Die Sonnenbrille der Philosophie

Was tun, wenn alle Diskurse, die dem Pop zu eigen waren, gescheitert sind? von georg seesslen

Pop gibt es nicht, Pop geschieht. Anders, als die meisten Theoretiker des Pop mei­nen, kann nicht alles zu Pop werden, viel­mehr kann mehr oder weniger alles in Popform geschehen. Dennoch gibt es einige charakteristische Diskurse des Pop:

Hedonismus: Was popförmig geschieht, hat mit Genuss zu tun, es ist Sex & Drugs & Rock’n’

Roll, und nicht Arbeit & Askese & Erhabenheit. Das heißt weder, dass Pop keine Arbeit mache, noch, dass es dort keine Askese gebe, und erst recht nicht, dass man keine Erhabenheit möge. Aber es geht darum, die Dinge körperlich aufzunehmen. Pop kann man weder denken noch sein, Pop muss man leben.

Jugendlichkeit: Pop ist an »Jugend« gebunden, was früher einer biologischen und später einer sozialen Realität entsprach und mittlerweile einer konzeptionellen Realität entspricht. Im Pop gibt es keine Entsprechung für »alt«, selbst wenn dies weder die politische Ökonomie des Pop vor den kapitalistischen Gerontokratien bewahrt noch Rollen wie »Mutter« oder »Groß­vater« ausschließt.

Bewegung: Im Pop ist immer etwas los. Pop ist nicht Code, sondern die Veränderung von Codes; nicht Form, sondern die Veränderung von Form. Weil jede konsequente Bewegung zur Selbstaufhebung führt und das Repertoire von Veränderungen limitiert ist, tendiert diese Bewegung dazu, sich kreis- oder spiralförmig zu gestalten. Im Gegensatz zur »modernen Kunst« ist weniger die Innovation von Belang als eine Interferenz mit den anderen Bewegungen in der Gesellschaft.

Spaltungen: Die Antwort von Pop auf den Main­stream ist nicht das Gegenbild, sondern ein Scherbenhaufen von Gegenbildern. Pop ist ein ständiges Sprachspiel, in dem Codes und Contracodes so schnell zu Sprachen und Dialek­ten aufgebaut werden, wie sie auch wieder in sich zusammenfallen. Pop ist immer nebenan; Pop war immer gerade erst; Pop will immer werden und wird dann doch anders.

Kapitalismus: Pop ist beides zugleich: eine Form, auf eine antikapitalistische Weise in ­einer kapitalistischen Kultur zu leben, und auf eine kapitalistische Weise in einer antikapitalistischen (Gegen-)Kultur. Die Dissidenz im Pop, wenn es eine ist, liegt im eigenwilligen Um­gang mit den Regeln und Objekten des Mar­ktes. Pop ist eine Karikatur des Kapitalismus. Oder eine Karikatur der Revolte. Eine »Poprevolution« verändert nicht die Verhältnisse, aber (immerhin) die Art, sie abzubilden – während die Kunst möglicherweise die Art veränderte, sie zu sehen.

Dislozierung: Pop war schon immer global. Im Pop ist die Welt als Zeichenrepertoire ein Su­permarkt, der rund um die Uhr geöffnet ist. Man nimmt gerne Bückware, man hat keine Einkaufsliste. Auf diese Weise wird am ehesten Pop, was entfernt, fremd, künstlich, aus dem Zusammenhang gerissen oder gegen den Strich verwendet wurde. Lustvolle Sprünge über Zeit und Raum gehören zum Pop.

Kreativität: Während die Kunst dem Rest der Welt (oder wenigstens dem Rest einer Kultur) eine solitäre Kreativität anbietet, geht Pop von der Kreativität von Szenen, Styles, Tribes oder Wellen aus. Es ist eine kollektive Kunst auf Zeit.

Medien: Pop ist eine bestimmte Form der tech­nologisch-ästhetischen Verstärkung. Wer es bloß für sich macht, ist nur verrückt. Wer es zu verstärken versteht, macht uns crazy.

Experiment: Wenn Kunst die ästhetische Grenzüberschreitung ist, ist Pop das Spiel mit ästhetischen und körperlichen Praxen, einschließlich denen von Sexualität und Gewalt. Im Extremfall ist Pop die Simulation gesellschaftlicher Prozesse, die ihre historische Veran­kerung verloren haben. Oder Kunst, die sich von einem mehr oder weniger authentischen Autor über das Publikum ausbreitet, bis das Publikum mehr Kunst ist als der Autor.

Provokation: Während man der Medienkultur im Ganzen das manufacturing of consense zu­geordnet hat, galt Pop als Unruheherd, weil man annahm, die natürliche Allianz zwischen Pop und sozialen Bewegungen werde zu mehr Menschlichkeit, mehr Gerechtigkeit, mehr Glück, mehr Was-auch-immer führen. Zynisch könnte man sagen: Pop ist eine Belohnung für Demokratie, ein goldenes Ghetto der Dissidenz im hoch entwickelten Kapitalismus. Pop provoziert aber den Mainstream nicht nur im Sinne der Brüskierung, sondern ebenso im Sinne der Anregung. Ohne Pop wäre die populäre Kultur eine Endlosschleife der gleichen wenigen Dinge.

Kleinbürgerkultur. Pop als Belohnung, Ausgleich, Motor in der Entwicklung eines »lächelnden Kapitalismus« war an die unruhigste Klasse ­jener Phase gebunden. Noch zynischer könnte man daher sagen: Pop war die schärfste Waffe des Kapitalismus im Kalten Krieg. Ohne die Klasse der Kleinbürger funktioniert er weder öko­nomisch noch semiotisch.

»Prekarianismus«: Wenn Pop eine Metabotschaft hat, liegt diese in der Veränderbarkeit. Es entspricht dem Menschen, der einerseits sich und seine Welt erfinden mag und der andererseits in allem (im Luxus wie im Müll) das »Richtige« findet.

Coolness: Pop ist die Inszenierung der Selbstdistanz im Lebensgenuss. Pop ist die Sonnenbrille der Philo­sophie. Im Pop ist auch die Hysterie nicht »ernst«.

Pop ist also ein besonderer und offener Teil der populären Kul­tur, der seine soziale Vitalität aus der Existenz einer teils dissidenten, teils integrierten Jugend der dynamischen Klasse des Kleinbürgertums bezieht und in einer freibeuterischen, unreinen und »provokativen« Ästhetik mehr oder weniger heilsame Unruhe in einer zur Trägheit tendierenden Kultur bereitet. Mithin eine sehr nützliche wie gefährliche Angelegenheit.

Doch was immer man von Pop sagen und denken mag, bleibt eines niemandem verborgen, selbst wenn es sich schwer in Begriffe fassen lässt: Etwas verändert sich, was weit über die zyklischen Veränderungen, die dynamischsten Crossovers, die unentwegten Verbindungen mit politischen und ökonomischen und technologischen Impulsen hinausgeht. Es ist mehr als die gewohnte Sentenz: »Pop ist auch nicht mehr, was es einmal war« (und vielleicht war Pop nie, was es einmal gewesen sein sollte).

Womöglich geht es sogar über einen Verlust der Unschuld hinaus. Die jeden­falls hat er in politischer, ökonomischer und sexueller Hinsicht verloren. Der Pakt zwischen Pop und »linken« sozialen Bewegungen hat alle Verlässlichkeit eingebüßt; es gibt nicht nur nationalen, es gibt auch na­tio­na­listi­schen Pop; es gibt nicht nur freibeu­terisch-frivolen Umgang mit provo­kanten Zeichen, es gibt dezidiert ­fa­schis­tische Codes. Es gibt sturzlangweiligen »konservativen« Pop oder die strategische Gutartigkeit eines Bob Geldof.

Das in der Popszene zirkulierende Geld ist nicht mehr crazy money; das Spiel mit der ästhetischen und politischen Authentizität ist auch von den Fans entlarvt; nur noch schwer zu unterscheiden ist, ob etwas, das Pop erzeugt hat, von der Werbung aufgenommen oder ob es von vorneherein für die Werbung erzeugt wurde.

Schließlich ist jedes Popimage eine Inszenierung nicht nur des sexuellen Rollenmodells, sondern eine Strategie der sexuellen Ökonomie; nicht die Antwort auf die Frage: »Was ist Sex?« sondern auf die Frage: »Wie verkaufe ich Sex?« Auch die Unschuld der Jugend ist weg. Sie wird zu ihrer eigenen Darstellung und wird schneller versendet als gelebt. Zugleich zeichnet sich der Mainstream nicht mehr durch Verbote und Verdrängung aus, sondern durch Hysterisierung und Abkühlung. »Provokationen« sind will­kommen, noch bevor sie überhaupt formuliert sind.

Längst gibt es, natürlich, Gegenstrategien. Zum einen die einer radikalen Verweigerung: Etwas entsteht im Pop, das sich der Verknüpfung mit anderen Diskursen, aber auch der Erwartung des Publikums verweigert – es muss nicht immer in Form eines Riesenlochs geschehen, das man sich selbst in den Kopf schießt. Zum anderen in der Form einer ebenso radi­kalen Reflexion: Pop als äußere Form der Theorie von sich selbst. Beide Strategien, man kann sie sogar miteinander verbinden, führen an den Rand dessen, was Pop eigent­lich ist, in ein Zuvor und Darüberhinaus. Schließlich muss Pop, inmitten und nach dem Untergang der Kleinbürgerklasse, selbst zum Code des sozialen Milieus werden. Pop erzeugt seinen Verbraucher. Er ist eine virtuelle Klasse und eine virtuelle soziale Bewegung.

Aber ist eine ästhetische (und auch politische) Produktion, die nichts ist als sie selbst, noch Pop? Ob es Kunst ist oder Pop, E oder U, Museum oder Straße, Club oder Universität, hat nichts damit zu tun, ob es gut oder schlecht ist. Wirklich gut ist etwas ohnehin erst, wenn es solche Grenzen überwindet, selbst wenn Unterschiede in der ästhetischen Produktion bleiben.

Das Niederreißen der Grenzen zwischen Kunst und Pop hat ein paar Vorteile und auch einige Nachteile. Die Nachteile sind zunächst ökonomischer Natur. Kunst ist auf zwei Märkten präsent, dem mehr oder weniger geheimen Markt der Sammler und Anleger und auf dem Öffentlichkeitsmarkt des Pop. Pop wiederum steckt in zwei unter­schiedlichen Diskursen, in einem des Gebrauchs und einem anderen der Reflexion, die mindestens die theoretische Höhe des Kunstdiskurses erreicht hat.

Billig ist nichts mehr zu haben. Virtuell sind die Summen bei den von der staunenden Öffentlichkeit nur durch diese Summen überhaupt wahrgenommenen Kunstauktionen, virtuell aber sind auch die 200 Millionen Dollar, die ein Hollywood-Blockbuster verschlingt. In beiden Fällen geht es um Spekulationsgewinne, was dies anbelangt, gibt es kaum einen Unterschied darin, ob jemand eine Popgruppe unter Vertrag nimmt, eine Fernsehsendung produziert oder Kunst sammelt. Pop wie Kunst scheinen auf den ersten Blick als Extremmodelle von Nachfragemärkten, und das bedeutet unter anderem, dass das Provokative in beidem völlig kontrolliert und geschluckt werden kann.

Um sich zu retten, muss Pop also Kunst werden, und um sich zu retten, muss Kunst Pop werden. Das geht einer­seits nicht auf, bringt aber andererseits Bewegung ins Spiel. Genauer gesagt: Pop entsteht jenseits des Punktes neu, an dem er an allen genannten Diskursen seines, nun ja, Wesens gescheitert ist. Als Kunstprojekt gewinnt sogar der Rock’n’Roll seine provokative Kraft zurück, wenn auch in einem völlig anderen sozialen und semiotischen Koordinatensystem. Wer wen wodurch provoziert, muss jeweils neu ausgehandelt werden. Aufgeklärter Pop (wenn es so etwas gibt) hat schon immer auf diese Weise funktioniert. Wenn man Pop noch will – und wollen wir das nicht alle? –, gilt es, ein paar der lieb gewordenen Diskursfelder zu räumen und ein paar neue zu finden. Wenn das keine Provokation ist!