Scotland Yard greift daneben

Bei einem missglückten Antiterroreinsatz in London wurden zwei unschuldige Menschen festgenommen. Die britische Polizei verliert immer mehr an Glaubwürdigkeit. von fabian frenzel, sheffield

Zwei Wochen vor dem ersten Jahrestag der Bombenanschläge vom 7. Juli werden die britischen Behörden, allen voran die Londoner Polizei Scotland Yard und ihr Leiter Ian Blair, in der Öffentlichkeit scharf kritisiert. Anfang Juni 2006 haben Beamte in einem Antiterroreinsatz ein Wohnhaus in Forest Gate im Osten Londons gestürmt und dabei auf einen der Hausbewohner geschossen. Der verletzte Mann wurde im Zuge des Einsatzes zusammen mit seinem Bruder festgenommen, weil die Polizei eine chemische Bombenfabrik in dem Haus vermutete. Während die Familie der Festgenommenen deren Unschuld beteuerte und die Polizei wegen ihres brutalen Vorgehens kritisierte, erklärte Scotland Yard, man habe versucht, einen unmittelbar bevorstehenden Terroranschlag zu vereiteln. In der vergangenen Woche wur­den die Brüder dann ohne Anklage entlassen, und die Polizei entschuldigte sich bei der Familie und den Nachbarn für die »Schmerzen«, die die Operation ausgelöst habe.

Die Brüder, die beide streng gläubige Mus­lime sind, warfen auf einer Pressekonferenz nach ihrer Entlassung den Polizisten vor, sich bei dem Einsatz nicht als Beamte identifiziert zu haben. Die beiden seien auch nach der Festnahme von Polizisten misshandelt worden. Der einzige Grund für ihre Verhaftung seien ihr pakistanischer Hintergrund und ihre langen Bärte gewesen, sagte einer von ihnen.

Die Polizei wies dies in ihrer Entschuldigung zurück. Sie verteidigte den Einsatz von Schusswaffen unter Hinweis auf die Antiterroreinsätze in Manchester und in Madrid, bei denen ­Polizisten ums Leben gekommen waren.

Das Vorgehen war durch die Information eines Spitzels der Polizei ausgelöst worden. Noch vor der Razzia hatten allerdings Beamte von Scotland Yard die Zuverlässigkeit des Hinweises gegenüber der Polizeiführung angezweifelt. Dort hieß es aber, man könne im Falle einer potenziellen Bedrohung von tausenden Menschen nicht zögern, sondern müsse unverzüglich einschreiten.

Der Anwalt der Familie hat eine Klage gegen die Londoner Polizei und ihren Leiter Ian Blair angekündigt. Problematisch ist für die Sicherheitskräfte auch die politische Reaktion auf die Festnahmen. Der Einsatz in Forest Gate hat vor allem unter Muslimen für Empörung gesorgt. Verschiedene mus­limische Gruppen und die im Osten Londons besonders starke Partei Respect, die vom Labour-Dissidenten und Unterhausabgeordneten George Galloway gegründet wurde, haben zu Protesten aufgerufen. Auf mehreren Demonstrationen haben sie ihre Solida­rität mit den Opfern des ihrer Meinung nach »rassistischen« Polizeieinsatzes zum Ausdruck gebracht.

Einzelne Mitglieder von Respect forderten Muslime dazu auf, die Zusammenarbeit mit der Polizei abzulehnen, was allerdings von Gal­lo­way später bestritten wurde. Der Einsatz in Forest Gate ist der jüngste in einer Serie von Aktionen der britischen Polizei gegen Muslime im Zusammenhang mit Terrorismusvorwürfen. Scotland Yard versucht, die Schäden zu begren­zen, und hat angekündigt, die Zusammenarbeit mit den muslimischen Gruppen verbessern zu wollen. Es wird derzeit sogar erwogen, Vertreter der muslimischen Gemeinden in die Planung anstehender Antiterroreinsätze einzubeziehen.

In den vergangenen Wochen gab es auch im Fall des vor einem Jahr erschossenen Brasilianers Jean Charles de Menezes neue Entwicklun­gen. Menezes wurde im vergangenen Sommer in der Londoner U-Bahn auf der Station Stockwell von Polizisten erschossen. Die Beamten hielten ihn für einen Selbstmord­atten­täter, doch er war das Opfer einer Verwechslung. Es gilt inzwischen als sicher, dass keiner der Beamten des Spezialkommandos mit recht­lichen Konsequenzen rechnen muss. Nach einem ersten Bericht der unabhängigen Kommission für Beschwerden gegen die Polizei (IPCC) handelten die Polizisten im Rahmen ihres Wissens korrekt. Die Staatsanwaltschaft erklärte allerdings Anfang des Monats, dass sie erwäge, Anklage gegen den Polizeichef Ian Blair und zwei weitere hochrangige Po­lizisten zu erheben, da sie verantwortlich für das Vorgehen der Polizei in der U-Bahn-Station gewesen seien.

Vertreter der Familie von Menezes verlangen auch eine genaue Analyse der Umstände des Einsatzes und kritisieren, dass sich das Verfahren so lange hinzieht. Ein zweiter Bericht der IPCC ist bisher noch nicht veröffentlicht worden. Darin werden die Umstände behandelt, die zu dem Einsatz führten, und das Verhalten der Polizeiführung nach dem Einsatz gegen Menezes. Im Wirbel um das Vorgehen in Forest Gate sickerten in der vergangenen Woche allerdings Teile seines Inhaltes an die Öffentlichkeit durch. Demzufolge scheint der Bericht eine direkte Verantwortung Ian Blairs für die versuchte Vertuschung von Fehlern der Polizei zu unterstellen.

Offenbar wurden nach dem Einsatz Videoauf­nah­men von Überwachungskameras gelöscht, die die Aktion gefilmt hatten. Blair soll auch dafür verantwortlich sein, dass Mitarbeiter der IPCC zunächst nicht zum Tatort durchgelassen wurden, obwohl dies nach einem Schusswaffengebrauch vorgeschrie­ben ist. Besonders dubios ist die Stellungnahme Blairs, wonach die Londoner Polizei nach dem Einsatz für mindestens 24 Stunden fest davon überzeugt gewesen sei, einen Terroristen getötet zu haben.

Später sagte die Polizei tagelang offiziell nichts über die Umstände des Einsatzes. Stattdessen drang eine Reihe von Fehlinformationen an die Öffentlichkeit. So hieß es, Menezes habe keinen legalen Aufenthaltsstatus gehabt, er sei über die Absperrungen der U-Bahn gesprungen und habe sich also »verdächtig« verhalten. Es dauerte zwei Wochen, bis ein Fernsehbericht des Senders ITV mit Hilfe von internen Informationen aus der IPCC klar stell­te, dass diese Unterstellungen falsch waren. Die Reaktion der Polizei war, den verantwortlichen Journalisten Neil Garrett und seine Informanten in der IPCC mehrfach in Gewahrsam zu nehmen und zu verhören. Erst im Mai wurde das Verfahren gegen den Journalisten eingestellt.

Ob jemand für den Tod von de Menezes zur Verantwortung gezogen wird, bleibt indes offen. Der wachsende Druck auf Ian Blair hat zu Solidaritätsnoten des Premierministers Tony Blair und des Lon­doner Bürgermeisters Ken Livingstone geführt. Ian Blairs Stelle sei »im Augenblick völlig sicher«, sagte der für die Polizei zuständige Staatssekretär Tony McNulty. Der zweite Report der IPCC zum Tod von Menezes soll Ende des Monats erscheinen.