Der Krieg, die Bühne und das Leben

Auf dem Istanbuler Theaterfestival geht es in diesem Jahr betont politisch zu. von conni letsch

Das 15. Internationale Theaterfestival von Istanbul fällt in diesem Jahr in eine politisch sehr angespannte Zeit. Die wieder zunehmende Gewalt in den kurdischen Gebieten, die Bombenanschläge auf die Tageszeitung Cumhuriyet, das islamistische Attentat auf den Obersten Gerichtshof in Ankara und die Diskussion um das neue drakonische Anti-Terrorismus-Gesetz beherrschen die Schlagzeilen. Und die Stücke, Konferenzen und Workshops, die während des Festivals präsentiert werden, versprechen alles andere als Entspannung und Zerstreuung.

Das Festival wurde in diesem Jahr mit einem Stück eröffnet, das die Intention der Veranstalter und Teilnehmer unterstreicht, mit den Mitteln der Bühnenkunst Wege für politische Dialoge zu ebnen. Die Premiere der neuen Inszenierung des klassischen Stückes »Die Perser« des renommierten griechischen Regisseurs Theodoros Terzopoulos und des von ihm ins Leben gerufenen Attis-Theaters ist eine türkisch-griechische Co-Produktion, bei der griechische und türkische Schauspieler gemeinsam auf der Bühne stehen.

Man mag ob dieses doch so offensichtlichen Signals mit den Schultern zucken, nach dem Motto: »Ist ja bloß Theater.« Doch angesichts des angespannten Verhältnisses zwischen der Türkei und der EU im Hinblick auf die Zypern-Frage und mit Blick auf den September des vorigen Jahres, als Anhänger der ultra-nationalistischen türkischen Partei MHP eine Ausstellung stürmten, die die Pogrome von 1955 gegen griechische und armenische Bürger in Istanbul zum Thema hatte, wird das Stück zum Politikum. Man sollte die Symbolwirkung des Theaters also nicht zu gering schätzen.

Das Werk »Die Perser« von Aischylos, basiert auf dem historischen Sieg der Griechen über das Heer des Perserkönigs Xerxes in der legendären Seeschlacht von Salamis. Und obwohl das Gefühl des Triumphes in den Zeilen des Stückes spürbar wird, ist es keine Hel­denliteratur: Der Feind wird nicht herabgesetzt, nicht verspottet, sondern vielmehr in der ganzen Tragik der Niederlage beschrieben. Es geht um Krieg, Gewalt, Macht, Verlust und Tod. Und um den Terror der Machthungrigen und das Leiden derer, die der Gewalt des Krieges ausgesetzt sind.

In Terzopoulos’ Inszenierung wird das übersteigert; der Krieg kennt am Ende nur Verlierer. In den letzten Ver­sen des Stückes klagen abwechselnd ein griechischer und ein türkischer Schauspieler über die viel zu großen Verluste der Schlacht, den Schmerz und die Leere, die der Krieg zurücklässt.

Der Schwerpunkt der Inszenierung des Attis-Theaters liegt dabei weniger auf dem Text, der zum Teil im Original auf Altgriechisch, zum Teil auf Türkisch rezitiert wird. Die Spannung entsteht vielmehr durch das Spiel mit dem Körper, durch die Mimik, die zu Masken des Schmerzes erstarrten Gesichter. Das Leiden der Körper wird zum Ausdruck universeller Verzweiflung, erklärt Terzopoulos die Methode des Attis-Theaters. Wichtiger als die Sprache sind hier Atmung, Artikula­tion, Intonation, Töne und eine Stille, die oft ins Unerträgliche gesteigert wird, nur um plötzlich durch die klagenden Schreie des Chors und der Protagonisten wieder zerrissen zu werden.

Indem Terzopoulos den klassischen Chor auflöst, die Rollen des Boten und des Perserkönigs Xerxes auf mehrere Schauspieler verteilt, erhält das Stück »Die Perser« eine allgemeine Gültigkeit, wird übertragbar und erscheint nicht nur als Bild vergangenener Kriege, sondern auch als Spiegel gegenwärtiger und künftiger Konflikte und Katastrophen. »Die Perser«, eines der ältesten überlieferten Thea­terstücke überhaupt, hat nichts an Ak­tua­li­tät verloren.

So ist die jetzige Inszenierung auch eine Illustration dessen, was der Regisseur Peter Brook in seinem Buch »Der leere Raum« über den flüchtigen theatralischen Moment sagt: »Theater ist nur dann sinnvoll, wenn der Bezug zur Wirklichkeit, zum Zeitgeschehen, zu den Zuschauern und dem Ort, an dem das Stück aufgeführt wird, an jedem Zeitpunkt und in jedem Detail hergestellt ist.«

Peter Brook, der in diesem Jahr in Istanbul auch den Ehrenpreis für sein Lebenswerk erhielt, zeigt im Rahmen des Theaterfestivals und der Theaterolympiade zwei seiner Inszenierungen. Zum einen »Der Großinquisitor« mit dem britischen Schauspieler Bruce Myers in der Hauptrolle. Das Stück basiert auf dem Roman »Die Brüder Karamasow« von Fjodor M. Dostojewski und ist auch eine gegen jede Art von religiö­sem Fanatismus und ideologischer Indok­tri­nation gerichtete Farce.

»Niemand kennt alle Antworten. Es ist immer verdächtig, wenn sich ein Mensch hinstellt und behauptet, die Wahrheit zu kennen. Keine Kultur, keine Religion, keine Meinung ist mehr wert als jede andere«, sagt Brook . »Die Moral ist sehr einfach – wenn jemand zu viel redet, hör nicht hin!«

»Sizwe Banzi is dead«, das zweite Thea­ter­stück, das Brook und das von ihm gegründete Théâtre des Bouffes du Nord aus Paris in diesem Jahr in Istanbul präsentieren, ist eine Bearbeitung des südafrika­nischen Township-Theaterstücks von Athol Fugard, John Kani und Winston Ntshona.

Brook sagt über seine Inszenierung: »Das Stück ›Sizwe Banzi is Dead‹ erzählt die Geschichte von Menschen, die unter dem repressiven Regime und in den vielleicht schrecklichsten Jahren der Apartheid in Südafrika lebten, als die von der Willkür einer kleinen Minderheit unterdrückten Bewohner des Landes sich nicht einmal mehr von einer Stadt zur nächsten bewegen konn­ten, ohne die entsprechende Autorisierung der weißen Kolonialherren vorweisen zu können. Heute ist diese Erzählung eine Geschichte für die ganze Welt geworden. Der einzige Unterschied ist, dass man damals, ohne den gültigen Pass und ohne den gültigen Stempel, mit Gewalt die zwanzig Meilen zu der Stadt zurückgeschickt wurde, aus der man kam. Heute werden Menschen um die halbe Welt geflogen, nur weil sie nicht über den richtigen Ausweis, die anerkannte Identität verfügen.«

Und Brook fährt fort: »Der Berührungspunkt zwischen den beiden Stücken, die wir in Istanbul zeigen, ist dieser: der Kontrast, mit dem wir in dieser Welt leben. Es gibt einerseits die mächtigen und intelligenten Faktoren, die dazu führen, dass jede bestehende Macht­struktur die Zeit überdauert. Aber andererseits ist da die viel einfachere, tiefer reichende und aufrichtigere Wirklichkeit, mit der man sich diesen Macht­gefügen entgegenstellt und entgegenstellen muss.«