Laïos antwortet nicht

Die künstlerische Provokation richtete sich an eine kulturtragende bürgerliche Klasse. Dieses Verfahren ist obsolet geworden. von diedrich diederichsen

Die Idee der Provokation setzt eine defizitäre Kunst voraus. Eine Kunst, die aus eigener Kraft nicht mehr in der Lage ist, jenes Minimum an Wirkung zu erzielen, das die Voraussetzung ästhetischer Erfahrungen ist. Die funktionieren nämlich so: getroffen und erschüttert von einer künstlerischen Formulierung, habe ich ein zutiefst subjektives Erlebnis mit einem dennoch allen zugäng­lichen Werk. Doch die Bewegtheit ist so groß, so die Idee bei Kant und anderen, dass ich mich genötigt fühle, mein Erlebnis zu bedenken, sein Zustandekommen zu rekonstruieren und schließlich wieder verständlich für andere zu machen, darüber zu reden und so in die bürgerliche Diskursgemeinschaft einzuspeisen.

Die Überzeugung, dass dies so nicht oder nach einem bestimmten geschichtlichen, kunst­geschichtlichen oder mediengeschichtlichen Einschnitt nicht mehr ohne weiteres gehe, ist die Voraussetzung für den Gedanken, nur Provokation könne noch helfen: also eine Art gewaltsamer Eingriff in die Regeln einer Kunst, Überschreitung oder Verweigerung in der Absicht, die Anteilnahme des saturiert und unempfindlich gewordenen Bürgers zu erzwingen.

Diesen Einschnitt haben verschiedene Künste zu verschiedenen Zeitenwenden erlebt, erarbeitet und diskutiert, aber seit einigen Jahrzehnten ist eigentlich ziemlich grundsätzlich unstrittig, dass es die sich selbst für universell haltende bürgerliche Kunstträger-Klasse nicht mehr gibt und geben kann oder dass sie überhaupt im Mittelpunkt künstlerischer Bemühungen stehen sollte. Die Künste können im Zeitalter digitaler Medien, globalisierter Ökonomie, globaler Zugänglichkeit der Werke und zugleich gewachsener Zugangshindernisse für Klassen, Bevölkerungen, Weltgegenden, im Zeitalter der nach Kino/Radio und Fernsehen/Pop-Musik nunmehr dritten, nämlich elektronisch-digitalen Phase der Kulturindustrie und einer unübersichtlich großen Zahl oft nahezu autarker Kunst-Subkulturen mit diesem Modell nicht mehr arbeiten. Das ist mit unterschiedlichen Gewichtungen eigentlich allen klar. Seit gut vier Jahrzehnten spätestens sind sie dabei, sich entsprechend neu zu orientieren. Natürlich nicht immer erfolgreich, nicht immer auf hohem Niveau und nicht immer schön, aber sie haben es versucht. Hier ist nicht der Platz, näher darauf einzugehen.

Die Idee der Provokation stand ganz am Anfang dieser Krise. Sie sollte noch einmal rekonstruieren, was in der alten bürgerlichen Kultur möglich war. Sie war keine eigenständige und auf eine neue gesellschaftliche Situation abzielende künstlerische Strategie. Und sie war nur so lange gut, wie Ödipus noch glauben konnte, dass das Gespräch mit Laïos seine Probleme lösen würde und es nur darauf ankäme, dass der bürgerliche Vater endlich mal hinhören möge, wenn sein Sohn rumbrüllt. Doch das ist nur der psychologische Schein der oben – unvollständig – aufgezählten realen Probleme.

Heute gibt es keine einheitliche, für alle relevante künstlerische Kommunikation mehr, nur noch Spezialisten, Eliten und Subkulturen. Diese haben den Vorteil der erhöhten Intensität und Genauigkeit in der für die jeweilige Gruppe relevanten Immanenz, aber den Nachteil einer geringen und abnehmenden Verbindlichkeit außerhalb dieser Geltungsbereiche. Die Probleme dieser Künste lassen sich kaum mit Provokationen, also gewaltsamer Kommunikationserzwingung lösen, sondern, und das ist in den letzten Jahrzehnten schließlich auch immer wieder versucht worden, durch Integrationen von Welten. Durch Kontaktaufnahme untereinander, aber auf hohem Niveau.

Der Witz ist nur, und Beispiele von Neuer Musik und Bildender Kunst, aus radikaler Pop-Musik und Kino können das untermauern, dass diese Integration nicht durch die Suche nach Mitten und Schnittmengen gelingt, sondern nur von den Rändern her. Nicht die Rekonstruktion eines bürgerlichen Mainstreams kann das Kunstwerk, das alle angeht, zurückbringen. Nur am Rande des virtuell immer noch existierenden Phantasmas einer gemeinsamen Kultur können solche Integrationseffekte erzielt werden, die den Künsten neue Gültigkeitsbereiche und Diskursgemeinschaf­ten erschließen: Daher sind es Leute wie Jean-Luc Godard oder John Zorn, Jack Smith oder Mike Kelley, aber auch Rene Pollesch oder Christian von Borries, um aktuelle Berliner Beispiele zu nennen, die in den letzten Jahrzehnten in der Lage waren, begeisterte Interessenten für ihre Arbeit außerhalb des Lagers der eigenen Kunst und des eigenen Spezialistenkreises zu gewinnen, nicht Bernd Eichinger, Claus Peymann oder Herbert Grönemeyer.

Dieser Umstand aber, dass aus der Radikalität das letzte wirkliche Crossover-Potenzial – jenseits der gleichnamigen idiotischen Marketingkategorie – kam und sich die Idee einer alle angehenden Kunst nicht im Zentrum der bürgerlichen Kultur erneuern konnte, sondern nur an den zur Selbstreflexivität fähigen Rändern, sorgte für das Missverständnis, diese Radikalität für eine provokative Geste zu halten, die an das (virtuelle) Zentrum gerichtet sei. Dieses Missverständnis verkennt, dass es sich vielmehr um die avancierte Sprache des Randes handelt, der wegen seiner Avan­ciertheit wenigstens noch erfolgreich im Sinne einer Idee eines größeren und möglichst alle einschließenden Publikums mit den anderen Rändern auf der Höhe eines gewissen Niveaus kommunizieren kann. Dabei haben die Beteiligten freilich eher so etwas wie die Idee der Multitude im Sinn, einer auf Verschiedenheit basierenden Menge, wie sie Deleuze/Guattari, Negri/Hardt oder Paolo Virno entwor­fen und problematisiert haben, als die Adresse der alten kulturtragenden bürgerlichen Klasse.

In der Welt des Theaters herrscht das Missverständnis, dass es sich bei in diesem Sinne avancierter Kunst um eine Provokation an die Adresse der alten bürgerlichen Kulturgemeinschaft handle. Denn das Theater muss schließlich im Staatsauftrag die Illusion aufrechterhalten, dass die Verhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft sich kaum geändert haben. Das Theater soll nach wie vor die Rolle der Metakunst für dieses Reich der Künste spielen. Wenn im Theater mal das richtige Leben vorbeischaut, in Form von Regisseuren, die seine Ränder mit anderen Rändern zu verbinden vermögen, dann gibt es, verbreiteter als anderswo, den Deutungsversuch der Provokation. Das ist die Chiffre der dort Dienst tuenden Deuter für die Spra­chen der wirklichen zeitgenössischen Welt und ihrer Künstler. Diese Chiffre verfehlt aber nicht nur diese Sprachen, sie verhilft vor allem den dort sich provoziert Fühlenden zu der Illusion, sie seien noch gemeint, wenn die Sprach- und Verkehrsformen der wirklichen Welt ihre Stimme erheben. Sie verhilft ihnen zu der gemütlichen Illusion, sie seien Laïos und es sei ihr kleiner Ödipus, der da draußen nach ihnen rufe. So funktionierte etwa der rührende kleine Spiralblock-Theaterskandal zu Beginn des Jahres.

Leider gibt es im Theater auch nach wie vor viel zu viele Idioten, die denen, die sich gerne Sicherheit verschaffen, indem sie sich öffentlich provoziert fühlen, entgegenkommen, indem sie genau diesen Effekt tatsächlich noch anstreben und das für die Kommu­nikationsform der aktuellen und zeitgenössischen Künste halten. Auf dieses unendlich provinzielle Genre der Provokationen können dann die Konservativen negativ ihre Sehnsucht nach »Verzauberung« oder »Sinnlichkeit« projizieren. Das garantiert das Überleben mancher Illusion. Eine wunderbare sado-masochistische Verabredung. Man kann sich den Traum von der individuellen Bedeutung in einem belanglosen Leben nur erhalten, wenn man ganz fest an seine Feinde glaubt. Alle Angestellten machen das so. Diese Provozierten sind natürlich genauso belanglos wie ihre Widersacher.

In der Pop-Musik ist die Provokation als Geste dagegen noch eine Nummer obsoleter. Denn das, was der Begriff beschreibt, ist nicht die Ausnahme, die in der Krise erzwungene Kommunikation, sondern der Alltag der Pop-Musik-Kommunikation: der ständige Wechsel zwischen dem Bezugsrahmen Kunst (und seiner Suspension von unmittelbarer Gültigkeit) und dem Bezugsrahmen Alltag (Identifikation, Applikation auf das echte Leben der Künstler wie der Rezipienten, ständige Balance zwischen geschützter und ungeschützter Rede, konstitutive Unklarheit, ob der Künstler von seinem realen Selbst oder der von ihm verkörperten Kunstfigur spricht etc.).

Provokation braucht Pop-Musik also nur dann, wenn die Unentschiedenheit zwischen Person und Rolle in die eine oder andere Richtung gefährdet ist. Wenn also etwa der Stadionrock und das System Las Vegas ihr hässliches Haupt erheben oder wenn auf der anderen Seite die Zwangs-Urigkeit des Rockism ihr authentizistisches Aroma verströmt. Dann sind Korrekturen, auch gewaltsame Korrekturen angebracht, die im zweiten Fall auf das Künstliche der Natürlichkeitsanmaßung hinweisen und die Ideologizität ihres Natur- und Ungewaschenheitsbegriffs und das Authen­tische und Anrührende, ja Künstlerische im Künstlichen verteidigen. Im ersten Falle setzt es Punk und Aggression und jugendliche Frechheit. Provokationen im Theatersinne sind das aber beides nicht. Das Elend der Pop-Musik besteht eher darin, dass sie so sich selbst ständig korrigierend geschichtsvergessen um sich selbst kreist, dass völlig in Vergessenheit geraten ist, in Bezug auf was die Korrekturen eigentlich immer wieder nötig geworden sind.