind stellte er fest, dass seine Fähigkeiten ihm in einem Bereich von großem Nutzen waren, der mit der akademischen Welt überhaupt nichts zu tun hatte. Er war ein großartiger Pokerspieler.

Sein Vater nahm ihn manchmal mit ins Fox’s Cor­ner, eine New Yorker Bar, deren eigent­liche Einnahmequelle illegale Glücksspiele waren. Die Eltern spielten gern, so wuchs der Sohn mit den Kar­ten auf. Bereits im Alter von acht Jahren wies er seine Mutter Faye auf begangene Fehler hin. Mit zehn gewann Stuey sein erstes Turnier, mit 14 galt er als bester Pokerspieler der Stadt. Ein Jahr später, der Vater war gerade gestorben, entschied er, dass die Welt der ­Spieler viel aufregender sei als die langweilige Schule, und wurde Kartengeber in Fox’s Corner. Zeit seines Lebens sollte er nicht einmal aushilfsweise einen normalen Job annehmen. Seine Welt blieben die Karten und alles, was damit zusammenhing.

Seine überragenden Fähigkeiten machten ihn zu einem Weltklassespieler und gefürchteten Gegner. Er war, obwohl notorisch hyperaktiv, konzentriert genug, er ahnte meist, welche Karten seine Kontra­henten in den Händen hielten, er war in der Lage, blitzschnell seine Chancen durchzurechnen, und konnte sich genau daran erinnern, welches Blatt er vor vier Wochen in der Hand gehalten hatte.

In den siebziger Jahren zog er nach Las Vegas um, wo Pokerspielen nicht gesetzlich verboten war. Er wurde schnell zum Star, was auch an seiner Art des Spielens lag. Hyperaktiv oder stoisch, diese beiden Extreme waren kennzeichnend für ihn. Völlig ungerührt saß er am Tisch, völlig ungerührt erhöhte er seinen Einsatz auf einen Millionenbetrag, völlig ungerührt bluffte er in einer Art und Weise, die Experten als »selbstmörderisch« bezeich­neten. Und er gewann. Manchmal verhöhn­te er seine Kontrahenten sogar. »Er war ein unerträg­licher Gewinner und ein elendiger Verlierer«, sagte ein Kollege über ihn. Einer, der trotz eines miesen Blatts entweder absolut cool einen Bluff durchzog, auf den die ­Mitspieler notorisch hereinfielen, oder zur Not auch den Geber ­anschrie und ihn ungeheuerlicher Machenschaften bezichtigte.

Auf diese Weise erarbeitete er sich einen einzigartigen Ruf unter Pokerfans, die seine Ausfälle ebenso liebten wie sein kühl kalkuliertes Spiel. »Der Mozart des Kartentischs« wurde sein Spitzname. Im Gegensatz zu dem Komponisten und auch anders als seine erfolgreichen Kollegen wurde er jedoch nicht zum Darling der High Society. Charmante Plaudereien, höfliche Umgangs­formen, gebildete Konversationen und Taktierereien waren ihm schlicht fremd. Er beherrsch­te nicht einmal, wie Freunde berichteten, den Umgang mit Messer und Gabel. Außerdem interessierte er sich ganz einfach nicht für die Welt der amerikanischen Upper Class, selbst als erwachsener Mann zog ihn dafür die Unterwelt der Mafia und der Gangster magisch an.

Symptomatisch ist, was seine Tochter Ste­fanie nach dem Tod des Vaters in einem Interview mit der bri­tischen Tageszeitung The Independent über die Reaktion ihres Vaters auf eine Einladung ins Weiße Haus berichtete. Auf die Frage, ob er sie annehmen und den damaligen Präsidenten George Bush sen. treffen wolle, antwortete Ungar kurz und knapp: »Nein. Worüber soll ich denn mit dem reden? Wir haben doch nichts gemeinsam.«

Stefanie hat jedoch auch andere, weit weni­ger lustige Erinnerungen an ihren Vater. Ihre Eltern waren sich in einer New Yorker Bar begegnet, kurze Zeit später heirateten sie. Doch die Ehe scheiterte. Es dürfte wohl auch der mangelnde Realitäts­sinn von Ungar gewesen sein, der dazu beitrug. Dazu gehörte auch sein Umgang mit Geld. Er ver­diente mit seinem Spiel zwar Millionen, die Gewinne bei den großen Turnieren gab er jedoch grundsätzlich umgehend wieder aus. Auf die Idee, ein Konto einzurichten, kam er zeitlebens nicht.

Mike Sexton, ebenfalls ein professioneller Pokerspieler, erzählte: »Es gab Tage, da hatte er hunderttausende Dollar in der Tasche. Wäh­rend gleichzeitig Frau und Tochter zu Hause im Dunkeln saßen, da die Energiegesellschaft den Strom abgestellt hatte. Er hatte dann ganz einfach die Rechnungen nicht bezahlt.«

Nachdem er ein großes Turnier gewonnen hatte, kaufte er sich eines der neuesten Mercedes-Modelle. Lange hatte er jedoch keinen Spaß an dem Wagen, denn nach einiger Zeit blieb dieser mit einem lauten Knall einfach stehen. Der herbeigerufene Automechaniker schüttelte nur den Kopf, wäh­rend Ungar in einem Wutanfall schrie, es sei unerhört, dass ihm niemand gesagt habe, dass man regelmäßig Öl nachfüllen müsse.

So sehr er das Spiel im Griff hatte, so wenig kam er im Leben zurecht. In den neunziger Jahren war er finanziell ruiniert, wegen seiner Unfähigkeit, mit Geld umzugehen, und körperlich und seelisch geschädigt, wegen seines fortgesetzten Drogenkonsums. Auf die Frage, ob er für eine Million Dollar russisches Roulette spielen würde, antwortete er einmal: »Ja. Mit fünf Kugeln.«

Das hätte das Ende der Geschich­­te von Stuey Ungar sein können, über die gerade ein Film gedreht wird unter dem Titel: »One of a Kind. The Rise and Fall of Stuey ›The Kid‹ Ungar«, von Graham King, dem Produzenten des Films »The Avi­ator«. Aber im Mai 1997 begann in Las Vegas die World Series of Poker, und Ungar war der letzte Spieler, der sich anmeldete, weil er große Schwierigkeiten hatte, die Startgebühr in Höhe von 10 000 Dollar aufzutreiben.

Er gab alles, gewann den Titel und mehr als eine Million Dollar. Und er verlor das Geld im üblichen Tempo. Er wettete sechsstellige Summen auf Baseballspiele, Drogendealer gaben sich in seinem Hotelzimmer die Türklinke in die Hand. Bald darauf musste er sich Geld von seinen Freunden leihen und in ein billiges Motel umziehen.

Am 21. November 1998 sah ihn der Hotelmanager zum letzten Mal. »Er lag im Bett und bat mich, die Fenster zu schlie­ßen, weil ihm so kalt sei. Die Fenster waren aber geschlossen«, sagte er. Einen Tag später war Stuey Ungar tot. Er wurde nur 45 Jahre alt.

Der Rabbiner, der im Auftrag der Pokerkollegen mit der Beerdigung betraut wurde, sprach in der Grabrede davon, dass eine Krankheit und Drogen zum vorzeitigen Tod Ungars geführt hätten. Bei der Obduktion wurden jedoch weder An­zeichen für eine Überdosis noch für eine Krankheit festgestellt. Ungars Freunde sind sich daher sicher, dass er ganz einfach nicht für ein langes Leben vorgesehen und auch gar nicht daran interessiert war.