Wer kennt die Falken der Freiheit?

Die türkischen Streitkräfte sind in den kurdischen Gebieten aufmarschiert, um die PKK endgültig aufzureiben. Derweil begehen ominöse »Kurdische Freiheitsfalken« Anschläge in der Westtürkei. von thomas schmidinger, diyarbakir

Das Vaterland ist unteilbar«, steht in großen Lettern auf einem Berg in der Provinz Van, genau gegenüber der einstigen armenischen Klosterinsel Ahtamar. Darunter rollen Panzer und Kanonen der türkischen Armee in Richtung Südosten in die Provinz Hakkari. Dort im Dreiländereck zwischen der Türkei, dem Iran und dem Irak, will das türkische Militär die Kämpferinnen und Kämpfer der PKK, die sich auf der irakischen Seite der Grenze in den Qendil-Bergen verschanzt haben, endgültig schlagen.

Türkisches und iranisches Militär führt seit En­de April Angriffe auf Stellungen der PKK auf irakischem Staatsgebiet durch. Proteste der irakischen Regierung werden dabei einfach überhört. Die kur­dischen Gebiete der Türkei sind in den vergangenen Wochen zu einem großen Heerlager geworden. Auf der 200 Kilometer langen Strecke zwischen Van und Bitlis halten drei Checkpoints der Jandarma, einer Einheit der türkischen Streitkräfte, die Reisenden auf und kontrollieren deren Papiere und das Gepäck. Ähnlich sieht es auf anderen Strecken in der Osttürkei aus. Trotzdem lassen sich immer weniger türkische Kurden ein­schüch­­tern. Die in den vergangenen Jahren errungenen Freiheiten können nicht so ohne weiteres zurückgenommen werden. »Das türkische Militär erreicht mit der neuen Repressionswelle nur, dass sie die jungen Leute in die Arme der bewaffneten Kämpfer treibt. Sie können uns nicht verbieten, Kurdisch zu sprechen. Wir lassen uns nicht mehr so leicht einschüchtern«, sagt ein junger Mann in einem Café in Bitlis.

Deutlich sichtbar ist die Nervosität der türkischen Behörden auch an der Grenze zum »Freien Kurdistan«, wie viele türkische Kurden das Autonomiegebiet im Nordirak nennen. Während Reisende auf der irakischen Seite der Grenze freundlich mit einem Glas Tee empfangen werden und die Grenzformalitäten kaum länger dauern, als bis es ausgetrunken ist, werden auf der türkischen Seite alle Gepäckstücke aufmerksam durchsucht. Die an der Grenze postierten Militärs lassen keine kurdischen Zeitschriften, Bücher oder Fahnen ins Land. Wer zu selbstbewusst auftritt, kann damit rechnen, ernsthafte Probleme zu bekommen. Ein deutscher Staatsbürger irakisch-kurdischer Herkunft erzählt später in Diyarbakir, dass er von Mitgliedern der Jandarma an der Grenze geschlagen worden sei. Sein türkisches Visum war seit zwei Tagen abgelaufen, und er hatte es gewagt, an der Grenze ein neues zu beantragen.

In der heimlichen Hauptstadt der türkischen Kur­den, in Diyarbakir, hat sich nach den Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und Sicherheitskräften im April die Lage wieder etwas entspannt. (Jungle World 14/06) Das Militär ist in die großen Kasernen neben der Altstadt zurückgekehrt. In deren verwinkelten Gassen sind die Kurden, Armenier und syrischen Christen wieder unter sich. Auch in den Armenvierteln vor der Stadt, die in den achtziger Jahren angewachsen sind, lässt sich das türkische Militär nicht mehr blicken.

Die Bewohner klagen allerdings darüber, dass sich immer noch Menschen, die an den Protesten beteiligt waren, in Haft befänden. Über 500 Personen, darunter zahlreiche Kinder und Jugendliche, wurden in den Tagen nach den Auseinandersetzungen verhaftet. Sechs Jugendliche kamen durch Schüsse der Sicherheitskräfte ums Leben. Fast der gesamte Parteivorstand der DTP, der nach dem Verbot der Hadep einzigen prokurdischen Partei der Türkei, die in Diyarbakir den Bürger­meister stellt, befindet sich immer noch in Haft. Heresh, ein junges Parteimitglied, erläutert die Sicht seiner Partei auf die Ereignisse: »Auch wir wurden von dem Aufstand überrascht. Wir haben zwar im­mer gewusst, dass so etwas einmal kommen wird, wenn die Regierung nicht endlich ernsthafte Reformen einleitet, die die konkrete Situation hier verbessern, aber die Heftigkeit der Proteste der Jugendlichen hat auch viele von uns überrascht.« Dem steht die Behauptung der türkischen Regierung entgegen, die Kinder und Jugendlichen seien von der PKK vorgeschickt worden und es habe sich nicht um einen spontanen Aufstand, sondern um eine konzertierte Aktion der PKK gehandelt.

Seit den achtziger Jahren hat sich die Sozialstruktur der kurdischen Bevölkerung grundsätzlich verändert. Wegen der massenhaften Zerstörung der Dörfer im Krieg gegen die PKK sind hunderttausende Kurden in die großen Städ­te abgewandert, in deren Gecekondos, den »über Nacht gebauten« türkischen Armenvierteln, mittlerweile Jugendliche voller Zorn über fehlende Zukunftsperspektiven herangewachsen sind. Sie unterscheiden sich auch in ihren politischen Aktionsformen deutlich von den Intellektuellen oder der ländlichen Bevölkerung früherer Generationen.

Schwieriger wird das Gespräch in Diyarbakir, wenn man nach den »Kurdischen Freiheitsfalken« fragt, jener ominösen Gruppierung, die sich in den vergangenen Monaten zu mehreren Anschlägen auf zivile Ziele in der Westtürkei be­kannt hat. Während die einen glauben, die Grup­pe sei vom türkischen Militärgeheimdienst ins Leben gerufen worden, sprechen andere von einer Abspaltung der PKK und wieder andere von einem Versuch von Angehörigen der PKK, den Krieg in die Zentren der politischen und ökonomischen Macht der Türkei zu tragen. Offene Unterstützung für die Anschläge auf Zivilisten in Istanbul bekundet in Diyarbakir jedoch fast niemand.

Allgegenwärtig ist in den Gesprächen über den Terror der PKK jedoch der Hinweis auf den Terror des Staates. So besteht etwa der Verdacht, dass Angehörige des Militärs in einen Bombenanschlag auf eine Buchhandlung in Semdinli im äußersten Südosten des Landes verwickelt gewesen seien. (Jungle World 11/06) Im Fluchtwagen der drei mutmaßlichen Attentäter, die von Passanten gestellt wurden, befand sich neben Waffen und Anschlagsplänen eine Liste mit Namen von 105 Personen, die angeblich die verbotene PKK unterstützten. Die Verdächtigen stehen seit vorigem Donnerstag in Van vor Gericht. Außerdem ermittelte die türkische Staats­anwaltschaft in diesem Zusammenhang gegen hoch­rangige Angehörige des Militärs, darunter der Kommandant der türkischen Landstreitkräfte, Yasar Büyükanit. In den kurdischen Gebieten sorgte jedoch vor allem eine Erklärung des türkischen Generalstabs für Aufregung, in der eine Bestrafung des ermittelnden Staatsanwaltes Ferhat Sarikaya gefordert wurde. Mitte April ist dieser aus dem Dienst entlassen worden.

Auch Mehdi Zana, der sich bereits in den siebziger Jahren in der Türkischen Arbeiterpartei (Tip) engagierte, im Jahr 1977 zum Bürgermeister von Diyarbakir gewählt wurde und insgesamt über 15 Jahre in türkischer Haft verbrachte, sagt, er wisse nicht, wer hinter den »Freiheitsfalken« stehe. Für politisch viel relevanter hält er die Aufstände der Jugendlichen. Bei einem Glas Wein in einem der vielen Lokale in Diyarbakirs Neubauviertel sagt er: »Wenn die türkische Regierung keine Lösungen für die Menschen hier findet und die Realität der kurdischen Bevölkerung weiter leugnet, wird sie ihre Position hier nicht halten können. Lange kann das nicht mehr dauern. Die kurdische Bevölkerung wird das nicht akzeptieren, wenn sie sich weiter so benimmt wie jetzt.«