Nie wieder Antifaschismus!

Das Feindbild Nazis verstellt den Blick auf deren politische Ansichten und die Mitte der Gesellschaft, aus der sie kommen. von ivo bozic
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Unter Linken gibt es ein beliebtes Hobby, nämlich darüber zu debattieren, wer denn nun eigentlich links ist, wer linker und wer der linkeste von allen. Bestimmt ergibt das irgendeinen Sinn und es macht ja auch Spaß, wer beteiligt sich nicht gerne an solchen Diskussionen? Aber wer – und das ist keinesfalls eine völlig andere Frage, bewegt sie sich doch im selben Links-Rechts-Schema – ist eigentlich ein Nazi?

Nach dem Überfall auf einen Afrodeutschen im April in Potsdam haben Medien, Politiker und auch die Antifa sich dieser Frage angenommen. Sind die Angreifer Nazis, auch wenn sie nicht in einer registrierten rechtsextremen Organisation registriert sind? Reicht es, ein soziales Umfeld aus nationalstolzen Schlägervisagen und rassistischen Hooliganprolls zu haben? Definiert sich ein rassistischer Angriff als Nazi-Überfall, wenn der Täter ein geschlossenes faschistisches Weltbild vorzuweisen hat, oder darf auch ein deutscher Familienvater als Nazi gelten, wenn er nach der letzten Lokalrunde bierselig seinem fremdenfeindlichen Ressentiment ganz spontan materiellen Ausdruck verleiht?

Mit dieser Debatte ist die Antifa mit ihrem typischen Ehrgeiz zur Recherche mitten im Mainstream angekommen. Mit Fotos, Namen und Adressen fahnden Antifas schon seit Jahren genauso wie der Verfassungsschutz und nun auch die Medien akribisch nach leibhaf­tigen Rechtsextremisten. »Hier wohnt ein Nazi«, skandieren sie, wenn sie auf einer Demonstration an einer jener Adressen vorbeiziehen, die ihnen aus den zahlreich zur Verfügung stehenden »Fahndungslisten« bekannt ist. Aber wohnt nicht vielleicht nebenan auch einer? Einer, der vielleicht nicht als Anti-Antifa-Aktivist bekannt und daher dem Antifa ungefährlich ist, aber dafür bereit, den nächstbesten Ausländer oder Schwulen niederzuschlagen?

Es ist für einen Schwarzen in der Brandenburger Provinz völlig irrelevant, wer ihm die Faust ins Gesicht schmettert, ob deren Besitzer Mitglied der NPD ist oder nur irgendein dahergelaufener Idiot. Für das Opfer ist die korrekte Kategorisierung des Täters belanglos. Anders gesagt: Nicht jeder KZ-Wächter war ein überzeugter Nationalsozialist. Nicht nur sein Parteibuch, sondern auch seine Taten machten ihn zum Verbrecher. Das Problem am KZ-Wächter ist nicht, dass er Nazi ist, sondern dass er KZ-Wächter ist. Dazu reicht eine Portion Antisemitismus und eine Portion blinder Gehorsam, eines ideologischen Manifests bedarf es nicht.

Ein Perspektivwechsel. In dieser Wochenzeitung findet sich von Anfang an auf der Antifa-Seite eine Rubrik mit dem Titel »Deutsches Haus«. Als Reaktion auf die rassistischen Übergriffe Anfang und Mitte der Neunziger, auf die damalige Pogromstimmung gegen Ausländer dokumentieren wir seitdem Woche für Woche rassistische und antisemitische Übergriffe und staatlichen Rassismus in Deutschland. Doch schon seit einiger Zeit kommt es über diese Rubrik immer wieder zu Diskussionen in der Redaktion. Wenn, wie vorige Woche in Berlin, zwei palästinensische Jugendliche einem 16jährigen jüdischen Jungen seine Davidstern-Kette vom Hals reißen und ihn bedrohen, gehört dieser Vorfall dann in die Kolumne? Was ist, wenn drei Russlanddeutsche einen Vietnamesen verprügeln oder türkische Nationalisten ein kurdisches Geschäft zerlegen? Und wie verhält es sich mit Übergriffen auf Behinderte, Obdachlose, Schwule? Sind so genannte Ehrenmorde nicht auch Ausdruck eines faschistoiden Frauenbildes und sehr viel folgenreicher als ein auf eine Hauswand geschmiertes Hakenkreuz?

Es war Anfang der neunziger Jahre falsch, und es ist es immer noch, »den Nazi« als das ärgste gesellschaftliche Problem auszumachen. Um »den Nazi« wird sich der Staat schon kümmern, zumindest wird er seine Repressionsmittel einsetzen, denn an seinem Aufstieg hat die bürgerliche Gesellschaft kein Interesse. »Der Nazi« ist ein einfaches Feindbild, das jeder halbwegs zivilisierte Mensch teilt, und egal wie stark die NPD in diesem oder jenem Landkreis oder Landtag wird, es droht kein neues Nazi-Reich mit SS-Truppen und Hitlerjugend. Faschismus ist passé. Die einzelnen ideologischen Versatzstücke des Faschismus bleiben dennoch jederzeit potent. Und um sie geht es.

Schon Mitte der Neunziger haben Antifas völlig zu Recht die Losung vom »rechten Konsens« ausgegeben, der sich mitten in der Gesellschaft etabliere und den es zu kritisieren und zu bekämpfen gelte. Viele bürgerliche »Experten« haben inzwischen eingesehen, dass es sinnlos ist, ein paar unverbesserliche Altnazis oder hohlbirnige Neonazis zu verfolgen, solange die einzelnen Bestandteile ihrer Weltsicht jeder für sich gesellschaftlich mehrheitsfähig sind, als da sind: vor allem Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, Antiamerikanismus, Revisionismus, patriarchaler Chauvinismus.

Doch richtet man den Blick derart spezifiziert auf rechte Umtriebe, dann ist plötzlich auch ein einfaches antifaschistisches Weltbild nicht mehr haltbar. Für den ideologisch geschulten ostdeutschen PDS-Antifaschisten etwa, für den Faschismus nur eine extreme Herrschaftsform des Kapitals darstellt, ist es eine Zumutung, wenn man ihm sagt, dass die national befreiten Zonen, von denen heutzutage wieder so oft die Rede ist, von den Neonazis nicht geschaffen, sondern lediglich verteidigt wurden. Die SED war es, die sie in einer sich antifaschistisch verstehenden und dabei weitgehend ausländerfreien DDR etabliert hat. Der praktische Antisemitismus der Neonazis ist ein Tröpfchen im See des arabischen Antisemitismus, Antiamerikanismus ist eine Domäne der Linken, Nationalismus ist der gesellschaftliche Grundkonsens bei der WM und geht meistens mit der Globalisierungskritik einher, und ein sexistisches Frauenbild wird in jeder Eckkneipe wirkungsmächtiger als auf den Internetseiten rechtsextremer Kampftruppen.

Apropos PDS. Die Partei hat vor Jahren eine Kampagne mit der Losung »Nazis raus aus den Köpfen!« durchgeführt und entsprechende Wahlplakate gedruckt. Mal von dem sprachlichen Unsinn daran abgesehen, trifft das, was damit vermutlich gemeint ist, den entscheidenden Punkt. Nicht Nazis zu outen, ist das Gebot der Stunde, sondern deren Überzeugungen, egal bei wem sie sich zwischen den Gehirnwindungen eingenistet haben. Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus müssen diskreditiert werden, und das ist eine weit größere Herausforderung, als Scheitel- oder Bombenjackenträger, die niemand mag, zum Konsensfeindbild zu erklären. Wer diese Facetten einer faschistischen Einstellung einfach den Nazis zuschreibt, der setzt sich dem Verdacht aus, sich selbst, die Gesellschaft oder auch beispielsweise die Linke damit entlasten zu wollen.

Ist das Nazi-Problem deshalb zu vernachlässigen? Nein! Nazis vereinen in sich alle politischen Ansichten, die es zu bekämpfen gilt. Und sie stellen durch die kulturelle Hegemonie, die sie in manchen Gegenden durchzusetzen helfen, eine konkrete Gefahr dar. Doch wer vom Nazi spricht, von seinen konkreten politischen Motiven aber schweigt, der verharmlost das tatsächliche Problem, der verweigert sich der notwendigen Kritik.

Und es hilft auch nichts, als nächstes Konsensfeindbild den islamistischen Judenhasser zu präsentieren. Den »rechten Konsens« angreifen, hieß es in den neunziger Jahren. Richtig. Und den antisemitischen, nationalistischen, antiamerikanischen, usw. usf.! Ein Antifaschismus, der wahlweise dimitroffsche Faschismus­analyse oder plumpes Nazi-Jagen ist, hilft jedenfalls nicht weiter.