Vorbild Islam

Konservative Wertedebatte von richard herzinger

Mit dem christlichen Familienethos ist es nicht mehr so weit her. Auch der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff von der CDU gehört neuerdings zum immer größer werdenden Kreis geschiedener Spitzenpolitiker – wie seine Parteivorsitzende Angela Merkel, die dazu noch kinderlos ist. Friedbert Pflüger, der Spitzenkandidat der CDU in Berlin, noch nicht geschieden, hat mit seiner neuen, jüngeren Lebensgefährtin bereits ein Kind. Ole von Beust (CDU), der Hamburger Oberbürgermeister, bekennt sich zu seiner Homosexualität.

Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Deutsch­lands konservative Politikerinnen und Politiker tun etwas für die Ausbreitung der Patchworkfamilie. Auch sie sind längst im wahren Leben angekommen, jenseits ritueller Bekenntnisse zur angeblich wertestiftenden Kraft der Familie. Die Vielfalt ihrer Privatverhältnisse spiegelt die Lebenswirklichkeit der Gesellschaft wider. Die Bürger halten sich nicht mehr an vorgefertigte Leitbilder, sondern wählen ihre Bindungen und die Form, in der sie organisiert werden, selbst.

Geht deshalb etwa das Abendland unter? Folgt man den jüngsten Debatten in deutschen Medien, müsste man es fast glauben. Die Propheten des Niedergangs geben in der deutschen Publizistik derzeit den Ton an. Lustvoll malen sie das Schreck- und Zerrbild einer Gesellschaft von bindungslosen Autisten und Egomanen an die Wand. Mit einer Mischung aus Furcht und Faszination verweisen sie dabei auf die islamische Welt und muslimische Migrantenfamilien, die – so der Schriftsteller Botho Strauß – in einer parallelen »Vorbereitungsgesellschaft« bereitstünden, um demnächst den maroden westlichen Laden zu übernehmen. Dort scheint alles im Übermaß vorhanden, was der kulturkonservative Nostalgiker in unserer aufgeklärten Gesellschaft vermisst: Die Großfamilien halten zusammen wie Pech und Schwefel, und sie produzieren jede Menge Kinder.

Ein seltsam paradoxes Denkkonstrukt: Inspiration für eine Wiederbelebung des angeblich eigenen, »abendländischen« Wertesystems sucht man ausgerechnet in einer Kultur, deren Werte man mit der eigenen für unvereinbar hält und von deren Vordringen man sich deshalb bedroht fühlt. Um einen kulturell-religiösen Schutzwall gegen die Ausbreitung eines angeblich monolithischen Islam zu bilden, sollen wir uns selbst wieder in eine monolithische Kultur verwandeln. Als hätte der Westen seinen Vorsprung auf wirtschaft­lichem, technologischem und sozialem Gebiet nicht gerade dadurch erzielt, dass er den Mythos von der geschlossenen kulturellen Gemeinschaft aufbrach!

Nicht die westlichen, sondern die islamisch geprägten Gesellschaften befinden sich in einer tiefen, explosiven Wertekrise. Sie resultiert aus der enormen Schwierigkeit dieser Gesellschaften, Anschluss an die Dynamik der Moderne zu finden. Islamistische Erweckungs­bewegungen stellen einen voluntaristischen Versuch dar, das Problem durch den Sprung in eine imaginäre »authentische« Tradition zu lösen. Dass es die nicht gibt, zeigt sich gerade in den Familien. Ehrenmorde und Zwangsverheiratungen zeugen nicht von einer ungebrochenen Kraft islamischer Tradition, sondern vom genauen Gegenteil.

Der islamische Fundamentalismus ist gefähr­lich und gerade deshalb ernst zu nehmen, weil er sich der Zukunft militant verweigert. Ihn jedoch dadurch besiegen und die eigene Zukunftsfähigkeit sichern zu wollen, dass man seinen Mythos von der intakten islamischen Weltgemeinschaft für bare Münze nimmt und am Ende noch »christlich« kopiert, ist schlichtweg absurd.

Richard Herzinger ist politischer Redakteur der Welt am Sonntag.