Spiel, Satz, Untergang

Drei neue Romane zeigen, wie schön das Grauen in der Literatur in einzelnen Sätzen gebündelt sein kann. von maik söhler

Mehr zu sein als nur die Summe ihrer Buch­staben, Wörter und Sätze, unterscheidet in der Regel gute Literatur von schlechter. Manchmal aber bleibt man auch in den besten Ro­manen an einem einzigen Wort, meistens jedoch einem Satz oder Absatz hängen. Durch seine Schönheit, Klarheit, Kraft, Eleganz oder Aussage bildet er eine Sperre zum Rest des Textes, lässt einen stocken, zwingt zur Pause, im besten Fall sogar zum Abbruch der Lektüre. Solche Sätze möchte man gleich dem für die Rubrik »Textmarker« zuständigen Kollegen bei »jetzt.de« melden (Wer sie nicht kennt: Dort dient ein Satz, eine kur­ze Passage, als Einstieg in die Buchrezension). Man lässt es dann aber doch, weil vielleicht eine Erklärung verlangt würde, die man, immer noch überwältigt, nicht geben kann oder möchte.

Einige solcher Sätze und Absätze finden sich in drei im Frühjahr neu erschienenen Büchern. Neu erschienen, weil nur Andrea Maria Schenkels Krimi »Tannöd« wirklich neu ist. Denis Johnsons Storysammlung »Jesus’ Sohn« ist lediglich – wenn auch gran­dios – neu übersetzt. Und die Erstellung der deutschsprachigen Fassung von Kenneth Cooks »In Furcht erwachen«, einem Klassiker der modernen australischen Literatur, hat einfach nur 45 Jahre gedauert.

Alle drei Bücher verbindet, dass sie grausam sind und dabei das von Menschen erzeugte Grauen nicht in gesellschaftliche Extremsituationen wie Krieg, Bürgerkrieg, Terrorismus oder Ähnliches auslagern, sondern es aus dem täglichen Aller- und Einerlei destillieren. Schenkels Roman spielt irgend­wo auf dem katholischen süddeutschen Land der fünfziger Jahre. Cook platziert sein Personal im Westaustralien der gleichen Zeit. Johnsons’ Storys sind über die Provinzstaaten der USA verteilt. Ob­wohl Zeitangaben fehlen, fühlt man sich in den meisten Geschichten in die frühen achtziger Jahre versetzt.

Genug der Hinführung, sollen die Sätze und Absätze doch erst mal für sich sprechen. Da ist zuerst bei Cook der innere Monolog seines Protagonisten John Grant: »Komischer Menschenschlag, diese Westler, dachte Grant, man kann mit ihren Frauen schlafen, ihre Töchter vergewaltigen, man kann auf ihre Kosten leben, kann sie betrügen und sich sozusagen alles erlauben, wofür man in einer normalen Gesellschaft verachtet wird. Aber sobald man es ablehnt, mit ihnen zu trinken, wird man zum Todfeind.« Johnson charakterisiert in der Story »Happy Hour« die Bauchtänzerin Angelique so: »Sie sah aus, als wäre sie in Gedanken weit weg, als wartete sie geduldig auf den, der sie zerstören würde.« Schenkel schließ­lich rekonstruiert einen einfachen Gedankengang der eigenbrötlerischen Christin Barbara: »Dort legte sich Lot zu seinen Töchtern und beide gebaren ihm Kinder. So stand es doch in der Bibel. Warum, so fragte sich Barbara, sollte das, was bei Lot gottgefällig, bei ihr falsch sein. Sie war eine gute Tochter.«

Die Kontexte dieser Passagen mögen das eine oder andere erläutern – John Grants vollständigen Verlust seiner gesamten Habe beim Glücksspiel und seinen drohenden Untergang, die Drogen- und Alkoholexzesse von Johnsons Ich-Erzählern, die bestialische Ermordung Barba­ras und ihrer Familie mit einer Spitzhacke –, aber es braucht sie nicht. Das Grauen tritt auch ohne sie deutlich genug hervor: der dem scheiternden Einzelnen auferlegte Alkohol- und Geselligkeitszwang bei Cook; die Unmöglichkeit des individuellen pursuit of happiness und damit auch die totale Negation des american way of life bei Johnson; das Ineinandergreifen von katholischem Mo­ralkorsett und sexuellem Missbrauch bei Schenkel.

Cooks Roman fällt zutiefst existenzialistisch aus. Jean-Paul Sartres Roman »Ekel« oder Albert Camus’ Erzählung »Der Frem­de« können dagegen als heiter-besinnliche Literatur gelten. Sartres berühmter Satz »Die Hölle, das sind die anderen« aus dem Drama »Geschlossene Gesellschaft« samt seiner erkenntnistheoretischen Bedeutung für die Dialektik von Selbst- und Fremdwahrnehmung wird von Cook neu bestimmt. Es geht nicht mehr um die Abhängigkeit von anderen, was die Urteilsfähigkeit über sich selbst betrifft.

Denn die Urteilsfähigkeit hat der Bierseligkeit und ihrer Dauerschleife aus belangloser Konversation und stumpfer Aktion zu weichen. »Sobald man es ablehnt, mit ihnen zu trinken, wird man zum Todfeind«, bedeutet in Bundanyabba, wo der Roman überwiegend spielt, dass man nicht nur in der Hölle landen, sondern dass diese einem wie beim üblichen nächtlichen Kängurumassaker auch noch den Krieg erklären kann. Tresen oder Tod, entscheide dich. Gefangene werden nicht gemacht. Die Suizidrate ist die höchste im ganzen Land.

Die Welten Johnsons und Schenkels sind ähnlich beschaffen. Auch sie sind, vom Tod abgesehen, ausweglos. Wo bei Johnson die Figuren auf ihre Zerstörung noch warten, aber schon wissen, dass es dazu keine Alter­nativen gibt, bleiben sie bei Schenkel aktiv, sind aber schon längst zerstört. Johnson führt durch die unendlichen Weiten des Scheiterns, Cook wählt einen gut ausgebauten Kreisverkehr, Schenkel nimmt den engsten und holprigsten Waldweg durch die postfaschistische Provinz. Das Ziel – der Abgrund – bleibt dasselbe. Die Frage ist nur, wie weit es abwärts geht und ob man dabei alleine bleibt oder auch noch andere mitnimmt.

Formal, erzählerisch und sprachlich liegen die drei Bücher weit auseinander. Was aber das Grauen und seine Komprimierung auf kleinstem Raum angeht, sind sie sich sehr nahe. Weitere Sätze verdeutlichen das: »Die geistige Enge war fast körperlich spürbar.« (Schenkel) »Ich begriff, dass ein Ertrinkender plötzlich das Gefühl haben mag, ein tiefer Durst werde ihm gestillt. Oder dass ein Geknechteter der Freund seines Herrn werden kann.« (Johnson) »Hynes und seine zwei Freunde redeten durcheinander und tauschten die unbeholfenen Beleidigungen aus, die man hier im Westen als Schlagfertigkeit durchgehen ließ.« (Cook) »Der Sonnenuntergang hatte noch zwei Minuten zu leben.« (Johnson) »Sex ist genau wie essen oder schlafen oder töten. Etwas, das man macht, weil man muss oder weil man will.« (Cook) »Hätt ja viel zu tun, müsst ich mich um fremder Leut Angelegenheiten kümmern. Da müssen Sie schon andere fragen. Ich bring die Post und halt mich raus.« (Schenkel)

Den schönsten Satz aber formuliert Denis Johnson. Schon lange hat er uns in sein Universum der zerrütteten, geschlagenen, tristen, lebensüberdrüssigen Figuren eingeführt, jener typischen loser, die zwischen Heroin, Schnaps, Verstümmelungen und Knastaufenthalten den eigenen Untergang exakt im Blickfeld haben. Und plötzlich heißt es über die Exfreunde einer Frau: »Sie waren Leute wie wir, nur mit weniger Glück.« Das ist, im besten Wortsinn, ganz große Dichtung.

Kenneth Cook: In Furcht erwachen. Aus dem Australischen übersetzt von Hansjörg Schertenleib. C.H. Beck, München 2006. 191 S., 17,90 Euro

Andrea Maria Schenkel: Tannöd. Edition Nautilus, Hamburg 2006. 128 S., 12,90 Euro

Denis Johnson: Jesus’ Sohn. Aus dem Amerikanischen neu übersetzt von Alexander Fest. Rowohlt, Reinbek 2006. 176 S., 14,90 Euro