Die Ölrente ist sicher

Staatliche Energiekonzerne fordern höhere Abgaben von ausländischen Firmen, sichern aber auch die Versorgung der Industriestaaten und ermöglichen den Förderländern eine Modernisierung. von jörn schulz

Evo Morales hatte seinen Amtseid noch nicht geleistet, als ein erfahrener Diplomat ihm schon mit gutem Rat zur Seite stehen wollte. Javier Solana, der EU-Repräsentant für Außen- und Sicherheitspolitik, mahnte Anfang Januar, dass »Rechtssicherheit fundamental ist, damit ausländische Investitionen ankommen und die Entwicklung voranschreitet«. Doch offenbar hat Morales nicht aufmerksam gelauscht. »Ich dachte, er hätte verstanden, was ich ihm gesagt habe«, sagte Solana am Dienstag der vergangenen Woche. Nun aber müsse er erkennen, dass Morales »nicht alles verstanden« und deshalb eine verhängisvolle Entscheidung getroffen habe, unter deren Folgen »die Bürger Boliviens leiden werden«.

Neben dem brasilianischen Staatskonzern Petrobrás sind vor allem europäische Unternehmen von der Verstaatlichung der Erdgasressourcen Boliviens betroffen, und so blieb es der EU-Kommission vorbehalten, ihre »Sorge« zu äußern. Überraschend zurückhaltend reagierte dagegen die US-Regierung. Ihr Sprecher Scott McClellan vermochte keinen »offiziellen Wandel« zu erkennen, noch sei ungewiss, ob die bolivianische Regierung wirklich »von der Privatisierung zur Nationalisierung« übergehen werde. »Wir haben keine Klarheit darüber, wie die Auswirkungen auf Verträge und Investitionen sein werden«, sagte der US-Handelsrepräsentant Rob Portman. Die Gelassenheit dürfte darauf zurückzuführen sein, dass die Folgen der Verstaatlichung nicht ganz so unklar sind, wie Portman behauptet. Die europäische und brasilianische Konkurrenz muss in Zukunft höhere Abgaben zahlen, enteignet wird jedoch vorerst niemand, sodass die Grundlagen des kapitalistischen Geschäftslebens nicht gefährdet sind.

Morales hat die günstige Gelegenheit ergriffen, um eine Maßnahme durchzusetzen, die für jeden von Rohstoffexporten abhängigen Staat ökonomisch vernünftig ist. Nur das Staatsmonopol bei der Verteilung von Lizenzen und der Vermarktung gibt der Regierung die nötige Verhandlungsmacht, um von den Konzernen hohe Abgaben zu erzwingen. Ein solches Monopol zu etablieren, gelingt fast nur Staaten, die über strategisch wichtige Rohstoffe wie Öl oder Erdgas verfügen, und auch sie müssen eine vorteilhafte politische Situation abwarten. Die Gründung der Opec im Jahr 1960, die maßgeblich auf eine Initiative Venezuelas zurückging, bewirkte allein noch wenig. Erst die Ölkrise ermöglichte es den Staaten des Nahen Ostens, die begehrten Quellen unter staatliche Kontrolle zu stellen. Das taten dann Anfang der siebziger Jahre alle, das »ara­bisch-sozialistische« Regime des Irak ebenso wie das islamisch-reaktionäre Königshaus Saudi-Ara­biens.

Einige Jahre lang waren die »gierigen Ölscheichs« das Ziel von Spott und Kritik, mittlerweile aber beklagt sich niemand mehr darüber, dass jedes Geschäft im saudischen Energiesektor mit dem Staatskonzern Saudi Aramco abgewickelt werden muss. Die Monopolisierung hat auch Vorteile. Westliche Politiker geben das ungern zu, weil es den Dogmen des Freihandels widerspricht. Anedrerseits aber fordern sie unermüdlich einen »vernünftigen« Ölpreis, während sie sich um die Preise für Bier, Seife oder Fernseher wenig scheren. Die Versorgung westlicher Unternehmen mit Energie zu »vernünftigen« Bedingungen gewährleistet am besten eine begrenzte Zahl von Staatskonzernen in den Förderländern, die allein in der Lage sind, für die zur Preisregulierung notwendige Steigerung oder Drosselung der Produktion zu sorgen.

Den Förderstaaten sichert das Staats­mono­pol nicht nur höhere Einnahmen. Es verschafft ihnen größeren Einfluss in der internationalen Politik, potenziell aber auch mehr Macht gegenüber der Bevölkerung. Die ausländischen Lizenznehmer sorgen mit einer überschaubaren Zahl einheimischer Arbeitskräfte für gesicherte Einnahmen, eine »Rente«, bei deren Verteilung die Regierung die Auswirkungen auf die gesellschaftliche Produktivität nicht berücksichtigen muss. Im Zentrum der innenpolitischen Auseinandersetzung steht daher der Zugang zur Ölrente.

Das Konzept des Rentenstaates wurde für die Analyse der Ölstaaten des Nahen Ostens entwickelt, deren Regierungen zwar häufig recht generös Wohltaten an privilegierte Bevölkerungsgruppen verteilten, aber wenig für die gesellschaftliche Modernisierung taten. Auf Venezuela und Bolivien ist es nicht ohne weiteres anwendbar. Seit dem Streik der iranischen Ölarbeiter im Jahr 1979 gab es in den Rentenstaaten des Nahen Ostens keinen Klassenkampf mehr, der ein Regime hätte gefährden können. Die Verstaatlichung der bolivianischen Erdgasressourcen, die Entstehung der »bolivarianischen Alternative« und die Sozialprogramme in Venezuela dagegen sind eine Folge des Drucks sozialer Bewegungen.

Wenn nun kubanische Mediziner dorthin gehen, wo noch nie zuvor ein Arzt gewesen ist, der Analphabetismus bekämpft wird und bislang durch rassistische Diskriminierung benachteiligte Bevölkerungsgruppen integriert werden, steigert das auch die gesellschaftliche Produktivität. Morales und Chávez haben jedoch mit dem gleichen Undank zu kämpfen, der schon anderen bedeutenden Sozialdemokraten wie Franklin D. Roosevelt entgegenschlug. Die Unternehmer wünschen sich gesunde und gebildete Arbeitskräfte, nur bezahlen wollen sie dafür nicht. Der »New Deal«, der in den Gesellschaften Venezuelas und Boliviens durchgesetzt werden soll, ist eine längst fällige Maßnahme der kapitalistischen Modernisierung.

Doch da die unsichtbare Hand des Marktes oftmals hinter dem Rücken der sozialen Akteure wirkt, ist das Konzept des Rentenstaates auch für Venezuela und Bolivien von Bedeutung. Die Regierungen beider Länder können sich nicht wie gönnerhaft über der Gesellschaft thronende Wohltäter verhalten, sie dürften der Versuchung, die Verteilung der Einnahmen für die Belohnung von Verbündeten und die Bestrafung von Kritikern einzusetzen, auf Dauer aber kaum widerstehen können. Für die Anführer sozialer Bewegungen ist der Zugriff auf das von der Regierung verwaltete Geld entscheidend, um die Loyalität ihrer Anhänger zu sichern.

Es ist unwahrscheinlich, dass die charismatische Führung der beiden linken Präsidenten und die recht diffuse bolivarianische Ideologie ausreichen, um bei Interessenkonflikten einen Ausgleich zu schaffen. Auch Chávez scheint zu fürchten, dass seine Popularität schwinden könnte, und möchte sich der lästigen Pflicht entziehen, ständig zur Wiederwahl antreten zu müssen. Am Samstag kündigte er ein Referendum an, bei dem die Venezolaner über eine etwas längere Amtszeit entscheiden sollen: »Ich werde euch, alle Leute, fragen, ob ihr zustimmt, dass Chávez bis 2031 Präsident sein wird.«