National befreites Flandern

Für die jüngsten rassistischen Morde in Antwerpen wird von vielen Politikern und Medien der rechtsextreme Vlaams Belang verantwortlich gemacht. von korbinian frenzel, brüssel

Dass ein 18jähriger einfach in einen Waffenladen geht, ein Jagdgewehr und 20 Schuss Munition kauft, ohne einen Waffenschein vorzu­weisen, ist seit der vergangenen Woche in Belgien nicht mehr möglich. Einstimmig billigte das Parlament im Eilverfahren ein verschärftes Waffengesetz.

Das ging schnell, aber was tun gegen den Hass auf alles Fremde? Zwei Wochen nachdem der 18jährige Hans van Themsche am 11. Mai in Antwerpen zwei Menschen erschossen und einen schwer verletzt hat, wird diese Frage im ganzen Land aufgeregt diskutiert. »Rassismus anno 2006« steht in großen Lettern über den Sonderseiten, die seit Tagen in der linksliberalen flämischen Zeitung De Morgen erscheinen. Am Donnerstag soll es in Antwerpen eine Demons­tration der Trauer geben, zu der zehntausende Teilnehmer erwartet werden.

Dann wird es genau zwei Wochen her sein, dass Themsche seinen mörderischen Spaziergang durch die malerische Innenstadt von Antwerpen unternahm, nachdem er das Waffengeschäft verlassen hatte. Songul Koc, eine 46jährige Türkin, saß auf einer Bank und las, als der erste Schuss aus dem Lauf des gerade erworbenen Gewehres auf sie abgefeuert wurde. Sie überlebte schwer verletzt. Für die zweijährige Luna Drowart und ihr Au-pair-Mädchen Oule­mata N’dyie aus Mali, die gemeinsam auf der Straße spielten, waren die nächsten beiden Kugeln tödlich.

Er wolle auf Ausländer schießen, gab Themsche später bei der Polizei zu Protokoll. Ein Polizist konnte seinen Amoklauf mit einem Bauchschuss beenden. 17 Patronen hatte Themsche zu dem Zeitpunkt noch, mit denen er weitere Menschen töten wollte. Handelt es sich um die Tat eines verrückten fremdenfeindlichen Einzelgängers?

Nach den Morden von Antwerpen sind die Medien und die Politik auf der Suche nach den ideologischen Hintermännern von Themsche im niederländisch sprechenden Flandern schnell fündig geworden. Die rechtsextreme Partei Vlaams Belang (VB), die in Flandern mit ihren Parolen gegen Ausländer zuweilen 25 Prozent der Wählerstimmen erreicht, soll vor allem verantwortlich sein. In Antwerpen, seiner Hoch­burg, ist der Vlaams Belang die stärkste Partei im Rathaus.

Themsche kennt den Vlaams Belang nicht nur von Plakaten oder Flugblättern. Seine Tante sitzt im belgischen Parlament für die Partei, die sich für die Unabhängigkeit Flanderns stark macht. Premier­minister Guy Verhofstadt war der erste, der nur wenige Stunden nach der Tat diesen direkten Zusammenhang herstellte. Jeder könne erkennen, wohin Rechtsextremismus führe, sagte der Politiker von der liberalen flämischen VLD.

Mit seinem Hinweis auf den Vlaams Belang hat Verhofstadt eine Debatte darüber ausgelöst, wie die demokratischen Parteien im belgischen Parlament mit der rechtsextremen Partei weiter umgehen sollen. Erst vor zwei Jahren wurde ihre Vorgängerpartei, der Vlaams Block, vom belgischen Verfassungsgericht wegen ihres rechtsextremen Programms verboten, ohne dass daraufhin die Zustimmung für die Rechtsextremen bei Wahlen oder in Umfragen zurückging. Auch das seit dem Jahr 1989 von allen Par­teien von den Grünen bis zu den Christ­demokraten vereinbarte Verbot einer Koa­lition oder Kooperation mit den flämischen Nationalisten, der so genannte cordon sani­taire, hat dem Vlaams Belang eher mehr als weniger Zulauf beschert.

»Vor den Taten von Antwerpen gab es ernsthafte Überlegungen, bei den Kommu­nalwahlen im Herbst erstmals die ›Methode Haider‹ auszuprobieren«, sagte ein flämischer Sozialdemokrat. Offenbar hatte man vor, den Vlaams Belang an der Macht zu beteiligen und so seinen Populismus an der alltäglichen Politik messen zu lassen. Dieses Vorhaben habe man nun aufgegeben, sagte der Mitarbeiter von Freya von der Bosche, der stellvertretenden Premier­ministerin. Doch eventuell schwäche die Entrüstung über die Morde den Vlaams Belang bereits vorher. Dabei wollen die etablierten Parteien helfen. Es wird darüber diskutiert, der Partei die staatliche Finanzierung zu streichen oder zu kürzen.

Eine »große Scheinheiligkeit« bescheinigt unterdessen der Politologe Dave Sinardet den etablierten Parteien für ihren derzeitigen Aktionismus. Als einer der führenden Vertreter der Partei, Filip Dewinter, vor wenigen Wochen Ladenbesitzer dazu aufforderte, sich zum Schutz vor kriminellen jungen Migranten zu bewaffnen, habe niemand die Kürzung der Finanzierung für den Vlaams Belang gefordert, kritisiert der Professor, der an der Universität von Antwerpen lehrt. Und er gibt zu bedenken: »Wenn es den Vlaams Belang nicht gäbe, wären dann die Morde von Antwerpen nicht geschehen?« Sinardet wundert sich auch über die einfachen Antworten, die zurzeit gegeben würden und die eine Frage dabei geschickt umgingen: »Wie steht es um eine Gesellschaft, in der die Ausländerfeindlichkeit und Abgrenzung gegen außen so lange salonfähig sind, bis das Kopfsteinpflaster in den Straßen Antwerpens mit Blut besudelt ist?«

Während in Flandern solche Fragen nur am Rande gestellt werden, beobachten die Bewohner Walloniens, des französischsprachigen Landes­teils, die Vorgänge im Norden Belgiens mit wachsender Besorgnis. »Ist Flandern rassistisch?«, fragte die französischsprachige Zeitung Le Soir nach den Morden. Nur wenige Tage zuvor waren mehrere Ausländer bei zwei Übergriffen in Brügge und in einer Antwerpener Diskothek schwer verletzt worden. Für Hassan Bousetta von der Universität in Lüttich steht fest: »Der Rassismus ist im Norden des Landes ein strukturelles Problem.« Und seine Kollegin von der Universität Leuven, Professorin Nadia Fadil, meint: »Der Mythos eines spezifisch kulturellen und homogenen Flandern ist in der Bevölkerung weit verbreitet.«

Umfragen des staatlichen Fernsehens scheinen zu bestätigen, dass die Einstellung gegenüber Migranten in Flandern deutlich negativer ist als in Wallonien. Dass es »zu viele Ausländer im Lande« gebe, glauben demzufolge acht Prozent der französischsprachigen Belgier. In Flandern sind es mit 20 Prozent mehr als doppelt so viele.

Die Kritik am Rassismus in Flandern, die aus dem Süden kommt, könnte das schwierige Ver­hältnis der beiden Landesteile erneut belasten. In Wallonien, das sich von Politikern aus dem Norden stets die höhere Kriminalitätsrate und das geringere Wirtschaftswachstum vorhalten lassen muss, freut man sich, endlich einmal das »bessere Belgien« zu sein.