Vielvölkergefängnis EU

Ist die EU-Verfassung noch zu retten? Auf dem Gipfel in Brüssel setzte sich die EU eine Frist dafür. In den meisten Ländern wird derweil intensiv über Patriotismus und Vaterlandsliebe debattiert. von anton landgraf

Europa ist weit entfernt, als der neue polnische Bildungsminister Roman Giertych in Warschau sein Programm vorstellt. Eloquent erläuterte der stellvertretende Ministerpräsident von der national­katho­lischen Liga der Polnischen Familien Anfang Juni, wie er eine »neue Generation von Patrioten« fördern will: Um die Werte der Nation zu verteidigen, soll »Patriotismus« künftig als eigenständiges Fach an den Schulen unterrichtet werden.

Europa ist in schlechter Verfassung, denn nicht nur in Polen zählt derzeit die europäische Integration wenig, die heimische Scholle dagegen viel. Seit sich die Franzosen und die Niederländer in den Referenden des vergangenen Jahres gegen den Verfassungsvertrag der EU ausgesprochen hatten, debattierten die EU-Staaten mehr über Patriotismus als über die gemeinsame Verfassung. Da soll sich jetzt ändern.

Auf dem EU-Gipfel in Brüssel einigten sich die Regierungschefs der Mitgliedsländer darauf, dass bis in das Jahr 2008 eine Entscheidung über die EU-Verfassung getroffen werden solle. Sie reagierten damit auf die fast schon als antieuropäisch zu bezeichnende Stimmung in den meisten Ländern der Union.

In Tschechien etwa sagte der Sieger der jüngsten Parlamentswahlen, Mirek Topolanek von der konservativen Demokratischen Bürgerpartei, dass der geplante Verfassungsvertrag »ein Haufen Mist« sei. Der Beitritt zur Union habe dem Land bislang vor allem Nachteile gebracht, eine weitere Integration sei mit ihm nicht zu machen.

Auch in Großbritannien wurde nach den Anschlä­gen in London im vergangenen Sommer über »Britishness« gesprochen, über einen Begriff, der vom Schatzkanzler Gordon Brown lanciert wurde, um die Labour Party als Vorkämpferin eines neuen britischen Patriotismus zu profilieren. Bildungs­minister Bill Rammell hat das Thema dankbar aufgegriffen und daraus den originellen Schluss ge­zogen, dass Freiheits­liebe und Demokratie genuin britische Errungenschaften seien.

In Deutschland wehen die schwarz-rot-goldenen Fahnen anlässlich der WM nicht nur in Fenstern und auf Autos, sondern auch in den Feuilletons. So hat Matthias Matussek, der Kulturchef des Spiegel, in seinem neuen Buch »Wir Deutschen« die Heimat­liebe entdeckt und verkündet sie seitdem allen, die es nicht hören wollen. (Siehe Seite 21) In seinem Werk »Wirtschafts­faktor Patriotismus« kürt Henrik Müller, ein Redakteur beim Manager Magazin, die »Vaterlandsliebe in Zeiten der Globalisierung« gar zu einem entscheidenden ökonomischen Faktor, der Fortschritt und Wachstum mit sich bringen soll.

Tatsächlich handeln mittlerweile viele europäische Regierungen nach den Vorstellungen eines »ökonomischen Patriotismus«. In Spanien darf der deutsche Energiekonzern Eon nicht mit der Endesa fusionieren, in Polen bekommt die ita­lienische Bank Unicredit keinen Zugang zum Markt. In Frankreich verabschiedete die Nationalversammlung vor zwei Wochen ein Gesetz gegen feindliche Über­nahmen. Demnach können französische Unternehmen zusätzliche Aktien zu güns­tigen Konditionen ausgeben, wenn der Kauf durch einen ausländischen Bieter droht.

Die Konkurrenz unter den einzelnen Mitgliedsstaaten nimmt wieder zu – und damit wächst auch das Misstrauen gegen­über einer weiteren Integration. In dem Maße, wie überstaatliche Institu­tionen einflussreicher werden, wächst der Wunsch nach »nationaler Identität« und ökonomischer Souveränität. Aus Angst vor der wirtschaftlichen Libera­lisierung und der damit einhergehenden Verlagerung von Arbeits­plätzen in andere europäische Länder begrüßen es viele, wenn Regierungen die jeweiligen nationalen Unternehmen vor feindlichen, weil ausländischen, Übernahmen schützen – als ob französische Unternehmen keine französischen Arbeiter entlassen würden.

Hinzu kommt die Sorge, dass ein einheitlicher europäischer Arbeitsmarkt die Sozialstandards dauerhaft senken könnte. Umgekehrt folgt daraus auch der implizite Wunsch, die polnischen oder türkischen »Fremdarbeiter« mögen doch bleiben, wo sie sind.

Und nicht zuletzt klammern sich die ökonomischen Verlierer der EU-Integration in der Agrarwirtschaft, der Schwerindustrie und im Bergbau an die vermeintlich traditionellen »Werte der Nation«, die doch so lange Sicherheit und Schutz versprachen. Kein Wunder, dass man in diesem Milieu besonders schlecht auf Europa und seine Verfassung zu sprechen ist.

Bekanntestes Beispiel dafür ist der Anführer der polnischen Bauernvereinigung Samoobrona, Andrzej Lepper, der aus Protest gegen die EU Grenz­übergänge blockier­te, Geflügel­farmen stürmte und sich zusammen mit seinen Anhängern Straßenschlachten mit der Polizei lieferte. Die korrupten Eliten hätten die polnischen Reich­tümer an das europäische Ausland verschachert und mit ihren neo­liberalen Reformen in den neunziger Jahren die Kleinbauern massenhaft in die Armut getrieben, lautet seine Kritik. Vollstrecker dieser neuen Ordnung seien die EU-Bürokraten in Brüssel, die zudem auch noch Sittenverfall und westliche Dekadenz exportierten. Diese Pro­paganda, gepaart mit gewalttätigen Aktionen, hat Lepper zwar schon einmal in Gefängnis gebracht, seine Partei jedoch führte er damit kürzlich in die Regierung. Dort findet er mit dem polnischen Präsidenten Lech Kaczynski einen Partner, dem ebenfalls ein patriarchalischer Obrigkeitsstaat als Alternative zum angeblich unsozialen und gottlosen Europa vorschwebt.

Dass angesichts dieser patriotischen Gefühle die Chance für den Verfassungsvertrag sinken, hat auch die deutsche Bun­des­kanzlerin Angela Merkel erkannt. Auf einem Treffen mit dem französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac Anfang Juni flüchtete sie sich in widersprüch­liche Ankündigungen. Die Lage sei nach dem Scheitern der Verfassung kompliziert, orakelte sie. Während Merkel die derzeitige Vertragslage als unzureichend bezeichnete, gab sich Chirac ungewöhnlich bescheiden. »Wie kann die Funk­tions­weise der europäischen Institutionen im Rahmen der bestehenden Verträge verbessert werden?« lautete seine vorsichtige Frage.

Auf dem EU-Gipfel in der vorigen Woche zeigte sich Merkel dann optimistisch. Unter der deut­schen Ratspräsidentsschaft, die im Januar 2007 beginnt, soll die Debatte noch einmal belebt werden. Bis Juni 2007 werde die Bundesregierung einen Bericht über den Stand der Diskussion und Vorschläge über das weitere Vorgehen vorlegen.

Nach diesen Beschlüssen herrschte Euphorie. Der italienische Ministerpräsident Romano Prodi etwa sagte: »Die Trauerphase ist heute zu Ende.« Der österreichische Bundeskanzler und Ratspräsident Wolfgang Schüssel meinte: »›Adieu Tristesse‹ sollte das Motto jetzt sein.«

Bislang haben erst 15 Mitgliedsstaaten die Verfassung ratifiziert, darunter kürzlich Estland und Finnland. In mehreren Ländern stehen noch Abstimmungen aus, wie etwa in Polen, Dänemark und Großbritannien. In Frank­reich und den Niederlanden legen die Verfassungsgegner in den Umfragen weiter zu. Es ist also gut möglich, dass die Euphorie doch wieder im schwermütigen Grübeln über Europa endet.