Voodoo in Schwarz-Rot-Gold

Je unbefangener, desto bedrohlicher: Der nationalistische Taumel bildet die Grundlage für die verschärfte kapitalistische Zurichtung der Gesellschaft. von rainer trampert

Die Deutschen können gewinnen, wenn sie nicht plötzlich Lampen­fieber bekommen«, sagte Johannes Heesters, der seine Pappenheimer kennt. Diese machten sich ungehemmt, bisweilen sogar ungeniert und ohne Lampenfieber auf den Weg »hinauf zu den Sternen, um die letzten Miesepetrigen zu bekehren«, wie es Reinhold Beckmann formulierte. Dabei plapperten sie immer wieder die Worte »unbefangen« und »unverkrampft« vor sich hin, als würden sie sich selbst nicht trauen.

Geeint wurden sie im »System Klinsmann«. Dazu gehören junge, hungrige Fußballspieler, die einen Kreis bilden, aus dem keine Energie entweichen darf. Mit rätselhaften Worten beschwören sie den Sieg wie Schamanen den Regen. Dann stimmen alle außer »Poldi« das Deutschlandlied an. Und danach rennen sie los wie noch nie, um »unserem Gegner den Spaß am Fußball zu nehmen« (Jogi Löw), aber auch, damit »die Welt wieder Angst vor uns hat« (Oliver Bierhoff).

Dazu gehört ein so genanntes Scoutingteam, das Dossiers über Gepflogenheiten der Gegner anfertigt, wenngleich »der Portugiese ohne so was drei Elfer hielt«, wie »Kaiser Franz« bemerkte. Nach der Schlacht hält der Magier Klinsmann selbst Audienz. Er spricht über Optimismus und Energie, wie bei der Führung durch ein Kraftwerk, löst auf diese Weise aber eine Magie aus, »die wo sonst nur vom Voodoo kommt«. Mittendrin lässt er sich mit Soldaten in Kabul verbinden und sagt: »Hey, Jungs! Haltet durch! Wir halten auch durch!« Er ist fast so lässig wie ein echter Amerikaner.

Er ist Führer und Manager, nationaler Aufbruch und Shareholder Value in einer Person. Deshalb will die Bild-Zeitung den »Heiler vom intellektuellen Negativismus« mit der größten Unterschriftenaktion aller Zeiten an Deutschland binden, jenen »Grinsi Klinsi«, den sie vor wenigen Wochen zum Teufel wünschte, weil er nicht nach Deutschland umziehen wollte. Jetzt soll er in Kalifornien wohnen bleiben, weil der Nationalismus einen kosmopolitischen Anstrich braucht.

Fußballerisch kann man mit Klinsmanns System Dritter werden. Rudi Völler war mit biederem Tagewerk und einer schlechteren Mannschaft Zweiter geworden. Aber die Bevölkerung merkt es nicht, weil sie sich in einen nationalen Rausch versetzte, in den sie zugleich versetzt wurde. Für die Deutschen war Fußball zum ersten Mal das, was er immer gewesen sein soll: eine Nebensache, die nun völlig hinter dem größten Aufmarsch deutscher Fahnen und Symbole seit den Parteitagen in Nürnberg zu verschwinden drohte.

Diese beschwingte Mischung aus einer deutsch gefärbten Loveparade und einem Schützenfest, deren Initiatoren die Dummen und die Schönen waren, löste eine Epidemie aus, die Deutschland der Bild-Zeitung zufolge in »eine No-Go-Area für alle Miesmacher« verwandelte. Die brutale Selektion in der Gesellschaft und die Regression des Bewusstseins, die befreiende Auswege versperrt, führten zur Verbrüderung unter der Fahne.

Der Werbetexter, dem aufgefallen war, dass er mit 500 Euro schlechter gestellt ist als der Hilfsarbeiter, umarmte den von ihm bisher verachteten »Proll«, woraufhin der johlte: »So sehen Sieger aus, tschallalallala!« Beide mochten nicht mehr das Nichts vor den scheinbar allmächtigen globalen Gewalten sein, sondern einmal zu den Siegern zählen. Dazu wollten junge Frauen, die als brauchbare Objekte in den Gesamtbetrieb integriert werden, die Fahnen selbst schwenken, zumal die »Poldis« wie eine Boygroup vermarktet wurden. Denn Medien­ma­cher hatten den deutschen Nationalismus über Nacht vom Image der Gartenzwerge und Glatzen gelöst, um ihn als jung, sexy und urban zu präsentieren.

Die Anhänger der neuen Nationalbewegung sehen anders aus als der Säufer in der Trainingshose. Sie geben sich eher wie Paris Hilton und Jenny Elvers-Elbertzhagen, die Leni Riefenstahl spielen möchte, oder auch wie Stefan Raab und Oliver Pocher. Ihre Sprache ist blödes Gebrüll, ihr Gelächter schal­lende Schadenfreude, und wo sie feiern, breiten sie sich so bräsig aus, dass Behinderte im Weg sind. Darin gleichen sie den »Glatzen«.

Schirmherr ist Horst Köhler, der die Wahl eines Deutschen zum Papst als göttliche »Absolution für die beiden Weltkriege« begreift. Die Herrschaft jubelt, denn wer sich der nationalen Fiktion verschreibt, ist reif für den Tausch: Vaterland für materielle Versorgung. In der Superillu hielten drei Arbeitslose die Deutschlandfahne in der Hand. Ihr Leitspruch war: »Lieber Erdbeeren pflücken, als sich drücken!« Daneben jammerte ein gewisser Enrico: »Zu viert auf 12 Quadratmetern zu hausen … Das Dach undicht und es schimmelte.«

Das Verhalten der Fans ist ein bedeutender Maßstab für die Selbstaufgabe des Menschen. Je wertloser das Individuum sich fühlt, desto mehr sucht es Anlehnung an den Erfolg eines ihm äußeren Objektes: der Firma, des Vereins oder der Nation. Dieser Schritt geht mit der eigenen Objektwerdung einher. Deshalb wird Nationalismus immer nur so »unbefangen« sein wie der Ententanz bei »Haxenwilli« auf Mallorca.

Je »unbefangener«, desto bedrohlicher wird die Lage für den, der nicht mitspielt. Alle sollen mitmachen, weil die Masse ihre Verblödung ahnt und sich von dem, der nicht mitmacht, beobachtet fühlt. Das löst einen schmerzhaften Reflex aus, der nur ruhig zu stellen ist, wenn der Abweichler mitmacht oder nicht mehr existiert. Abweichung vom Konsens, vom stumpfen, an den Sieg gekoppelten Frohsinn, wird als Sabotage oder Intrige empfunden. Nun sind 95 Prozent stolz auf Deutschland. Die Passanten im Hamburger Schanzenviertel klatschten Beifall, als achtjährige Mädchen aufmarschierten, als seien sie vom »Bund Deutscher Mädel«, und sangen: »Die Nation steht hinter euch!«

In diesem Klima plauderte ZDF-Reporter Thomas Wark während eines Spiels der italienischen Mannschaft so dahin: »Die Spaghetti werden an ihrem eigenen Spiel wenig Freude haben.« In der ZDF-Comedyshow »Nachgetreten« mit Ingolf Lück, Mike Krüger und anderen Dummköpfen kam ein Witzbold auf die Idee, man solle den schwarzen Spieler Gerald Asamoah »in Hoyerswerda aussetzen, damit er mal schneller laufen lernt«. Da haben sich viele zu Hause, auf so genannten Public-Viewing-Plätzen, in Laubenkolonien oder Redaktionsbüros vor Lachen auf die Schenkel geklopft, weil doch klar ist, dass er dabei mausetot enden könnte.

Sodann haben sie sich vielleicht gefragt, ob »Asamoah nicht ein passabler Ausdruck davon« sei, »dass die … deutsche Nation« endlich eine normale Republik sei, ob Anti­semitismus und Rassismus bei uns nicht nur »Stammtisch-Folklore« seien statt »Staatsideologie« und ob der »Nationalismus hierzulande uns« überhaupt »mehr beschäftigen muss als ein Nationalismus anderswo« (Jungle World 25/06).

Dies sind fürwahr unbekümmerte Fragen. Wen der Nationalismus vor der Haustür nicht mehr beschäftigt als der in der Schweiz, führt etwas im Schilde, auch dann, wenn er die Weltkriege, ­Au­schwitz und die Nazikarrieren in der Bundesrepublik außen vor lassen möchte. Das sollte man aber in einer Zeit nicht tun, in der Mordanschläge auf Vietnamesen und Schwarzafrikaner geschehen, national »befreite« Zonen wuchern und in dem Dorf Pretzien im Beisein des Bürgermeisters das Tagebuch der Anne Frank verbrannt wird. (Siehe Seite 10) Bei über hundert Toten und einigen tausend Verletzten seit der Wiedervereinigung empfehle ich dringend, den Rassismus nicht als »Folklore« zu beschönigen, zumal Sendeanstalten, die für halbamtliche Verlautbarungen und einen Bildungsauftrag stehen, den »Stammtisch« gerade von den Kneipen in die Sendungen holen.

Die Reife der Republik an der Prominenz zu messen, ist so eine Sache. Lukas Podols­ki verhindert nicht, dass Polen auf den Spar­gelfeldern nur von einigen Landwirten geschätzt sind und dass das dunkelhäutige Paar die Deutschlandfahne trotz Asamoah nur schwenkt, um mit heiler Haut davonzukommen. Die Liebe zu Ghanas Team entsprach der Liebe zum Verlierer, wie die Liebe zum letzten Elefanten oder zu sterben­den Kindern in Afrika, von denen man hofft, dass sie nicht durchkommen werden, weil man sie sonst zehn Jahre später vertreiben müsste. Ernste Kontrahenten wie Argentinien und Italien wurden von der ersten bis zur letzten Minute ausgepfiffen. Bei einigen türkischen Migranten liegt die Sache anders. Sie schienen die WM ohne nationale Identifikation nicht auszuhalten. Da hissten sie die Deutschlandfahne, obwohl sie den Halbmond meinten.

Wenn Roberto Blanco auf der Ehrentribüne sitzt, während in Kreuzberg Schwarze Kneipenverbot haben und in Berlin-Lich­ten­berg ein vietnamesischer Jugendlicher zusammengeschlagen wird, ist das nicht Ausdruck einer republikanischen Staats­veredelung! Und selbstverständlich ist der Rassismus auch Staatsideologie. Mit der Residenzpflicht und den von Deutschland finanzierten Flüchtlingslagern in Nordafrika oder in der Ukraine will der Staat ganz Deutschland zu einer No-Go-Area für stigmatisierte Gruppen machen. Die Nazihorden erledigen das konsequenter, wofür der Staat sich vor Gericht erkenntlich zeigt. Die Urteile sind oft Empfehlungen, sich vor dem Mord ein paar Schnäpse hinter die Binde zu kippen.

Mir ist eh schleierhaft, wie oft Deutschland noch Republik werden soll. Wenn das Bürgertum sich im Karneval Pappnasen aufsetzt und einen von Sozialversicherungen befreiten Markt empfiehlt, ist das typisch republikanisch. Der Vorschlag liefe aber darauf hinaus, die zivilen Gesellschaften durch die darwinistische Ordnung der Tierwelt zu ersetzen. Wegen dieser Dialektik sind im republikanischen Kapitalismus nicht nur Segnungen enthalten, sondern auch faschistische Triebe. Das bisschen Menschlichkeit kommt von sozialen Kämpfen, die einem sich grausam reproduzierenden System etwas Soziales abgerungen haben.

Einige Linksrepublikaner mag der Wunsch, der Westen solle es Afrika oder dem Iran mal so richtig besorgen, dazu antreiben, nun auch Deutschland, das dabei militärisch immer präsenter ist, schön zu reden. Wichtiger ist aber der Sog, den das übermächtige Fahnenmeer selbst auslöst. Schutzsuchende malten sich das Gesicht schnell schwarz-rot-gold an und gaben vor, ihre Kinder hätten sich das gewünscht. Kritische Geister fingen an, den Ausbruch des Wahns für ihren Seelenfrieden zu verharmlosen. Angeblich wurde nur gefeiert. Seit wann werden Partys geschmückt wie die Mannschaftsräume einer Kaserne am Nikolaustag?

Man rief die Republik aus oder wischte den Nationalis­mus beiseite, weil er im globalen Zeitalter nicht mehr vorkäme. Globale Geschäfte heben den Nationalismus nicht auf, sie sind ohne ihn gar nicht zu machen. Er ist das ideologische Fundament für die Senkung der Sozialkosten, für die stabile Zentrale, für die Bereitschaft der Soldaten und Dienste, Rohstoffe, Märkte und Verkehrswege zu sichern, oder für Stellvertreterkriege. Widerwärtig waren die Nationalopportunisten von Attac in Hamburg, die mitten im deutschen Fahnenmeer zum »Coca-Cola-Boykott« aufriefen. Mir war gar nicht bekannt, dass »deutsche Nationalspieler ihr Bild auf Coca-Cola-Dosen drucken lassen müssen«. Vielleicht hat man ihnen sogar Dollars aufgezwungen. Der arme Ballack!

Der Anpassungsdruck war übermächtig. Die hessische GEW zog ihre Broschüre zurück, die den Deutschlandkult kritisierte, nachdem beim Autor antisemitische Drohbriefe eingegangen waren und alle Parteien und Medien die GEW mit Vaterlandsliebe geschlagen hatten. Am Ende beteuerte der Vorsitzende auf Knien: »Wenn heute junge Fußballfans die Nationalhymne singen, tun sie das aus Lebensfreude.« Hans-Christian Ströbele hatte keine Fahne am Fahrrad. Da beschimpfte die Bild-Zeitung ihn als »Miesmacher« und Bürger forderten den »Vaterlandsverräter« auf, in die Türkei auszuwandern. Da erkannte er, dass die Fahnen »oft nur Ausdruck von Fun und Begeisterung« seien.

Steffen Freund, ehemaliger Nationalspieler und Experte beim Fernsehsender Phönix, wurde gefragt, wer wohl Deutschlands Gegner im Endspiel sein werde. Er wollte antworten, Italien käme ins Endspiel, wurde aber unterbrochen und ausgeblendet. So etwas wolle in Deutschland keiner hören, sagte der Moderator.

Wie es um die Partylaune bestellt war, führte uns Stefan Raab in seiner Sendung »WM-Total« vor. Nach dem 0:2 kauerte der Mensch gewordene Lachsack in eine Fahne gehüllt stumm auf der Bank wie Hermann Göring nach der Kapitulation in Stalingrad. Lähmendes Entsetzen herrschte im Saal. Sogar Raab geriet für kurze Zeit ins Stammeln: »Tja, welche Sendung erwarten Sie jetzt von mir? Traurig, eine der bittersten Sendungen. So eine Scheiße. Ich weiß jetzt nicht, wie ich Sie aufmuntern soll!« Doch dann brüllte er los: »Uns kotzt Italien an! Uns kotzt Italien an! … Alle mitmachen! Uns kotzt Italien an!«

Das Spektakel hatte nichts mit einer rechten Machtergreifung zu tun. Es war nur ein weiterer Schritt in die Rich­tung des Abgrunds. Die nationale Bindungskraft, nach der Zugehörige nicht ungestraft draußen sein und Nichtzugehörige sich nicht ungestraft einschlei­chen dürfen, hat zugenommen. Schon der Ruf, stolz auf Deutschland zu sein, und der Befehl »Steh’ auf, wenn du ein Deutscher bist!« warfen den Verhaltens­kodex der Nazis wie ein Netz über das Land. Wer sitzen blieb, musste eine andere Nationalität geltend machen, sonst hätte man ihn wegen »undeutschen Verhaltens« traktiert. Viele kamen nur deshalb mit heiler Haut davon, weil sie sich vorsorglich unterwarfen, verleugneten oder versteckten. Aus gutem Grund: Ein Berliner Busfahrer wurde krankenhausreif geschlagen, weil er nach der Niederlage nur angemerkt hatte: »Dann waren unsere wohl schlechter.«

Die Partymeute hatte Wehrkraftzersetzung vermutet und befürchtet, dass negative Schwingungen die Runen­götter aufscheuchen könnten. Der auf Sieg programmierte Wahn erlaubte nach der Niederlage nur die Heldenverehrung, die Dolchstoßlegende um Frings’ Sperre oder psychotische Zusammenbrüche. Felix Magath, der Trainer von Bayern München, erzählte: »Nach dem Tor bekam mein Sohn Raphael (5) einen Schreikrampf.« Das arme Kind hat wirklich Mitleid verdient, bei solchen Eltern.