Hitlers williger Mufti

Kürzlich entdeckte Dokumente belegen den Plan der Nazis, Palästina zu besetzen und die jüdische Bevölkerung zu ermorden. von anton landgraf

Am 20. Juli 1942 flog der SS-Obersturmbannführer Walther Rauff, der Leiter des »Einsatzkommandos Afrika«, im Auftrag des Reichssicherheitshauptamtes in die kurz zuvor von der deutschen Armee eroberte Festung To­bruk am libyschen Mittelmeer. Rauff und seine 24köpfige Mannschaft waren keine gewöhnlichen Soldaten, sondern eine »Truppe radikaler Weltanschauungskrieger«, wie Klaus-Michael Mallmann, der Leiter der NS-Forschungsstelle in Ludwigsburg, und sein Mitarbeiter Martin Cüppers in ihrem Aufsatz »Beseitigung der jüdisch-nationalen Heimstätte in Palästina« schreiben. Das Ziel dieser Einheit war die Vernichtung der jüdischen Gemeinde in Palästina.

Der Text, der in dem von Jürgen Matthäus und Mallmann herausgegebenem Sammelband »Deutsche, Juden, Völkermord« erschienen ist, belegt den bis dahin kaum bekannten Plan. Rund eine halbe Million Juden lebte in dem damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina. Zehntausende hatten sich, trotz der rigiden Einwanderungskontrollen, vor der Verfolgung in Europa dorthin flüchten können. Nach der britischen Niederlage schien im Sommer 1942 der deutsche Vormarsch nach Ägypten und Palästina nur noch eine Frage der Zeit zu sein, seit einigen Monaten bereits wartete das »Einsatzkommando Afrika« in Athen auf diese Gelegenheit.

Mit Rauff stand dem Kommando ein »Experte« zu Verfügung, der in den besetzten Gebieten der Sowjetunion und in Serbien mithilfe des von ihm entworfenen mobilen Gaswagens zahlreiche Massentötungen durchgeführt hatte. Seine Anweisungen für die geplante Vernichtungsaktion entsprachen den in Osteuropa entwickelten Vereinbarungen zwischen der SS und der Wehrmacht.

Und auch in einem anderen Punkt ähnelte sich das Vorgehen. In seinem Aufsatz »Die Ermordung der baltischen Juden und die einheimische Bevölkerung« beschreibt Wolfgang Benz im selben Band, wie die Shoa im Baltikum untrennbar mit der massenhaften Kollaboration der Letten und Litauer ver­bunden war.

Auf dieselbe Weise sollte nun die Mordaktion »End­lösung« in Palästina erfolgen, zumal die Voraussetzungen dafür besonders günstig schienen, wie ein Bericht vom Sommer 1942 von Walter Schellenberg, dem Leiter des Auslandsgeheimdienstes, belegt. »Die außergewöhnlich deutschfreundliche Stimmung der Araber ist im wesentlichen darauf zurückzuführen, dass man hofft, dass Hitler kommen möge, um die Juden zu vertreiben«, heißt es dort.

Zudem konnte Rauff mit prominenter Hilfe rech­­­nen. »Bedeutendster Kollaborateur der Na­tio­nal­sozialisten und zugleich ein bedingungsloser Antisemit auf arabischer Seite war Hadsch Amin el-Hus­seini, der Großmufti von Jerusalem«, schrei­ben Mallmann und Cüppers. In seiner Person habe sich exemplarisch gezeigt, »welch entscheidende Rolle der Judenhass im Projekt der deutsch-arabischen Verständigung einnahm«.

Der Großmufti war im Jahr 1941 nach dem Sturz der prodeutschen Regierung im Irak vor den Briten nach Berlin geflohen. Bei mehreren Treffen mit Adolf Eichmann seien Details der geplanten Morde festgelegt worden. Von Eichmann ließ er sich offen­bar regelmäßig persönlich den Stand der Vernichtungsaktionen in Europa erklären. Und Hitler versprach er, für deren Fortsetzung genügend willige Araber im Nahen Osten zu gewinnen.

Entsprechend erhielt die »mobile Todesschwadron« von Rauff zunächst den Auftrag, arabische Kollaborateure anzuwerben und sicherzustellen, dass der »von den Deutschen in Gang gebrachte Massenmord fortan lediglich unter deutscher Anleitung reibungslos weiter realisiert werden konnte«, wie die Autoren ausführen.

Die Beschreibung des autochthonen Antisemitismus nimmt viel Raum in dem Aufsatz der beiden Autoren ein. Chronologisch beschreiben sie die wachsenden Spannungen zwischen der arabischen und der jüdischen Bevölkerung seit Beginn der zwanziger Jahre, den Hass el-Husseinis auf Juden und die britische Mandatsverwaltung sowie seine zunehmende Begeisterung für die nationalsozialistische Politik.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob sich der arabische vom deutschen Antisemitismus unterschied und ob er ohne das nationalsozialistische Vorbild seine eliminatorischen Absichten in gleicher Weise entfaltet hätte. Darauf gehen die Autoren jedoch ebenso wenig ein wie auf die Frage, welche Teile der Bevölkerung el-Hussei­ni, der sich gerne als »Führer von 400 Millionen Arabern« bezeichnete, tatsächlich repräsentierte. So wird nicht erwähnt, dass der Mufti wie kaum ein anderer Politiker umstritten war, insbesondere unter den traditionellen arabischen Eliten und dem Clan der Nashashibis, der sich für einen Dialog mit der jüdischen Bevölkerung aussprach.

»Man sieht, dass es damals eine gewisse Achse gab zwischen dem Dritten Reich, dem faschistischen Italien und Teilen der ara­bischen Welt«, sagte Mallmann dazu vage im ZDF. »Ich sage nicht, ›der arabischen Welt insgesamt‹, ich sage auch nicht ›der gesamten muslimischen Welt‹, aber Teilen. Und da gab es eine Schnittmenge von gemeinsamen Interessen.«

Vorerst nur angerissen wird die Entwicklung der deutsch-arabischen Verständigung, die stark durch den Kriegsverlauf beeinflusst wurde. Schließlich hatte Hitler noch in seinem Buch »Mein Kampf« den Arabern eine »rassische Minderwertigkeit« bescheinigt und sich ansonsten wenig für die Region interes­siert. Insbesondere der Krieg gegen die Sowjetunion und die damit verbundenen Pläne, über den Nahen Osten in den südlichen Kaukasus vorzustoßen, weckten die Ambitionen der Nazis. Im Herbst wollen die Autoren ein Buch zum Thema veröffentlichen.

Keine Zweifel können hinsichtlich der Überzeugung el-Husseinis aufkommen, dessen eliminatorischer Antisemitismus lange vor der israelischen Staatsgründung die arabische Nationalbewegung nachhaltig beeinflusst hat. Zur offiziellen Kontaktperson von el-Husseini in Berlin wurde Erwin Ettel ernannt, SS-Brigadeführer und Nahost-Experte im Auswärtigen Amt. »In dem Kampf Deutschlands gegen das Weltjudentum fühlten sich die Araber mit Deutschland auf das Engste verbunden«, fasste dieser seine Gespräche mit Husseini zusammen.

Dafür, dass diese deutsch-arabischen Träume nicht erfüllt wurden, sorgten letztlich nur die britischen Truppen, die Rommels Panzerarmee bei El Alamein im Herbst 1942 ein militärisches Desaster bereiteten. Rauffs Einsatzkommando wurde anschließend nach Tune­sien verlegt und im Frühjahr 1943, wenige Ta­ge vor der Kapitulation des Afrikakorps, zur »Partisanenbekämpfung« nach Italien verschickt.

Die Karrieren der Hauptprotagonisten des ge­planten Völkermords in Palästina endeten jedoch nicht mit der deutschen Niederlage. Rauff konnte nach dem Krieg aus US-amerikanischer Haft über Syrien nach Südamerika fliehen, wo er bis zu seinem Tod unbehelligt in Chi­le lebte. Nach dem Putsch von Pinochet soll er als Berater für die Militärjunta tätig gewesen sein.

Husseini initiierte die Aufstellung einer muslimisch-bosnischen Waffen-SS-Division und konnte nach dem Ende des Krieges nach Kairo fliehen. Spä­ter wurde er Finanzier der im Jahr 1959 gegründeten Fatah und setzte 1968 Jassir Arafat inoffiziell als seinen Nachfolger ein.

Eine erstaunliche Karriere gelang zudem seinem früheren Betreuer in Berlin, die Frank Bajohr in dem Aufsatz mit dem Titel »Erwin Ettel – vom SS-Brigadeführer zum außenpolitischen Redakteur der Zeit« beschreibt.

Ettel konnte nach dem Krieg einige Jahre untertauchen, um Anfang der fünfziger Jahre unter dem Namen Ernst Krüger als außenpolitischer Redakteur bei der Wochenzeitung Die Zeit angestellt zu werden – mit Hilfe von Kontakten im Auswärtigen Amt, wie Bajohr vermutet. Sechs Jahre lang schrieb Ettel unter falschem Namen für die Zeitung, insbesondere über den Nahen Osten und die USA. Seine Ansichten brauchte er dafür nicht zu ändern, wie der Überschrift eines Artikels von ihm zu entnehmen ist: »Unverträgliches Israel«.

Jürgen Matthäus, Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.): Deutsche, Juden, Völkermord. Der Holocaust als Geschichte und Gegenwart. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 2006, 340 Seiten. 59,90 Euro