20 Millionen Redakteure gesucht

Die offene Netzzeitung Readers Edition erprobt das Konzept des »Citizen Journalism«. von stefan kindler

Ehemaliges Teenager-Idol Zimbl gestorben«, so lautet der Titel des Aufmachers im neuen Nachrichtenportal Readers Edition am Mittwoch der vergangenen Woche. Im nüchternen Agenturstil berichtet Florian Surek, der sich auf seiner Autorenseite als Student des Online-Journalismus im zweiten Semester vorstellt, über Leben und Leiden des Mitte der neunziger Jahre zu etwas Ruhm gelangten Sängers der Bates, der in der Woche zuvor gestorben ist.

Darunter steht die Vorschau auf einen Artikel über das Fußballspiel Brasilien gegen Ghana. Im Artikel erfährt man in drei Sätzen, dass Brasilien überzeugend gewonnen hat und die Zuschauer »ein stimmungsvolles Fest mit Samba-Klängen« gefeiert haben. Leider haben sich zwei Recherchefehler in den Text eingeschlichen, wie im ersten Kommentar zu dem Artikel zu lesen ist. Kein Problem. Kurze Zeit später sind die Fehler bereinigt: »Text und Überschrift wurden auf Wunsch der Autorin korrigiert«, meldet kurz darauf ein Moderator von Readers Edition.

»Ungefähr 250 Artikel sind bis jetzt erschienen«, sagt Solveig Grothe, die Leiterin des Projekts, das seit dem 9. Juli als Beta-Version online ist. Readers Edition ist ein Projekt der Net­zeitung, einer nur im Internet verfügbaren Tageszeitung. Das Besondere daran ist: Die Texte stammen ausschließlich von Internet-Nutzern. Dafür gibt es kein Geld, aber das Versprechen, veröffentlicht zu werden, wenn sich der Autor an die formalen Regeln von Readers Edition hält.

Der Pressekodex muss eingehalten werden, außerdem sollte der Text ein journalistisches Format haben, wobei nicht alle Beiträge diesen Anspruch erfüllen können. Eine Redaktion im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Die Bearbeitung der Texte übernehmen Moderatoren, die aus dem Kreis der Autoren kommen sollen. »Unsere Moderatoren arbeiten ehrenamtlich. Sie korrigieren, prüfen die Fakten, setzen Links, suchen Bilder aus und beraten die Autoren zum Beispiel bei Recherchefragen«, meint Solveig Grothe. Damit enden aber auch schon die Aufgaben der Moderatoren.

Bei der Auswahl der Themen haben die Autoren völlige Freiheit. Sie sollen den Inhalt von Readers Edition bestimmen. So findet sich unter den Rubriken Politik, Lokales, Sport, Web & Technik, Wirtschaft und Vermischtes ein chaotisches Nebeneinander unterschiedlicher Themen. Ein nicht sonderlich pointierter, aber im bedeutungsschweren Tonfall des Experten gehaltener Kommentar zur Gesundheitsreform findet sich ebenso wie ein sehr lesenswerter Essay über die virtuelle Ökonomie in Online-Rollenspielen und ein mit Amateurfotos bebilderter Aufsatz über Fan-Patriotismus im Saarland.

Hinter dem Projekt steht eine Idee, über die seit einiger Zeit unter Netzaktivisten diskutiert wird: »Citizen Journalism« oder ganz einfach »Bürgerjournalismus«. Neu ist diese Idee nicht. Allerdings wurden die meisten Stadtteilzeitungen, Bürgerradios und offenen Fernsehkanäle von einer größeren Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Anders sieht dies in Ländern aus, in denen weder Pressefreiheit noch Medienvielfalt existieren. Wie stark Bürgerjournalismus dort Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen kann, zeigt das bereits im Jahr 2000 gegründete süd­koreanische Nachrichtenportal Ohmynews. Während Readers Edition noch mit dem Slogan »20 Millionen Redakteure gesucht« um neue Autoren wirbt, beteiligen sich bei Ohmynews bereits über 40 000 Bürgerjournalisten. Und deren Engagement blieb nicht wirkungslos: Als der südkoreanische Präsidentschaftskandidat und Menschenrechtsanwalt Roh Moo-hyun 2002 die Wahl gewann, gab er sein erstes Interview der Online-Zeitung. Er bedankte sich damit dafür, dass Ohmynews seine Kandidatur tatkräftig unterstützt hatte. Der politische Einfluss, den der Bürgerjournalismus in Südkorea entfalten konnte, war kein Zufall. Ohmynews ist zwar ein kommerzielles Unternehmen, wurde aber explizit mit der Zielsetzung gegründet, die korrupten und autoritären Strukturen des Landes zu bekämpfen und einen Gegenpart zu den meist konservativen Medien zu bilden.

Eine politische Motivation, wie sie zum Beispiel das linke Internetportal Indymedia hat, existiert bei Readers Edition nicht. Es ist vielmehr der Wunsch, die Leser stärker an sich zu binden, der die Netzeitung dazu bewegte, das Experiment mit dem Bürgerjournalismus zu wagen: »Es ist für die Netzeitung immer schon interessant gewesen, mit den Lesern im engen Kontakt zu stehen. Klassisch geschah das durch Leserbriefe. Wir denken, dass die Leser aber auch Geschichten zu berichten haben, die andere Leser interessieren«, meint Solveig Grothe.

Ob sich die etablierten Medien dem Bürgerjournalismus öffnen oder nicht – er findet im Internet längst statt. Die Produktion und Verbreitung von Wissen und Ideen liegt nicht mehr alleine in der Hand von Medienunternehmen. Es gibt immer mehr und technisch immer bessere Möglichkeiten für Nutzer des Internets, Inhalte online zu stellen. Gleichzeitig sorgt eine immer ausgefeiltere soziale Software dafür, dass die publizierten Inhalte organisiert, vernetzt und in Kontexte gestellt werden. Das Online-Lexikon Wikipedia hat es dadurch geschafft, ungeahnte Mengen von Informationen in kurzer Zeit zur Verfügung zu stellen und sinnvoll zu organisieren.

Auch der Erfolg von Weblogs lässt sich mit diesem Prinzip erklären: Das Aufregende an ihnen ist, dass sie vernetzt sind. Man kann nachvollziehen, wo welches Thema aufgegriffen, kommentiert und weiterentwickelt wird. So entstehen Ad-hoc-Communities, die es tatsächlich schaffen können, in den Medien nicht präsente Themen einer größeren Öffentlichkeit näher zu bringen.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass die etablierten Medien auf diese Entwicklung reagieren. Dass Redakteure und Journalisten durch Weblogs die Online-Angebote der Zeitungen ergänzen, ist längst keine Seltenheit mehr. Interessanter wird es für die Medienhäuser allerdings, wenn sie Angebote von Internetnutzern auf ihren eigenen Online-Seiten präsentieren können. Das dient nicht nur der Leserbindung, sondern ist auch eine Möglichkeit, an kostenlose Inhalte zu kommen.

Bereits seit 2003 bietet die Rheinische Post mit dem Online-Angebot »Opinio« ihren Lesern die Möglichkeit, sich als Autoren zu versuchen. Ausgewählte Texte werden wöchentlich auf einer Seite in der Zeitung veröffentlicht und einmal im Monat erscheint »Opinio, das Magazin« als Zeitungsbeilage, die ausschließlich aus Leserbeiträgen besteht. Wenn dabei auf der Internetseite der gedruckten Version angekündigt wird, zu welchen Themen man sich Beiträge wünscht, bleibt nicht mehr viel übrig vom partizipativen Journalismus.

Diesen Vorwurf kann man Readers Edition allerdings nicht machen. Die Plattform ist sowohl in ihrem Konzept als auch ihrem Auftritt sehr offen angelegt. Sie dockt an kein kulturelles Image an, gibt keine politische Attitüde vor und besetzt keine thematische Nische. Diese Offenheit ist gleichzeitig das Problem der Zeitung. Denn Citizen Journalism lebt von mehr als der technischen Infrastruktur. Dort, wo das Schreiben eines Artikels ein politischer Akt oder die Eintrittskarte in eine Community ist oder die Autoren hart an der Grenze zum Nerdtum entlangschrammen, ist »Citizen Journalism« am aufregendsten.