Italienisch für Linke

Die kommunistische Tageszeitung il manifesto wird 35. von catrin dingler

Die linke italienische Tageszeitung il manifesto feiert ihr 35jähriges Bestehen und hat zu diesem Anlass ein hundert Seiten umfas­sendes, aufwändig gestaltetes Jubiläumsheft herausgegeben. Ein nicht unerheblicher Teil der Ausgabe widmet sich der Diskussion um die Bedeutung der Ereignisse des Jahres 1968. Das scheint insofern vielleicht überraschend, als man sich damit auf eine Zeit vor der Gründung der Zeitung konzentriert. Das Blatt existiert seit 1971, aber il manifesto gab es lange bevor die erste Ausgabe der Tageszeitung erschien. Il manifesto war zunächst eine politische Gruppe, die dann die gleich­namige Monatszeitung und schließlich die Tageszeitung herausgab.

Als der Partito comunista italiano (PCI) auf seinem XII. Kongress Ende 1968 weder den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag zu kritisieren noch zu den Umbrüchen in der italienischen Gesellschaft Stellung zu nehmen vermoch­te, entschloss sich die Parteilinke, eine Zeitschrift zu gründen, die monatlich erscheinen sollte. Die Redakteure und Redakteurinnen des neuen Blattes sahen sich in marxistischer Tradition, il manifesto wurde aber bewusst im Dissens mit der offiziellen Linie der Parteiführung konzipiert. Schon nach der zweiten Ausgabe kam es zum Bruch mit der Partei. Die Herausgeber, Rossana Rossanda, Luigi Pintor und Aldo Natoli, wurden aus dem PCI ausgeschlossen und machten sich daran, il manifesto in eine Tageszeitung zu verwandeln.

In ihrer kürzlich erschienenen Auto­biografie schreibt Rossanda über diese Zeit des Umbruchs: »Wir, il manifesto, fielen nicht ins Nichts wie die meisten von denen, die den PCI verlassen hatten. Wir gerieten mitten hinein in die Krise der Universität und die Kämpfe der Arbeiter. Wir hofften, eine Verbindung herstellen zu können zwischen den neuen Ideen einerseits und der Weisheit der alten Linken, die ihre glorreichen Tage gehabt hatte, andererseits.« Dann fügt sie lapidar hinzu: »Es hat nicht funktioniert. Aber das ist eine andere Geschichte.« Dieses Schlusswort überrascht nicht nur durch den enttäuschten, fast resignierten Tonfall. Irritierend ist vor allem, dass Rossanda ihre Jahre in der Redaktion von il manifesto unerwähnt lässt.

Im aktuellen Jubiläumsheft il manifesto 35 wird Rossandas ebenso knappem wie provokativem Urteil widersprochen. Il manifesto – nur ein weiteres gescheitertes linkes Projekt? Immerhin hat der Untertitel »kommunistische Tageszeitung« zahlreiche Relaunchs überlebt, das damit verbundene politische Projekt wurde ostentativ seit Jahrzehnten verteidigt. Marco Bascetta, Ida Dominijanni und Stefania Giorgi, die die Geburtstagsausgabe konzipiert haben, luden deshalb zur Diskussion und forderten mehrere namhafte Autoren und Autorinnen auf, über die Frage, was 1968 zu Ende ging und welche »andere Geschichte« 1968 begann, zu schreiben.

Einer der prominentesten Autoren ist Antonio Negri. Sein Optimismus, der es ihm erlaubt, die Protestbewegungen nach 1968 als eine Serie von Siegen der neuen antagonistischen Klasse zu beschreiben, ist hinlänglich bekannt. Auf der anderen Seite verbreitet Luciana Castellinas Nostalgie, wenn sie bedauert, dass eine Wiederannäherung zwischen der neuen Linken und dem PCI verpasst wurde. Mario Tronti und Marco Revelli teilen Ros­sandas kritische Einschätzung, wonach die Bewegungen der neuen Linken zwar soziale und kulturelle Veränderungen bewirkt hätten, politisch dagegen gescheitert seien und der Konsolidierung einer populistisch-konservativen Rechten nichts entgegenzusetzen gehabt hätten.

Mit Detlev Claussen hat man sich nicht nur einen Gastautor aus Deutschland ins Blatt geholt, sondern auch einen ausgewiesenen Vertreter der Kritischen Theorie. Claussen schreibt, dass sich die italienische linke Bewegung auf die Resistenza habe berufen können und keine nazi-faschistische Vergangenheit aufzuarbeiten brauchte. So wichtig es ist, diese nationalen Unterschiede im Blick zu behalten, so überfällig ist die Kritik am Antisemitismus der neuen Linken in Italien. Luisa Muraros Blick auf die Ereignisse von 1968 verrät etwas von der Theorie und Praxis des italienischen Feminismus, der in der Geschichte von il manifesto eine herausragende Rolle spielt. Nicht nur weil von Anfang an sehr viele Frauen am Projekt der Tageszeitung beteiligt waren und die großen Themen der Frauen­bewegung (Abtreibung, Scheidung, sexueller Miss­brauch, Reproduktionstechnologien etc.) über all die Jahre kontrovers diskutiert wurden, sondern weil sich der für den italienischen Feminismus maßgebliche Gedanke der sexuellen Differenz in der Auswahl der Themen und der Kommentierung der Ereignisse widerspiegelt.

Dem monografischen Teil zu 1968 schließt sich eine originelle Chronik an. Jedes der 35 vergangenen Jahre wird mit einem Ereignis in Verbindung gebracht, mit einem Artikel aus dem Archiv ins Gedächtnis gerufen und in einem Kommentar noch einmal aus heutiger Sicht reflektiert. 35 Doppelseiten linke Geschichte: in den siebziger Jahren die großen sozialen Mobilisierungen, der femi­nistische Separatismus, die Aktionen der Brigate Rosse bis zur Entführung Aldo Moros; in den achtziger Jahren die Niederlage der Arbeiter in den Kämpfen bei Fiat, die politischen Prozesse gegen Potere Operaio und die Au­tonomia, in den neunziger Jahren die Auflösung des PCI und der politische Aufstieg Silvio Berlusconis.

Die hauseigene Historiografie zeigt, dass die Kämpfe zwischen kommunistischer Häresie und neuer Linken das Blatt in allen Phasen begleiteten. Il manifesto ist eine hybride politische Institution geblieben. Doch gerade die gegen jede Partei und Gruppierung behauptete Autonomie macht die Zeitung zu einer für die italienische Szene unentbehrlichen Kraft.

In der Kommentierung der internationalen Ereignisse sind die verschiedenen Meinungen innerhalb der Redaktion leicht auszumachen, hier lässt sich eindeutig unterscheiden zwischen denjenigen, die an einer klassischen antiimpe­ria­listischen Position und den dazugehörigen Feindbildern festhalten und denjenigen, die zur Kritik traditioneller linker Kategorien bereit sind und die veränderte Welt in ihrer Veränderung zu begreifen suchen. Anders als in den siebziger Jahren, als eine Verbindung der verschiedenen Gruppen links des PCI für il manifesto eine spannende Herausforderung darstellte, erscheint eine Fusion der beiden Strömungen weder möglich noch erstrebenswert. Bleibt zu hoffen, dass die radikal-kritischen Positionen an Einfluss gewinnen und antiamerikanische und antiisraelische Haltungen zurückgedrängt werden können.

In diesem Fall wäre il manifesto zu wünschen, dass sich die finanzielle Situation durch den Verkauf des Jubiläumshefts tatsächlich verbessern lässt und weiterhin unter dem Label »manifesto« Zeitschriften, Bücher, Platten und sonstige Gadgets erscheinen können. Das zum Geburtstagshoroskop verspricht: Die Sterne stehen nicht schlecht!

Il manifesto 35, hg. v. Marco Bascetta, Ida Dominijanni und Stefania Giorgi, 20 Euro. ­Direkt zu beziehen über www.ilmanifesto.it