»Der Kapitalismus hat nicht viel drauf«

Stefan Engel

Am 18. Juni 1982 wurde die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) gegründet, in dieser Woche geht sie in ihr 25. Jahr. Ihr Vorläufer, der Kommunistische Arbeiterbund Deutschlands, war Anfang der siebziger Jahre als eine von vielen K-Gruppen entstanden. Als einzige dieser Gruppen hat die MLPD überlebt. Sie verfügt über etwa 20 kommunale Mandate, die meisten davon in Nord­rhein-Westfalen.

Von Anfang an sitzt der gelernte Schlosser Stefan Engel der MLPD vor, seine Ehefrau Monika Gärtner-Engel gehört ebenfalls dem Zentralkomitee an. Damit ist Engel länger Parteivorsitzender, als es August Bebel, Ernst Thälmann oder Erich Honecker waren. Nur wenige internationale Führer der Arbeiterbewegung wie Enver Hoxha oder Kim Il-Sung haben noch länger als Parteivorsitzende gedient. Mit Stefan Engel sprach Deniz Yücel.

Die MLPD legt viel Wert auf die »proletarische Denkweise«. Ist es mit dieser vereinbar, sich für die WM zu interessieren?

Die proletarische Denkweise bedeutet nichts anderes, als sich im Denken, Fühlen und Handeln an der marxistisch-leninistischen Weltanschauung zu orientieren. Das hindert niemanden daran, am normalen Leben teilzunehmen. Ich weiß ja nicht, was Sie unter der proletarischen Denkweise verstehen …

… ich verstehe davon sicher weniger als Sie.

Jedenfalls sind Völkerfreundschaft und Wett­bewerb in Ordnung, nationalistische Eupho­rie und die Geldmacherei sind es nicht. Die Begeisterung der Leute ist durchaus mit der proletarischen Denkweise vereinbar.

Die MLPD hat bei den Protesten gegen Hartz IV eine große Rolle gespielt …

… und spielt sie immer noch!

Dennoch konnte Hartz IV nicht verhindert werden. Warum sind soziale Proteste hierzulande so erfolglos?

Mit dieser Darstellung bin ich nicht einverstanden. So wurde die SPD in Nordrhein-Westfalen wegen Hartz IV abgewählt …

… dafür wurde die CDU gewählt.

Das ist eine Fehlinterpretation. Die Sozialdemokratie verliert ihren Einfluss unter den Arbeitern. Die wählen auch nicht CDU, die bleiben zuhause. Und die Montagsdemonstrationen, die nach wie vor in mehr als 120 Städten stattfinden, sind wichtig für die Bewusstseinsbildung.

Der MLPD wurde vorgeworfen, die Montags­demonstrationen vereinnahmen zu wollen.

Diese pauschale Kritik ist unberechtigt. Die MLPD hatten großen Anteil daran, dass die Demonstrationen zustande kamen und sich zeitweilig zu Massenprotesten entwickelten. Diese wollten wir mit offenen Diskussionen verbinden. Mancherorts haben Attac oder Gewerkschafter dies zu unterbinden versucht, darum kam es zu Streit. Andererseits waren einige Genossen etwas rechthaberisch, das wurde parteiintern auch kritisiert.

Im Gründungsdokument der MLPD heißt es: »Das strategische Ziel der Etappe ohne akut revolutionäre Situation ist die Gewinnung der entscheidenden Mehrheit der Arbeiterklasse für den Kampf um den Sozialismus.« Wie nahe sind Sie diesem Ziel gekommen?

Seit der Jahrtausendwende haben wir unseren Einfluss im Industrieproletariat enorm ausgebaut. Allein in den letzten zwei Jahren hatten wir einen Mitgliederzuwachs von 30 Prozent. Und unter den Betriebsräten und Vertrauensleuten haben wir unseren Einfluss vervielfacht. Immer öfter greifen die Arbeiter unsere Forderungen und Vorschläge auf – ich erinnere an den Opel-Streik!

Viele würden sagen, die Massen wollen heute mit dem Sozialismus noch weniger zu tun haben, als es 1982 der Fall war.

Das sehe ich anders. Wir machen regelmäßig Stände, allein hier in Gelsenkirchen an manchen Wochen bis zu 20. Wir wissen, wie die Leute denken. Der Antikommunismus verliert unter den Arbeitern merklich seine Wirkung, selbst wenn er in den Medien zunimmt.

Bei den Bundestagswahlen erhielt die MLPD 45 238 Zweitstimmen. Ist es nicht frustrierend, nach 25 Jahren noch immer als »Sonstige« geführt zu werden?

Bei den Wahlen kommt kaum zum Ausdruck, was die Leute wollen. Sie können weder die Listen beeinflussen, noch das, was später im Parlament passiert. Für uns ist die Teilnahme an Wahlen ein Grad­messer, und wir nutzen sie für Kampagnen. Mehr können Wahlen für uns nicht sein, wir sind auf revolutionäre Veränderungen aus. Trotzdem unterschätze ich es nicht, wenn wir 45 000 Stimmen bekommen. Schließlich gibt es eine Fünf-Prozent-Klausel, es gibt Umfragen, die nur die großen Parteien erwähnen.

Spüren Sie nach 25 Jahren als Partei­vorsitzender eine Amtsmüdigkeit?

Ich wurde im Alter von 28 Jahren gewählt. Man wollte einen Arbeiter in der Führung – in der kleinbürgerlichen ML-Bewegung hatten Intellektuelle die Führung. Jetzt bin ich 52 und gehöre damit nicht zum alten Eisen. Und ich bin zwar der Sprecher des Zentralkomitees, aber wir arbeiten im Team.

Doch nur Sie bekommen solche Zuschriften: »Lieber Stefan glaube mir / ich saugte sehr viel Kraft von dir / Deine Vorträge waren so toll / dass ich immer mehr noch lernen wollt.« Was empfinden Sie, wenn Sie das lesen?

Wer so was schreibt, will damit seine Sympathie ausdrücken. Aber ich lege darauf keinen Wert. Ich führe ein bescheidenes Leben. Ich gelte als untypischer Parteivorsitzender, den man auf der Straße nicht als solchen wahrnehmen würde. Wenn Sie auf das Stichwort »Personenkult« hinauswollen …

… das sagt der Verfassungsschutz …

… und begründet das damit, dass in unserer Zeitung Rote Fahne ein Artikel zu meinem 25jährigen Jubiläum erschien – solche Würdigungen gibt es in jedem Betrieb. Personifizierungen hat unsere Partei immer abgelehnt.

Der Verfassungsschutz berichtet auch, dass die MLPD ihre Mitglieder streng kontrolliert.

Im normalen Leben wird bei uns niemand kontrolliert. Aber wir sagen auch, dass Genossen, die bestimmte Funk­tionen übernehmen, diese nicht für ihre Vorteile ausnutzen sollen. Viel­leicht kennen Sie das: Da ist jemand kämpferisch und wird in den Betriebs­rat gewählt. Plötzlich verdient er mehr. Was macht er? Fühlt er sich der Betriebsleitung verpflichtet oder den Kollegen, die ihn gewählt ­haben? Das ist eine Frage der Denkweise.

Der letzte, der bei uns wegen liquidatorischer Auffassungen ausgeschlossen wurde, war Berthold Huber, der nun zweiter Chef der IG Metall ist. Ihm waren seine Privilegien als Gewerkschafts­funktio­när wichtiger geworden. Das war 1979, seitdem werden bei uns alle Probleme mit Kritik, Selbstkritik und Überzeugung geklärt. Bei uns gibt es eine so optimistische und vereinheitlichte Stimmung, nach ihr würden sich die PDS oder die Wasg die Finger lecken.

Wie ist Ihr Verhältnis zu denen?

Im Unterschied dazu sind wir eine revolutionäre Arbeiterpartei. In der Tagespolitik gibt es viele Berührungspunkte, und gerade auf örtlicher Ebene gelingt es uns oft, Bündnisse zu schließen.

Isoliert ist die MLPD nicht?

Natürlich versuchen die Medien, die MLPD zu isolieren. Aber diese Politik wird immer besser durchbrochen. Wir bauen unsere Positionen in Betrieben und Gewerkschaften aus, wir haben kommunale Mandate, wir sind in sozialen Bewegungen aktiv. Unsere angebliche Isolierung wird vom Verfassungsschutz beschworen. Und von man­chen in der PDS, Wasg oder den Gewerk­schaften, die uns für »Stalinisten« halten – wobei ich nicht weiß, was das sein soll. Das ist ein Schimpfwort für Leute, die die alte kommunistische Bewegung nicht verdammen, sondern kritisch auswerten.

Werden wir die Revolution erleben?

Das hoffe ich. Es gibt zwar allgemeine Entwicklungen, die ich sehr positiv sehe. Grundsätzlich aber wird die Revolution schlagartig, aus einer Zuspitzung des Klassenkampfes heraus kommen.

Und ich muss ehrlich sagen: Der Kapita­lismus hat nicht viel drauf. Was hat er für die Zukunft zu bieten? Noch weniger Renten, noch weniger soziale Rechte, noch mehr Arbeitslosigkeit? Irgendwann werden die Leute sagen: Wir haben die Faxen dicke! Sie wer­den nach gesellschaftlichen Alternativen suchen, und dann wird die Frage der Revolution zur Massenfrage werden. Ich gebe dem Kapitalismus nicht sehr lange.