Hotline für den Aufstand

Anschläge auf Polizeiwachen, Busse und Banken: In der vergangenen Woche erlebte Brasilien eine heftige Revolte von Banden. Zeitweise verlor die Regierung die Kontrolle. von nicole tomasek

Wir haben Angst rauszugehen«, erzählte eine Einwohnerin São Paulos der BBC. »Das ist ein Bürgerkrieg«, meinte eine andere. Indymedia-Brasilien hingegen ist sich sicher: »Irak ist hier!« Dieses Jahr gab es zum Muttertag Massaker und brennende Busse. In der vergangenen Woche erlebte die nicht gerade für friedliche Verhältnisse bekannte Metropole São Paulo den heftigsten Ausbruch von Gewalt ihrer Geschichte. Mitglieder der Mafiaorganisation Erstes Hauptstadtkommando (PCC) verübten mehr als 250 Anschläge auf Polizeiwachen, Busse, Banken und öffentliche Gebäude und töteten gezielt Polizisten, um ihre Macht zu demonstrieren. In über 80 Gefängnissen in verschiedenen Bundesstaaten kam es zu Aufständen, in São Paulo und einigen anderen Städten herrschte der Ausnahmezustand.

Zuvor hatten die Behörden versucht, Absprachen für kriminelle Aktionen zwischen den Anführern des PCC und Gangmitgliedern durch Verlegungen bestimmter Gefangener in weiter entfernte Gefängnisse zu verhindern. Mit Protesten gegen diese Maßnahme hatten die Verantwort­lichen zwar gerechnet, aber kaum mit der folgenden bürgerkriegsähnlichen Situation. Obwohl die Bandenbosse unter strenger Sicherheitsverwahrung standen, schafften sie es, die Überfälle und Revolten mit eingeschmuggelten Handys bestens zu koordinieren und so Aufmerksamkeit für ihre Forderung nach verbesserten Haftbedingungen zu erzwingen.

Von so viel Organisation und Kontrolle kann die Regierung des Bundesstaates São Paulo nur träumen. Weder gelang es ihr, Sicherheit zu garantieren, noch hat sie ihre eigene Polizei ganz im Griff. Diese reagierte auf die brutalen Überfälle auf Polizisten mit mindestens ebenso brutalen Strafexpeditionen. Menschenrechtsgruppen kritisierten bereits das oftmals von Rachegelüsten geleitete Vorgehen der Sicherheitskräfte, die außerdem jegliche Angaben zur Identität der Opfer und zu den genauen Umständen der Erschießungen verweigern. Am vergangenen Freitag lag die Zahl der Todesopfer bei 170, darunter 41 Sicherheitsbeamte.

Für eine Untersuchung durch die Staatsanwaltschaft sorgte das Geständnis von Cláudio Lembo, dem Gouverneur von São Paulo, dass es Verhandlungsversuche zwischen Marcos Camacho, dem obersten Boss des PCC, und Regierungsabgesandten gegeben habe, um die Terrorakte zu beenden. Zu einer Einigung sei es jedoch nicht gekommen. Dass eine kriminel­le Organisation als Verhandlungspartner auftritt, ist in Brasilien nichts Neues, offenbart aber die Machtlosigkeit der Staatsgewalt. Diese will nun durch neue Gesetze die bereits untragbaren Haftbedingungen weiter verschärfen.

Eine härtere Gesetzgebung wird ähnliche Vorfälle in Zukunft aber kaum verhindern. Die brasilianischen Gefängnisse bleiben chronisch überfüllt und die unterbezahlten Sicherheitskräfte korrupt. Organisationen wie das PCC haben zudem keine Schwierigkeiten, Nachwuchs unter den Millionen von perspektivlosen Jugendlichen aus den Armenvierteln zu finden. Auch Lembo gab schließlich zu: »Das alles war ein großes Erwachen für Brasilien. Die soziale Situation ist ein Krebsgeschwür, und es ist größer, als wir uns vorstellen konnten.«

Präsident Luiz Inácio Lula da Silva machte Versäumnisse bei den Bildungs- und Sozialausgaben in den vergangenen Jahrzehnten für die Krise verantwortlich, wies jedoch Vorwürfe an die derzeitige Bundesregierung zurück. Da die einzelnen Bundesstaaten für die öffentliche Sicherheit zuständig sind, stehen vielmehr Lembo und der vorherige Gouverneur, Geraldo Alckmin von der sozialdemokratischen PSDB, in der Kritik. Alckmin ist Lulas schärfster Konkurrent für die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen im Oktober.