Aus! Aus! Aus!

Wie es wirklich dazu kam, dass die Fußball-WM 2006 vorzeitig beendet wurde. von hansjörg fröhlich

Samoa, Ostpazifik, 26. Juni 2006. Im warmen Licht einer Petroleumlampe sitzen drei Män­ner in einem ortsüblichen Langhaus und las­sen eine Schale Bier kreisen. Die Sonne ist gerade untergegangen, ein sanfter Wind kräuselt die See, junge Samoaner kommen vom verrichteten Tagwerk zurück, ein jeder ein Lied auf den Lippen. Es ist die Zeit der Hibiskusblüte. Drinnen im Langhaus lassen Jürgen Klinsmann, Mahmoud Ahmadinejad und Joseph Blatter die vor wenigen Tagen abgebrochene Fußballweltmeisterschaft 2006 Revue passieren.

Blatter, von einer Trainingshose aus Ballonseide abgesehen, nur mit einer daumenbreiten Goldkette mit angehängter Fifa-Medaille bekleidet, ergreift verärgert das Wort. »Mahmoud, du hast es vermasselt. Alles ist deine Schuld. Hättest du nicht die WM für deine idiotischen politischen Ziele benutzt, würden wir jetzt nicht hier sitzen.« »Sei lieber froh, dass die samoanische Regierung uns kurzfristig und unbürokratisch Asyl gewährt hat, Jo­seph, das gibt’s sonst nirgends«, sagt Ahmadinejad »Aber musstest du denn wirklich bei jedem Spiel deiner Mannschaft deinen nuklearen Hokuspokus abziehen?«

Die Anhänger des iranischen Teams überflogen nach jedem Treffer ihrer Mannschaft mittels eines atombetriebenen Düsengürtels das Spielfeld der Länge nach und bildeten durch geschickten Formationsflug den Schriftzug: »Der Iran grüßt die Welt.«

»Nachdem deine Fifa mein Land im UN-Sicherheitsrat ausgestochen hatte, blieb mir keine andere Wahl. Ich musste die Weltöffentlichkeit von der friedlichen Nutzung der Atomenergie überzeugen. Ein wenig Surprise-Marketing gehört heut’ zum Geschäft eines jeden Präsidenten.« Ahmadinejad spuckt aus und schaut zufrieden in die Runde. Klinsmann zieht sein DFB-Jackett aus und sagt: »Es lag nicht nur an Mahmoud, die ganze Organisation war Scheiße, und Schäubles Sicherheitskonzept war für’n Arsch, zu unflexibel, zu viele Fragebögen.«

Tatsächlich erwiesen sich die Sicherheitskontrollen an Flughäfen und vor Stadien als zu bürokratisch. Ganze Teams hingen tagelang im Zoll fest, da sie komplexe Einreisefragebögen ausfüllen sollten. Andere Mannschaften waren erst gar nicht angereist. Sei es, weil so manche Regierung wegen der ausländerfeindlichen Umtriebe auf deutschen Straßen eine Reisewarnung ausgesprochen hatte, sei es, weil manche, wie die Spieler der Elfenbeinküste, die Bedenken des Afrikarats teilten, der große Bereiche der Republik als No-go-area für Schwarz­afrikaner ausgewiesen hat. Doch auch die Unverzagten, die es bis zu den Stadien schafften, hatten es nicht einfach. An den Eingängen wurden die Fans nach ihrer Meinung zu den Fifa-Statuten befragt. Lange Schlangen und Unmut waren die Folge. Die Zeitungen titelten: »Die geballte Kontrolle«, und eine schlechte internationale Presse setzte das Innenministerium unter Druck.

Vor der WM hatte sich Wolfgang Schäuble im Sicherheitsausschuss durchgesetzt: Er könne Soldaten im Inland einsetzen, allerdings mit der Auflage, dass sie im Rollstuhl Dienst tun. So wäre dem Charakter dieses Einsatzes als »einmalige Ausnahme in der Geschichte der Bundesrepublik«, bei der den Soldaten im Wesentlichen durch ihre »sitzende Anwesenheit vor Ort« eine »vorrangig repräsentative Aufgabe« zukäme, symbolisch Rechnung getragen. Wie leicht abzusehen gewesen wäre, führte diese Entscheidung zu Verärgerung bei der Polizei und dem Grenzschutz. Vertreter der jewei­ligen Interessenverbände forderten die Gleichbehandlung aller Mitwirkenden am Sicherheitskonzept der WM. Da Schäuble stur blieb, entschlossen sich Ordnungshüter und Grenzbeamte dazu, ihrer Arbeit ebenfalls im Rollstuhl nachzugehen.

Schon am Tag nach der Eröffnungsfeier zeigte sich im Umgang mit Kleinkriminellen wie Ticket-Schwarzhändlern oder lizenzlosen Bierverkäufern, dass die sitzende Arbeitshaltung für die Sicherheits­truppe einen eklatanten Wettbewerbsnachteil darstellte. Die Presse überschlug sich: »Fußball auf vier Rädern!« So kam es, dass der Innenminister private Ordnungsdienste damit beauftragte, Kriminelle und Krawallmacher zu stellen und ihnen, damit eine Flucht verhindert wird, die Achillessehne durchzuschneiden. Der Liegeort eines solcherart Fixierten wurde von einer kleinen Fahnenstange angezeigt. Die staatlichen Einsatzkräfte rollten dann an den gekennzeichneten Ort und führten die Verhaftungen durch.

Auch mit der Luftsicherheit haperte es. Gleitflieger warfen über den Stadien Fußbälle ab. Die Spieler standen verdutzt in einem Meer von Bällen. Im Süden der Republik wurden Spiele mangels Licht vorzeitig abgebrochen. Hintergrund war ein Skandal um an Politiker verschenkte WM-Tickets, aus dem die Energieversorgungsunternehmen (EnBW) wenige Wochen vor der WM geschwächt hervorgingen. Aus Protest stellten die Verantwortlichen des Unternehmens bei Begegnungen am Abend den Strom ab. Der Verband der Schiedsrichter reagierte mit der Einführung eigenwilliger Regel­änderungen: Gespielt wird, bis das Licht ausgeht. Bei Gleichstand gewinnt die Mannschaft mit den helleren Trikots.

Das Publikum reagierte enttäuscht auf die verkorkste erste Woche der WM und machte seinem Ärger Luft. In den Stadien und im Bereich der öffentlichen Videoleinwände war nur der Verkauf von Biersorten erlaubt, deren Hersteller mit der Fifa einen Vertrag hatten. Diese Bierbannmeile war schon nach wenigen Tagen nicht mehr zu halten. Spontanes Brauen, Bierpiraterie und Männer, so genannte gelbe Witwer, die mit so genannten Fremdbierflaschengürteln, die sie sich umgeschnallt hatten, gegen die Sicherheitskontrollen anrannten, machten den geregelten Getränkeverkauf unmöglich. In der zweiten Woche häuften sich die Beschwerden des Fernsehpublikums über Medienpiraterie. Wie sich herausstellte, hat­ten geschmacklose Kriminelle die Live-Über­tragungen verschiedener Spiele manipuliert. Immer wenn die Wiederholung einer Torszene gezeigt werden sollte, war stattdessen eine mit berühmten Fußballern besetzte Sexszene zu sehen. Das Presseecho fiel unterschiedlich aus: »Krass: Torfabrik Ballack anal«, »Kann ich mit meinem Kind noch Fußball gucken?«, »Wir sind Viagra-Weltmeister«.

In der Nacht zum 21. Juni trafen sich Innenminister Schäuble, Bundeskanzlerin Merkel und Bundespräsident Köhler zu einer geheimen Krisensitzung. Es wurde entschieden, aufgrund der nicht mehr zu bewältigenden Situation Hilfe aus dem Ausland anzufordern. Im Morgengrauen dieses schicksalhaften 21. Juni telefonierte Schäuble mit seinem französischen Amtskollegen Sarkozy. Dieser sah die chao­tischen Zustände im Nachbarland als willkommene Gelegenheit, um seine mobile Einsatztruppe ein­mal außerhalb von Paris zu testen. Schon am Nachmittag trafen an allen Aus­tra­gungs­or­ten französische Reinigungskräfte ein. Ausgestattet mit Hochdruckreinigern gingen sie an die Arbeit. Bald waren die Flüsse leergepumpt und die Städte überschwemmt. Dadurch gerieten die deutschen Grenzschutzbeamten in einen Zuständigkeitskonflikt. Eigentlich gehörten Überschwemmungen zu ihrem Aufgabenbereich, doch stand nach wie vor die Unschäd­lichmachung von »Fremdbier« verkaufenden Ticketfälschern auf ihrem Dienstplan. Am 23. Juni rief die Bundeskanzlerin den Notstand aus und erklärte die Fußballweltmeisterschaft 2006 für beendet.

Im Langhaus wird die Schale mit Bier nach­gefüllt. Klinsmann nimmt einen Schluck und wendet sich an Ahmadinejad: »Die Atmo war schon im Vorfeld viel zu aufgeladen, der Erwartungsdruck riesig. Unsere Jungs sollten die Wirtschaft ankurbeln, die Zeugungsunlust beseitigen, Deutschland retten. Sowas funktioniert einfach nicht.« Ahmadinejad holt tief Luft und stöhnt: »Wie so oft ist die Lösung schlimmer als das Problem.« Blatter liegt auf dem Rücken und beobachtet die Geckos an der Wand.