Menschenfresser und Toilettenhumor

Das Comic-Magazin Elbschock bietet erstklassigen Schund. Das First-Class-Hochglanz-Magazin Vice zeigt kranken Shit. von andreas michalke

Er hat in den achtziger Jahren das legendäre Punk-Fanzine Hackfleisch herausgegeben, war Sänger der Bands Preußens Gloria und Morbid Outburst, Mitorganisator der Chaostage und Kanzlerkandidat der APPD. Das muss ich nicht vom Promozettel ablesen, das weiß ich so, denn Karl Nagel war in den achtziger Jahren eine Art Held für mich. Eigentlich hatte ich keine Idole, denn Heldenverehrung entspricht nicht gerade dem wahren Punk-Gedanken.

Karl Nagel war einer der schlauen Punker, der über die ganzen Sachen auch mal so insgesamt nachgedacht hat. Das Wichtigste war immer: In­dividualismus. Sei dein eigener Held. Und Karl Nagel hat darüber nicht nur gequatscht, er lief auch völlig verrückt herum und wechselte ständig sein Outfit. Zum Beispiel gab es den zweigeteilten Look: die eine Seite »normal«, die andere punkig gestylt, links Fassonschnitt, rechts Stachelfrisur. Das hat mich damals schon sehr inspiriert. Karl Nagel ist einer der wenigen sympathischen Irren in diesem Land. Einer von unseren Leuten. Einer von den Guten.

Inzwischen hat er ein neues Projekt ins Leben gerufen. Zusammen mit dem Hamburger Comic-Zeichner Wittek gründete er vor zwei Jahren das Studio und den Verlag Alligator Farm. Das Comic-Magazin Elbschock ist die erste Veröffentlichung dieses Verlages. Es geht laut Nagel darum, »liebevoll gemachten, erstklassigen Schund«, also Pulp, Superheldencomics, Spannung in der Tradition von EC und Warren, den klassischen amerikanischen Horror-Comicverlagen der fünfziger, sech­ziger und siebziger Jahre, zu veröffentlichen. In Abgrenzung zu den neuerdings vom Feuilleton favorisierten Kunst- und Avandgarde-Comics will Elbschock das erste Boulevard-Comicmagazin Deutschlands sein.

Diesem Anspruch wird das Heft dann tatsächlich auch gerecht. Alle Geschichten spielen in Ham­burg; aktuelle Themen und Geschichten des Boule­vards werden aufgegriffen. Im Gegensatz zu den üblichen Comic-Compilations, in denen verschiedene Autoren versammelt sind, ist bei Elbschock Karl Nagel der alleinige Autor. Die verschiedenen Geschichten werden von seinem zugespitzten Stil zusammengehalten. Sie handeln vom Terror während der Fußballweltmeisterschaft, dem Menschen­fresser von Rothenburgsort und von Gangsterkids in Mümmelmannsberg.

In der Story »Meine WM 2006« etwa geht es um einen Familienvater, der seinem Sohn zuliebe mit ihm die WM besucht und in einen Alptraum mit ­islamistischen Terroristen, Globalisierungsgegnern, Nazis, Hooligans und Chaos-Punks gerät. Wie man es von amerikanischen Genregeschichten des EC kennt, nimmt die Erzählung unaufhaltsam ihren katastrophischen Lauf.

Zeichnerisch wird solides Handwerk abgeliefert. Keine Experimente! Nagel schreibt alle Geschichten, den Rest erledigt das Zeichnerteam im hauseigenen Studio. Das Alligator Farm Studio ist nach dem Berliner Mosaik Studio der zweite Comic-Verlag in Deutschland, der dieses amerikanische Prinzip aufnimmt. Das ist bemerkenswert, vor allem wenn man die deutsche Comic-Geschichte berücksichtigt. In Deutschland sind Comic-Zeichner eigentlich immer individualis­tische Autodidakten gewesen, die vor allem den ­Autoren- und Kunst-Comic gepflegt haben. Dass nun eine Gruppe von Nachwuchszeichnern dazu gebracht werden konnte, nach dem amerikanischen Studio-Prinzip an einem Gemeinschafts­pro­jekt zu arbeiten, ist also eine besondere Leistung Nagels.

Während sich das Elbschock-Magazin als Independent-Produkt mit wenig Geld am Mainstream versucht, geht das Vice-Magazin in seiner neuesten Ausgabe den umgekehrten Weg und versucht mit dickem Budget Underground-Credibility zu bekommen. Das international operierende Lifestyle-Magazin versammelt in seiner »Comics Issue« alle, die in der Underground- und Independent-Comic-Szene krudes Zeug produzieren, also die Könige des Toilettenhumors: Robert Crumb, Gary Panter, Dennis Worden, Dave Cooper, Johnny Ryan, Peter Bagge und ihre Ziehkinder. Zum Beispiel Sophie Crumb. Ihr realistischer Comic über obdachlose Punks in Berkeley ist bester Underground, Richard Cowdrys »So, You want to be Artist?« bösartiger, deprimierender Realismus. Ansonsten do­minieren aber Funny-Zeichner wie Jordan Crane und Sam Henderson das Heft. Mit Raymond Pettibon und den Franzosen von Le Dernier Cri ist auch die Avantgarde-Fraktion vertreten. Vor allem die Beiträge von Gregory Jacobsen und Antoine Bernhart sind echt kranker Shit. Folter, Bondage, abgetrennte Gliedmaßen und herausquellende Eingeweide bilden einen krassen Gegensatz zu den ganzseitigen Anzeigen von Nokia, Adidas, Lacoste und Universal. Oder: Eigentlich ist da gar kein Gegensatz. Anzeigen von Nokia, Adidas, Lacoste und Universal sind genau so ein kranker Shit! Dafür ist das trendige Heftchen umsonst. Ich konnte es im Plattenladen um die Ecke erhalten. Aber nur auf Anfrage. Früher nannte man das »Bück­ware«. Jetzt wüsste ich nur noch gerne, ob diese Vertriebsform aus Jugendschutzgründen gewählt wurde oder bloß ein wich­tigtuerischer Marketingtrick ist.

Elbschock Nummer 1 erscheint bei Alligator Farm, hat 66 Seiten und kostet 4,95 Euro.Vice – The Comics Issue ist in einigen Plattenläden erhältlich.