Wer ist die Nummer 1?

Die Hausnummer – was für eine ist das eigentlich? Wo kommt sie her? Was sagt sie aus? Von Anton Tantner

Hausnummern scheinen keine Geschichte zu haben, so selbstverständlich, so alltäglich sind sie für uns geworden. Doch wie so oft ist auch ihre Herkunft in jenem Grenzgebiet von Militär, Fiskus und vormoderner »Policeywissenschaft« zu verorten, das bis vor kurzem nur selten Eingang in die Geschichtsbücher fand. Sie werden nicht etwa eingeführt, weil sich mit ihrer Hilfe Einwohner oder Reisende besser orientieren können. Vielmehr sind es mal Erfordernisse der Militäreinquartierung oder der Rekrutierung, mal die effizientere Steuereinhebung, mal die Bettlerbekämpfung oder die Brandschutzversicherung, die zur Anbringung von Nummern auf Häusern motivieren.

Wann beginnt die Geschichte der Hausnummerierung? Eine gewiss spannende Frage für eine traditionelle, nach Anfängen und Ursprüngen süchtige Geschichtsschreibung. Vielleicht fängt alles im Jahr 1737 an, als in Preußen in kleinen Städten für die Zwecke der Militäreinquartierung vor dem Truppeneinmarsch Nummern an die Häuser geschlagen werden sollen. Zehn Jahre zuvor werden allerdings bereits die Häuser in der Prager Judenstadt nummeriert, und 1708 wird erwähnt, dass in London die Häuser in der Prescot Street Nummern tragen. Schließlich ist nicht zu vergessen, dass im Jahr 1519 die Gebäude der Augsburger Fuggerei und bereits im 15. Jahrhundert die 68 Häuser auf der Pariser Pont Notre Dame nummeriert sind.

Der Triumph der Hausnummerierung in Europa setzt jedenfalls Mitte des 18. Jahrhunderts ein, in jenem vom Ordnung und Klassifikation so besessenen Zeitalter: 1750 werden die Häuser Madrids nummeriert, 1754 ist Triest an der Reihe. Aus 1762 und 1765 datieren Anordnungen, die in London die Hausnummerierung einführen, die französischen Provinzstädte kommen 1768 dran. 1770/71 wiederum durchstreifen zahllose Kommissionen die böhmischen und österreichischen Provinzen der Habsburgermonarchie, um in Zusammenhang mit der Vorbereitung eines neuen Rekrutierungssystems die Bevölkerung – die »Seelen« – zu zählen und die Häuser zu nummerieren.

Ebenfalls 1770 erhält in München der Maler Franz Gaulrapp den Auftrag, die vier Viertel der Stadt jeweils durchzunummerieren, eine Polizeimaßnahme, die gegen Bettler und Vaganten gerichtet ist; die Nummer wird mit weißer Farbe auf die Haustür gemalt.

Nicht zu unterschätzen sind die Auswirkungen der Französischen Revolution. Nicht nur, dass 1790 in Paris für die »Einhebung« einer Grundsteuer ein neues Nummerierungssystem eingeführt wird; die Revolutionskriege werden die Hausnummerierung in viele Städte Deutschlands, der Schweiz und der Niederlande bringen, wo die Häuser zur Erleichterung der Militäreinquartierung nummeriert werden. So entsteht auch die neben Downing Street Number 10 berühmteste Hausnummer: Im Jahr 1794 wird anlässlich der französischen Besetzung Kölns das spätere Haus des Duftwasserproduzenten Mülhens mit der Nummer 4 711 bedacht.

Verhältnismäßig spät kommen die Nummern nach Berlin und Venedig. In der erstgenannten Stadt verfügt der preußische König 1799, dass die Nummerierung straßenweise zu erfolgen habe, in Venedig wiederum ist es 1801 die österreichische Besatzungsmacht, die die Häuser viertel- bzw. »sestiere«-weise nummerieren lässt, ein Prinzip, das sich bis heute gehalten hat.

Vier verschiedene Systeme der Nummerierung lassen sich von einander unterscheiden:

– Die ortschaftsweise Durchnummerierung, wie sie zum Beispiel in der Habsburgermonarchie angewandt wird.

– Die viertelweise Durchnummerierung, bei der das jeweilige Stadtviertel durch einen vor die Hausnummer gestellten Buchstaben symbolisiert wird (Mainz, Augsburg, Nürnberg).

– Die blockweise Nummerierung (Madrid, Mannheim).

– Die straßenweise Nummerierung, in Wien Orientierungsnummerierung genannt.

Diese wird in der Regel erst im 19. Jahrhundert eingeführt (in Paris 1805 mit geraden Nummern auf der einen, ungeraden Nummern auf der anderen Straßenseite), als sich wegen des starken Wachstums der Städte die anderen Nummerierungsarten als nicht mehr praktikabel erweisen.

Es verwundert nicht, dass die militärische und fiskalische Verwendung der Hausnummern Widerstand hervorruft. Das »Volck« betrachtet die neuen Nummern als Symbole des Staats und bewirft sie zuweilen mit Unflat oder kratzt sie mit eisernem Gerät aus den Wänden. Auch von unerwarteter Seite kann Protest kommen, von Adligen etwa. Diese goutieren es keineswegs, dass ihre Schlösser und Paläste gleich den einfachen Hütten des Pöbels dem Verdikt der Nummerierung unterliegen.

Vor der Hausnummer scheinen also alle gleich. Oder doch nicht? Dass die Hausnummer auch als Mittel der Diskriminierung verwendet werden kann, beweisen die Beamten in der Habsburgermonarchie. 1770/71 malen sie auf so genannte »Juden Häuser« – das sind Häuser, bei deren Eigentümern es sich um Juden handelt – nicht wie sonst »teutsche« (arabische) Ziffern, sondern verwenden dabei »römische«, also lateinische Zahlenzeichen, womit die scharfe Trennlinie, die zwischen den christlichen und jüdischen »Seelen« gezogen ist, noch einmal betont wird. Bis ins 19. Jahrhundert wird sich diese Unterscheidung mittels Adresse halten.

Szenenwechsel in die jüngere Geschichte Österreichs: Im Zuge der Proteste gegen die Bildung der Regierung von ÖVP und FPÖ wird im Februar 2000 am Ballhausplatz, wo sich das Bundeskanzleramt und die Präsidentschaftskanzlei befinden, von Regierungsgegnern die Botschaft besorgter Bürgerinnen und Bürger eröffnet. Sie gibt sich selbst eine Hausnummer – Ballhausplatz 1A. Diese Ortsangabe wird auch von Radio Widerhall, einer vom Alternativsender Radio Orange ausgestrahlten Sendung als Kontaktadresse angegeben; auf der Homepage findet sich dazu die Anmerkung: »Eingeschrieben kommt es sicher an.«

Adressierbar zu sein bedeutet demnach nicht nur die mögliche Verpflichtung, zum Militär eingezogen werden zu können oder Steuern zahlen zu müssen. Zuweilen handelt es sich um ein begehrenswertes Gut. Kontroll- und Überwachungstechniken haben dann eine Chance, sich durchzusetzen, wenn die Betroffenen sie sich für ihre eigenen Zwecke aneignen können.

Weitere Informationen auf http://adresscomptoir.twoday.net und http://hausnummern.tantner.net

Im Herbst erscheint: Anton Tantner: Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen - Hausnummerierung und Seelenkonskription in der Habsburgermonarchie. Studienverlag, Innsbruck/Wien/Bozen

Bilder und Erläuterungen zu einzelnen Hausnummern sind in der Printausgabe zu sehen.