»Wir alle sind Chaoten!«

Was ist bei den Studentenprotesten in Frankreich ­gelaufen? Was wird in Deutschland passieren? Dokumentation eines Gesprächs mit Aktivisten im Radiosender fsk

Am 21. April fand im Hamburger Radio FSK ein Gespräch mit zwei französischen Aktivisten der CPE-Bewegung statt, an dem auch zwei Studierende der Universität Hamburg teilnahmen. Anlass des Gesprächs war die Abwahl des linken Asta, dem Tobias* und Sven* angehört hatten. Diskutiert wurde über die Frage, ob die Studierendenproteste in Deutschland, insbesondere der Widerstand gegen die Studiengebühren, von der französischen Bewegung Impulse aufnehmen kann. Pierre* und Louis* sprechen über die Perspektive der französischen Bewegung nach der Rücknahme des Erst­ein­stel­lungsvertrages (CPE). Die Dokumentation beruht auf einem Mitschnitt der Sendung und wurde redaktionell überarbeitet und gekürzt.

Seid ihr im Hochgefühl eines großen Erfolges hierhergekommen? Oder wie fühlt ihr euch nach dem Ende der CPE-Bewegung?

Louis: Die Bewegung ist gestorben – lang lebe die Bewegung! Wie immer in solchen Situa­tionen kann man sagen: Was aussieht wie ein Erfolg, ist der Tod der Bewegung. Dieser Umstand ist für uns aber kein Problem, weil sich in Frankreich seit einigen Monaten eine aufständische Stimmung entwickelt hat. Der Auf­stand und die Dinge, die stattgefunden haben, werden deshalb sowieso wiederkommen. Momentan haben wir aber eine komische Situation. Viele Zellen sind in der Bewegung entstanden, doch keiner weiß genau, was jetzt zu machen ist. Die Gewerkschaften haben gesagt: »Wir haben gewonnen! Die Bewegung ist zu Ende! Beenden wir die Blockaden der Unis!« Das heißt, dass die Bewegung jetzt auf einige Gruppen und Zellen reduziert worden ist. Das ist die momentane Lage.

Erzählt doch mal, welche Rolle ihr persönlich in der Bewegung gespielt habt?

Louis: Ich war in Paris, und Pierre war in Lyon und Rennes. Man kann von Paris sagen, dass, obwohl die Bewegung hier am stärksten war, sie nie über ihre Anfänge hinausgekommen ist. Jedoch hat es ein paar Krawallnächte gegeben, wie man sie in Paris lange Zeit nicht gesehen hat. Die Polizei wurde angegriffen und es ist zu radikalen politischen Ausdrucksformen gekommen.

In Paris hat sich alles auf die »Sorbonne-Sache« reduziert. Die Sorbonne ist eine rote Zone geworden. Nach der Räumung der sehr kurz, aber entschlossen besetzten Universität haben sich an zwei Abenden um die 1 000 Leute zusammengefunden. Mit Steinen, Mollis, um die Sorbonne zu befreien. Es wurde versucht, das wirtschaftliche Leben zu blockieren, einen chaotischen Zustand herbeizuführen, auf die Barrikaden zu gehen.

Am 31. März, als Präsident Chirac im Fernsehen sagte, dass die Regierung am CPE festhält, kam es zu einer unangemeldeten Demonstration, die mit 3 000 Leuten acht Stunden lang nachts durch Paris zog. Es war eine unheimliche Nacht: 3 000 Leute, die erst zur Nationalversammlung zogen, um zu versuchen, da reinzukommen, dann zum Senat. Es hat zwar nicht geklappt, obwohl wir jedes Mal vor der Polizei angekommen sind. Dann haben wir entschieden, zur Sacre Coeur zu gehen. Sie ist das Symbol für die Reaktion nach der Pariser Kommune. 3 000 Leute sind da hingestürmt, um zu versuchen, sie niederzubrennen, begleitet von »Vive la commune!«-Rufen. Aber das waren auch die einzigen interessanten Ereignisse in Paris.

Viel spannender ist es zum Beispiel, von Rennes zu sprechen, das in den Medien etwas ignoriert wurde, da die sich meist nur auf Paris bezogen. Das Interessante an der Bewegung ist, dass es überall in Frankreich Auseinan­dersetzungen mit der Polizei gegeben hat. In den meisten Städten haben Kids aus den Banlieues zusammen mit Studenten de­mons­triert. Selbst in Städten, in denen es seit 1945 keine Demonstrationen mehr gegeben hat, gab es Aufstände.

Pierre: In Paris gab es einen großen Unterschied zwischen dem, was in den Vollversammlungen der Studierenden geschehen ist, nämlich nichts, und dem, was auf der Straße passiert ist. In Rennes gab es keinen Unterschied. Die Studenten haben erst die Universität blockiert, um dann die ganze Stadt lahmzulegen. Das Vorgehen, das in den Vollversammlungen beschlossen wurde, hatte auch Auswirkungen auf die Situa­tion auf der Straße.

In Rennes hat es die Bewegung bereits sehr früh abgelehnt, zwischen guten Demonstranten und schlechten Chaoten zu unterscheiden. Die Vollversammlung hat deshalb ein Transparent beschlossen mit dem Schriftzug: »Wir alle sind Chaoten!«

Der Staat versuchte immer, diese Trennung herzustellen zwischen dem offensiven aggressiven Teil der Demonstration und den friedlichen zurückhaltenden Pazifisten. Bis zu dem Punkt bei der letzten Demonstration in Rennes, wo die Pazifisten lautstark aus dem Aufzug vertrieben wurden, mit Sprechchören wie »Wir sind keine Pazifisten, wir sind im Krieg mit dem Kapitalismus!« Das waren nicht nur einige Radikale, sondern die ganze Studentendemonstration.

Dass dieses Transparent von allen auf der Vollversammlung beschlossen wurde, bedeutet nicht, dass alle dazu bereit waren, sich konfrontativ mit der Polizei auseinanderzusetzen. Man wollte damit gegen das staatliche Vorhaben Position beziehen, die Bewegung in gute und böse Demonstranten zu spalten und dadurch zu schwächen. Dies war nämlich bereits 1994 während einer anderen Bewegung in Frankreich passiert, und deswegen hat man sich für die Strategie »Wir alle sind Chaoten!« entschieden.

In Rennes gab es über anderthalb Mo­nate lang mehrmals wöchentlich Krawalle und Demonstrationen, es wurde schon zur Gewohnheit. Im Laufe dieser Zeit wurde das paradoxe Verhalten der Pazifisten deutlich. Ihr Vorhaben, die Polizei zu schützen, setzten sie mit gewalttätigen Mitteln durch. Deshalb mussten sie nicht nur aus ideologischen Gründen von der Demonstration ausgeschlossen werden.

Der Sinn der Bewegung war aber nicht nur die Auseinandersetzung mit der Polizei. Es hat eine zweite Ebene gegeben. Die Studenten haben es ganz gut verstanden, anhand der Beispiele in Argentinien oder anderswo, dass es die einzige effiziente Protestform ist, das wirtschaftliche Leben zu blockieren. Die Studenten sind aus ihren Universitäten gekommen und haben angefangen, Autobahnen, Bahnhöfe, die Industrie und die Post zu blockieren.

Manchmal mit ganz interessantem Er­folg. Z.B. sind die Studenten in Rennes zur Postzentrale gegangen und reingekommen. Sie haben eine Vollversammlung mit den Angestellten gemacht. Der Boss von der Postzentrale wollte der Po­lizei die Räumung erleichtern und das Haus öffnen und ist dabei von seinen Angestellten daran gehindert worden. Als Elitetruppen der Polizei anrückten, um die Postzentrale zu räumen, haben sich die Angestellten mit den Studenten zusammengeschlossen, und es kam zu Prügeleien mit der Polizei.

Die Leute in Toulouse haben die Airbus-Industrie besetzt, auch der Flughafen wurde mit kleinen Sabotagen an der Start- und Landebahn behindert und somit das wirtschaftliche Leben erfolgreich lahmgelegt.

Nach diesen Blockadeaktionen hat der Staat gesagt: »Okay – CPE, kein Problem, wir nehmen es zurück.«

Vielleicht sprechen wir noch einmal über Lyon.

Pierre: In der Bewegung in Frankreich gibt es große lokale Unterschiede zwischen den einzelnen Städten. In Lyon herrscht ein eher rechtes, konservatives Klima. Traditionellerweise gibt es hier ein starkes Bürgertum. Lyon ist eigentlich typisch dafür, dass nichts passiert. Die klassischen Formen der Bewegung sind nie überwunden worden.

Das größte Hindernis der Bewegung hier war, dass sie die demokratische Praxis bei den Mehr­heitsentscheidungen auf den Vollversam­mlungen, die von den Bürokraten und Gewerk­schaf­ten kontrolliert wurden, respektierte und akzeptierte. Da haben Leute, die gegen Blocka­den waren, zusammen mit Leuten, die dafür waren, demokratische Entscheidungen treffen wollen. Als ob dies möglich wäre mit Leuten, die eigentlich Feinde sind. Dieser Fakt hat in den letzten zwei Wochen wirklich die Bewegung getötet.

Louis: In Rennes z.B. gab es eine Vollversam­mlung mit 4 000 Leuten, da hat etwa die Hälfte der Leute für die Aufhebung der Uni-Blocka­de gestimmt, die andere Hälfte wollte trotz der Rücknahme des CPE die Blockade aufrechterhalten. Im Endeffekt waren 100 Stimmen für die Aufhebung der Blockade entschei­dend. Als ob 2000 Leute nicht genug gewesen wären, um die Universität für einen weiteren Monat zu blockieren.

In einer Kampfgemeinschaft ist Demokratie vielleicht möglich, aber es gibt keine Demokra­tie, wenn man keinen Unterschied zwischen Freunden und Feinden macht.

In Rennes haben die Leute entschieden weiterzublockieren, aber mit einem nicht so guten Gefühl, da es eigentlich gegen die Wahl und den Beschluss auf der Vollversammlung war.

Pierre: Die Bewegung hat nicht begriffen, dass der Feind nicht nur die Regierung und das CPE-Gesetz ist, sondern dass auch innerhalb der Bewegung Leute wie Feinde gehandelt haben, z.B. Gewerkschaften, die gegen Blockaden und Besetzungen waren. Man wollte die Bewegung immer für möglichst viele offen halten und eine breitgefächerte Kraft sein und hat dabei die bewegungsfeindlichen Kräfte in den eigenen Reihen übersehen.

Mit jemandem innerhalb der Bewegung zu diskutieren, der keine Bewegung will, stellt einfach einen Widerspruch dar. Dass man das trotzdem tut, liegt, denke ich, daran, dass in jeder Bewegung das Ziel besteht, einen Konsens mit allen finden zu wollen. Jeder fürchtet ein wenig den Moment, in dem sich in der Bewegung politisch entscheidet, wer mit dir ist und wer gegen dich ist. Wir müssen davon weg­kommen, immer einen Konsens finden zu wollen.

Wir dürfen uns nicht davon entmutigen lassen, wenn die Gewerkschaften, rechte Studenten und die Medien sagen, dass die Bewegung beendet ist. Das sollten wir hinnehmen und trotzdem weitermachen. Wir sollten deren widersprüchliche demokratische Sitten nicht akzeptieren. Da haben so viele Leute wie nie zuvor an der Abstimmung über das Ende der Blockaden und somit auch der Bewegung teilgenommen. Nur deswegen konnte von den Feinden »demokratisch« entschieden werden, dass die Bewegung beendet ist.

Wie beschreibt ihr die Stimmung des Aufstandes?

Louis: Vor fast einem Jahr hat es diesen komischen Umstand gegeben, dass die gesamte politische Klasse und die Medien eine Kampagne für das EU-Referendum gemacht haben. Trotzdem haben die meisten Leute gegen das Referendum gestimmt.

Unter den Gegenstimmen sind doch auch viele nationalistische gewesen.

Louis: Ja. Dies hat die Politik und die Medien in eine schreckliche Lage gebracht. Die Medien scheinen nicht mehr länger nur das Interesse zu haben, das alltägliche Leben darstellen zu wollen, sie scheinen eher eine Partei im Bürgerkrieg zu sein. Sie sind keine neutrale Instanz mehr, sondern eine Partei, die eigene In­teressen verfolgt. Das ist der erste Grund für die Aufstandsstimmung.

Dann haben im November die Ban­lieues gebrannt. Man kann nicht sagen, dass dies dumme, unpolitische Aktionen waren. Vielleicht war es die politischste Sache, die in den letzten Jahren in Frankreich passiert ist. Wer denkt, Schulen, Kaufhäuser, Firmen, ganze Viertel niederzubrennen, ist eine sinnlose, unpolitische Sache, der irrt sich gewaltig. Die politische Botschaft darin ist, überhaupt keine Forderungen zu stellen, sondern einen reinen Angriff auf ein System durchzuführen. Diese Geschehnisse im November haben die elementaren politischen Ausdrucksformen etwas erweitert. Sie haben gezeigt, dass auch brennende Dinge politisch sein können und Sinn haben.

Ich denke, dass die Studentenbewegung nicht so entschieden in ihrer Praxis gewesen wäre, wenn im November diese Erweiterung der elementar-politischen Ausdrucksformen nicht erfolgt wäre. Man kann in vielen Städ­ten nicht die November-Kids und die Schüler- und Studentenbewegungen voneinander trennen. In vielen Banlieues haben die Schüler ihre Schulen blockiert. In Saint-Denis haben sie das ganze Stadtzentrum geplündert. Da gibt es wirklich eine Verbindung zwischen dem, was im November passiert ist, und dem, was in der Studentenbewegung geschah. Manche, die verhaftet worden sind, haben auf dem Revier Leute aus den Banlieues getroffen, und die meinten: »Ja, im November haben wir alles angebrannt, und jetzt seid ihr es, die alles anzünden. Ja, das ist gut. Machen wir so weiter.« Es gibt eindeutige Zusammenhänge.

Was interessant ist, ist, dass es in dieser Situation einen Aufstand gibt, der keine Forderungen stellt. Die Politik ist vollkommen unfähig, darüber zu sprechen. Denn keine von den Parteien spricht über die Lebensbedingungen – sie leben auf dem Mars oder ganz woanders. Es gibt in der Krise des politischen Systems in Frankreich den Spielraum für einen Aufstand.

In einigen Ländern, z. B. in Italien, ist den Leuten das politische System scheiß­egal. Sie leben, machen ihr Geschäft. Politiker sind immer Witzfiguren gewesen, schlechte Schauspieler, wie in einem schlechten Film mit schlechten Schauspielern. In Frankreich ist das nicht so. Jeder in Frankreich denkt politisch, hat eine politische Idee. Politik ist nicht nur eine abstrakte Sache, sondern eine sehr reale. In Frankreich ist eine Krise des politischen Systems eine Krise der ganzen Gesellschaft. Das ist nicht überall so.

Können die Studierenden in Deutschland die Erfahrungen der französischen CPE-Bewegung auf ihren Widerstand gegen die Studiengebühren beziehen?

Tobias: Man hat zwar schon irgendwie die Lust und den Willen, das auf Deutschland zu übertragen, was aber in der Form überhaupt nicht geht. Aber ich glaube, dass uns das einen gewissen Kick gibt und dass uns das zeigt, dass gewisse Dinge möglich sind, die wir überhaupt nicht geglaubt haben.

Sven: Auch wenn du sagst, dass die Rücknahme des CPE auch der Tod eurer Bewegung ist, so ist hier in Deutschland auf jeden Fall angekommen, dass der CPE zurückgenommen wurde. Es ist auf alle Fälle ein Riesenerfolg, dass ein Gesetz, das schon beschlossen war, wieder zurückgenommen wurde.

Wenn wir uns die Studentenproteste angucken, dann entdecke ich eine große Resignation. Ein Gefühl von »Wir können es ja sowieso nicht ändern«. Das bricht Frank­reich gerade elementar auf. Es gibt diese Hoffnung: Wenn wir uns wirklich zusammenschließen und versuchen zu kämpfen, können wir auch Erfolge haben. Ich denke auch, dass das der Weg hier in Deutschland ist, speziell auch für uns hier in Hamburg, Druck auszuüben. Wir haben jede Menge Angriffspunkte. Ein Streik der Studenten ist nicht nur dazu da, den Uni-Betrieb lahmzulegen, es geht auch darum, Zeit zu gewinnen für genau solche Aktionen.

Pierre: Wenn es einen Erfolg der Bewegung in Frankreich gibt, dann ist es der Erfolg derer, die die Bewegung wirklich gelebt haben. Die, die im Knast waren, und die, die offensiv auf die Straße gegangen sind. Für die gibt es keine Rückkehr zum vorherigen Zustand. Irgendwas hat begonnen und soll auch weitergehen.

* alle Namen von der Redaktion geändert.

Die vollständige Fassung des Gesprächs ist auf www.freie-radios.net als MP3 anzuhören und herunterzuladen.