Familie adelt

Geburtenraten hier und dort von cord riechelmann

Gemeinhin gilt Italien als dasjenige Land, in dem familiäre Banden stärker sind als überall sonst. Tatsächlich aber steht es schlecht um »la Famiglia«. Wenn der Nonno, der in den fünfziger Jahren noch gehungert hatte, ehe er Arbeit im fernen Francoforte fand, heute in sein sizilianisches Dorf kommt, findet er es verwaist wieder. Die Tochter seines Bruders, der damals in Sizilien blieb, arbeitet als Ärztin in Bari. Sie ist unverheiratet und kinderlos. Ihr Bruder lebt in Bologna und denkt als Intellektueller über »senile Utopien« nach. Er ist zwar verheiratet, aber ebenfalls kinderlos. Italien ist das europäische Land mit der geringsten Geburtenrate.

Trotzdem fehlen dort die Untergangsvisionäre, die hierzulande im mangelnden Nachwuchs das Ende von Staat und Gesellschaft erkennen wollen. In Italien sieht man in die Dinge gelassener. Das mag damit zu tun haben, dass in einem Auswandererland die Familie ohnehin nie so eng mit dem Staat in Verbindung gebracht wird wie im klaustrophobischen Deutschland. Und es könnte auch daran liegen, dass in Italien der Familienbegriff schon immer weiter gefasst wurde als im kleinbürgerlichen Deutschland.

Selbst wenn die Theoretiker der italienischen Autonomia immer noch gerne bei der Nonna essen gehen, sind sie sich darüber einig, dass die Zerstörung der traditionellen Familie durch den Kapitalismus kein neues Phänomen, sondern längst abgeschlossen ist. Die Verhältnisse haben die Familie weitaus gründlicher erledigt als den Nationalstaat oder die Politikerkaste, die der verblichenen Familie hintertrauert. Die »kommende Gemeinschaft« (Giorgio Agamben) wird in Italien ohne zoologische Legitimation und außerhalb der genetischen Genealogie gedacht. Der Staat ist nicht angeboren, und die Freunde, die man hat, hat man auch ohne Stammbaum.

Gegenüber dem, was italienische Theoretiker wie Paolo Virno, Giorgio Agamben oder Franco Berardi über den Alterszustand der Gesellschaft denken, wirken die Diskurse hierzulande merkwürdig juvenil und gleichzeitig vorrevolutionär. So hat Ariadne von Schirach vor ein paar Monaten im Spiegel ihr Unverständnis für die Warenförmigkeit von Körpern, Sex und Beziehungen mit der Beschwörung eines ungeschichtlichen Liebesbegriffs verbunden, den man nicht einmal als romantisch bezeichnen kann.

Und die Familienministerin Ursula von der Leyen wird nicht müde mitzuteilen, dass erstens ganz viele Kinder und ganz viel Arbeit sehr gut zusammengehen und zweitens ganz viel Geld nicht die Bedingung für ganz viele Kinder sein darf. Was die Bild-Zeitung dazu veranlasste, kinderreiche Familien ohne Geld zum Kindermachen nach Mallorca zu schicken.

Die Schlagzeile »Wir machen unser 11. Kind auf Mallorca«, war der bisherige Höhepunkt einer Diskussion über die Familie, die in der EU ihresgleichen sucht. Nirgends sonst ist man so tief in feudalistische Rhetorik zurückgefallen wie in Deutschland. »Das Geheimnis des Adels ist die Zoologie«, hat Karl Marx einmal gesagt. Es ist also kein Zufall, wenn es hierzulande vor allem Adelige sind, die der Familie und ihrer Heilskraft das Wort reden. Wer seine Existenzberechtigung mit dem Stolz auf das Blut und die Abstammung begründet, muss vor der Unterbrechung der seriellen Nachkommenschaft und der Auflösung der Familie Angst haben.

Die praktische Reproduktion der Menschen wird aber nicht dem vorbürgerlichen Familienkonzept folgen. Die Zentren, in denen die Menschen noch viele Kinder zur Welt bringen, liegen nahe jenen, wo die Fortpflanzung stagniert. Dass das manche westliche Psyche ängstigt, dürfte weiterhin grässliche Folgen haben.