Vichy liegt in Frankreich

Erstmals hat ein französisches Gericht den Staat und ein Staatsunternehmen zur Zahlung einer Entschädigung wegen der Beteiligung an Deportationen im Zweiten Weltkrieg verurteilt. von bernhard schmid, paris

Eine »historische Entscheidung« nennt Alain Lipietz, Abgeordneter der französischen Grünen im Europaparlament, das Urteil, das am Dienstag der vergangenen Woche vom Verwaltungs­gericht Toulouse gefällt wurde. Zum ersten Mal verurteilte ein Gericht den französischen Staat, aber auch ein Staatsunternehmen, und zwar die Eisenbahngesellschaft SNCF, weil sie in der ersten Hälfte der vierziger Jahre Personentransporte zu Zwecken der Deportation durchgeführt haben. Deportiert wurden Juden, Sinti und Roma und Homosexuelle.

Konkret ging es um den Transport des Vaters, der Großeltern väterlicherseits und des Halbbruders von Alain Lipietz im Mai 1944 in das Lager von Drancy nahe Paris. Drancy diente als Durchgangslager, seine Insassen wurden in die von Deutschland betrie­benen Konzentrations- und Vernichtungslager gebracht. Die vier Gefangenen verbrachten dort drei Monate, doch das Vorrücken der alliierten Truppen und der französischen Résistance verhinderte in letzter Minu­te ihren Abtransport in die deutschen Todeslager. Am 17. August 1944 kamen sie frei.

Georges Lipietz hat sein Leben lang dafür gekämpft, dass die Mitverantwortung französischer Behörden bei der Durchführung der nationalsozialistischen »End­lö­sung« anerkannt wird. Er starb im Jahr 2003, doch sein Sohn Alain und seine Toch­ter Hélène, die für die Grünen im Pariser Regionalparlament sitzt, führten den juris­tischen Kampf fort. Das Gericht in Toulouse hat den Staat und die SNCF nun da­zu verurteilt, für jedes deportierte Familienmitglied 15 000 Euro Schadensersatz zu zahlen. Die 60 000 Euro müssen zu zwei Dritteln vom Staat und zu einem Drittel von der SNCF aufgebracht werden, hinzu kommt die Übernahme der Gerichtskosten der Kläger.

Verurteilt wurden der französische Staat und die SNCF wegen Freiheitsberaubung und menschenunwürdiger Unterbringung. Nicht übernommen hat das Gericht dagegen den von den Klägern vorgetragenen Vorwurf der Beihilfe zum Völkermord. Denn es sei nicht erwiesen, dass auf französischer Seite die volle Wahrheit über das deutsche Völkermordprogramm bekannt gewesen sei.

Der Rechtsanwalt der SNCF, Yves Baudelot, berief sich darauf, dass die Vorwürfe verjährt seien. Zudem habe die Eisenbahngesellschaft damals unter dem Zwang ihrer Dienstverpflichtung durch die deutsche Besatzungsmacht gehandelt. Das Argument der Verjährung wurde verworfen, weil die Kläger erst aufgrund jüngerer Entwicklungen davon Kennt­nis gehabt hätten, dass sie vor Gericht um die Anerkennung der französischen Mitverantwortung für die Deportation streiten konnten.

Im Jahr 2001 verurteilte das oberste Verwaltungs­gericht den französischen Staat dazu, die Hälfte der 720 000 Euro zu übernehmen, zu deren Zahlung der französische Nazikollaborateur, spätere Polizeifunktionär und Minister Maurice Papon 1998 verurteilt worden war. Das Geld sollte an Opfer von Deportationen gehen. Erst seit diesem Urteil kann eine Mitverantwortung des französischen Staates als »juristisch festgestellt« gelten.

Bis Mitte der neunziger Jahre besagte die offizielle Staatsdoktrin, dass es keine Kontinuität vom Vichy-Regime zur französischen Republik gebe. Diese trage daher auch keine Verantwortung. Erstmals hatte sich Staatspräsident ­Jacques Chirac im Juli 1995 zu einer Mitschuld französischer Staatsorgane an den Razzien der Miliz und der Gendamerie gegen Juden und zu einer »untilgbaren Schuld« der Republik bekannt.

Nach dem jüngsten Urteil können noch bis Ende dieses Jahres Entschädigungsansprüche geltend gemacht werden. Die SNCF ihrerseits hat angekündigt, Berufung gegen das Urteil von Toulouse einzulegen.