Mein Ich und die anderen Ichs

Hubert Fichtes »Die zweite Schuld« ist ein Buch über Subjektivität und eine verwirrende Reise durch die Kunstszene der sechziger Jahre. von tobias rapp

Der entscheidende Satz findet sich schon auf der zweiten Seite: »Ich bin für Ichs«, schreibt Hubert Fichte, und es liest sich, als hätte er diese Worte nicht nur seinem Buch »Die zweite Schuld« voranstellen wollen. Man könnte auch das ganze Werk Fichtes mit diesem Satz überschreiben. Von seinen frühen Erkundungen in der Hamburger Gammlerszene der sechziger Jahre und im Rotlichtmilieu von St. Pauli über die ethnologischen Studien in Afrika und im schwarzen Lateinamerika der Siebziger bis zu seinem Spätwerk »Die Geschichte der Empfindlichkeit« sind es Subjektivitäten, die Fichte interessieren. Sein Ich und das der Anderen. Diesen verschiedenen Ichs ist er mit einer Hartnäckigkeit gefolgt wie kaum ein anderer Schriftsteller seiner Generation.

Und Fichte selbst besaß ja auch eine Menge Ichs. Was einer der Gründe für die eigenartige Renaissance sein dürfte, die er seit drei, vier Jahren erlebt. Kann sich doch jeder seinen Fichte heraussuchen: Schorsch Kamerun ist für seine Theaterinszenierung der »Palette« beim Underground­ethnografen fündig geworden; Daniel Richter hat sich beim Aufspürer von Rauschzuständen zu seinem Gemälde »Eure Nacht braucht keinen Mond« inspirieren lassen; ­Ekkehard Ehlers hat für seine CD-Reihe »Plays« eine Hommage an Fichte eingespielt und ihn in seine Reihe der großen »Affektuellen« aufgenommen. Aber auch die Kuratoren der Hamburger Deichtorhallen haben ihren Fichte gefunden, den verlorenen Sohn der Stadt nämlich, den man im vergangenen Winter mit einer großen Ausstellung würdigte.

Schorsch Kamerun, Daniel Richter, die Deichtorhallen und nicht zu vergessen der nimmermüde Jan-Frederik Bandel, der zwei Bücher über Fichte veröffentlicht hat und fortwährend als Fichte-Vortragender über die Lande zieht: Das ist ziemlich viel Pop, politisch verstandener Bohemeismus und eine Menge Hamburg, könnte man meinen. Doch es gibt gute Gründe für diese Lesarten. Etwa den, dem Berlin-Hype der vergangenen Jahre eine andere Geschichte von Coolness entgegenzustellen. Genauso der Versuch, Popliteratur in einer Tradition zu verorten, die nicht auf Generationenromane hinausläuft. Doch aus der schieren Existenz von Bandels interessantem Buch über »Die Palette« lässt sich auch herauslesen, dass der Begeisterung recht enge Grenzen gesetzt sind: Fichtes Roman bedarf einiger Erklärungen. Es mag einmal anders gewesen sein, doch außer dem Umstand, dass hier hart getrunken wird, dass man sich hier in der Gammlerszene bewegt und dass die Pinte »Palette« heißt, versteht sich hier nichts mehr von selbst.

Das Erscheinen von »Die zweite Schuld« lädt dazu ein, den Blick auf ein paar andere Ichs Fichtes zu werfen. Was zugegebenermaßen weniger an dem Buch selbst liegt als an seiner Umgebung. Mit »Die zweite Schuld« ist nämlich der letzte Band der »Geschichte der Empfindlichkeit« erschienen, wegen des Schutzes einiger Persönlichkeitsrechte erst 20 Jahre nach Fichtes Tod. Und über dieses Werk sollte man sprechen, wenn man über Hubert Fichte spricht. Auch wenn es erst einmal abschreckt, handelt es sich doch schon ohne »Die zweite Schuld« um 16 Bände und dementsprechend viele Seiten. Teuer sind sie auch, und eine Taschenbuchausgabe gibt es nicht.

Man kann sich »Die Geschichte der Empfindlichkeit« als den Versuch vorstellen, all die Beschränkungen zu überwindenn, in denen sich Fichtes Schreiben bis dato abgespielt hatte: nicht mehr Romane von Reisereportagen zu trennen, Rundfunk­features von Interviews, Notizen, Tagebücher, Erinnerungen – all das soll ein Buch sein. Und zwar von Anfang an. In den späten Siebzigern beginnt Fichte mit der Arbeit an dem Projekt, für das er sein ganzes bisheriges Schaffen noch einmal durcharbeitet und umstellt, neu schreibt und erweitert. Von seiner Kindheit in Hamburg, wo er 1935 geboren wurde, über seine Jugend als Protegé und Versuchskaninchen des Schriftstellers und Orgelbauers Hans Henny Jahnn bis hin zur Entdeckung seiner Homosexualität und seiner Ehe mit der Fotografin Leonore Mau, über seine Reisen und seine Gespräche – es ist der Roman eines Lebens, der hier aufgefächert wird.

»Die zweite Schuld« setzt recht früh ein: 1963, Fichte ist mit einer Reihe anderer Nachwuchsautorinnen und -autoren im Literarischen Colloquium Berlin eingeladen, um dort zu schreiben, Vorträge von älteren Kollegen zu hören oder Werkstattgespräche zu führen. Der Gemeinschaftsroman »Das Gästehaus« ist ein Resultat dieses Treffens. Entstanden ist »Die zweite Schuld« aber in den Jahren 1978/79, nachdem Fichte seine alten Colloquiums-Kollegen noch einmal aufgesucht hatte, um sie in ausführlichen Interviews zu befragen, und im Jahr 1984, als er die Interviews in ihre endgültige Form bringt. Ganz fertig geworden ist er mit ihrer Bearbeitung nicht, zwei Interviews hat er nicht führen können, das Gespräch mit Walter Höllerer, damals Leiter des Literarischen Colloquiums, ist nicht vollständig redigiert. Weshalb es manchmal fast schon bewusstseinsstromartig wirkt, ohne dass man genau erkennen kann, wer denn da gerade spricht, was Frage, was Antwort und was Einwurf ist. Das Interview nimmt gut ein Drittel des Bandes ein.

Vor dem Hintergrund des in den vergangenen Wochen in den deutschen Feuilletons tobenden Streits, ob die richtige Literaturkritik sich besser auf die Leidenschaft oder den Begriff zu verlassen habe, ist es eine interessante Lektüre. Denn Fichte möchte etwas Drittes wissen: Ihn interessieren die Machtverhältnisse, die der Leidenschaft oder dem Begriff vorausgehen und sie konstituieren. Er will wissen, welche Schriftsteller sich durchsetzen und welche nicht, wie Hackordnungen funktionieren. Mit Autoren wie Joachim Neugröschel oder Elfriede Gerstl spricht er, auch um herauszufinden, was aus ihnen geworden ist und warum. Und ob es auch einen anderen Weg aus dem Gästehaus gegeben hätte.

Trotzdem lässt sich nicht bestreiten, dass »Die zweite Schuld« nur für sich genommen fast jede Leserin und jeden Leser in der Luft hängen lassen dürfte. Es geht um die nachträgliche Rekonstruktion einiger Wochen in einem Westberliner Gästehaus des Jahres 1963. Als Teil der Selbstbesichtigung, die Fichte am Ende seines Lebens unternimmt und die ihn im Nachhinein als einen modernen und wegweisenden Autor jener Zeit dastehen lässt, ist das Buch essenziell. Als ein solcher moderner Schriftsteller ist der Autor auch noch zu entdecken (eine Fichte-Ausgabe kann auch eine Investition in die Zukunft sein, liebe Studentinnen und Studenten der Literaturwissenschaft, da sind noch gut zwei Dutzend aufregender Doktorarbeitsthemen drin, bevor die Langweiler auf ihn stoßen!).

Da ist das ganze sexuelle Leben des Hubert Fichte. Er mag einer der ersten deutschen Schriftsteller gewesen sein, der offensiv und laut sein Schwulsein vertrat, und trotzdem lässt sich seine Sexualität, so wie er ihr in der »Geschichte der Empfindlichkeit« nachspürt, auf keine schwule Identität reduzieren. Er ist mit Leonore Mau verheiratet, lebt mit ihr, sie lieben sich, sie schlafen auch miteinander. Und ob es seine Gespräche mit Sadisten, Zuhältern, Strichjungen, Nutten oder Voodoopriestern sind, immer befragt er seine Gesprächspartner nach den Grauzonen sexueller Identität. Das ist queer, lange bevor es den Begriff gibt. Man schaue sich das berühmte Foto an, das Leonore Mau von Fichte gemacht hat, auf welchem er die Brustmaske einer Candomblé-Priesterin trägt.

Fichte ist einer der ersten westlichen Intellektuellen, der an einem Entwurf postkolonialen Schreibens und Denkens arbeitet. Und wenn man sich den deutschen Sprachraum anschaut, sind ihm nur wenige gefolgt. Tatsächlich bewegt er sich auf seinen Reisen in das schwarze Brasilien, die afro-karibischen Communities, die schwarzen Viertel New Yorks, die Länder Westafrikas oder die Hafengegenden europäischer Großstädte bewusst entlang jener Linien, für die der britische Theoretiker Paul Gilroy den Begriff des »Black Atlantic« geprägt hat. Die synkretistischen Religionen des Voodoo oder des Candomblé sind für ihn Pop; wenig verwunderlich, dass er schon vor Baudrillard über New Yorker Graffiti schreibt, 1978 nämlich.

»Ich bin für Ichs« – es sind immer Subjektivitäten, von denen aus Fichte diese Entdeckungen beschreibt. Seine, die von anderen. »Die zweite Schuld« öffnet hier weitere Facetten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Hubert Fichte: Die zweite Schuld. Fischer, Frankfurt / M. 2006, 368 S., 22,90 Euro