Deutschland, einig Ballermann

Warum das Fußballfieber nichts mit Fußball, aber viel mit dem bekannten Phänomen der deutschen Massenhysterie zu hat. Eine WM-Nachbetrachtung von raicko eichkamp

Endlich ist es vorüber: Was am vorigen Mittwoch in Berlins Innenstadt noch an den deut­schen WM-Taumel erinnerte, der am Abend zuvor mit 16 Millionen public viewers seinen Höhe­punkt erreicht hatte, waren die leicht säuerliche Duftnote von Erbrochenem und leere Billigfuselflaschen in den Rabatten. Der Kater, der nun mit einem Schlag (besser gesagt: mit zwei Schlägen, denn Alessandro Del Piero hatte ja noch das 2:0 erzielt) die Nation überfallen hat, lässt einen spontan an zwei Dinge denken, die sozusagen als kollektive Blaupausen dienten für das, was die Me­dien in den vergangenen drei Wochen fälschlicher­weise als »Fussballfieber« bezeichneten: zum einen die Friedensbewegung, zum anderen die Love ­Parade.

Beiden Formen öffentlicher Hysterie ist gemein, dass sie sich zu ihrem vorgeblichen Anlass – Kriegs­gefahr, Musikhören oder eben kürzlich: Fußball schauen – völlig gleichgültig verhalten. Ähnlich wie zu den besten Zeiten der Friedensbewegung Anfang der Achtziger überschlug sich die Zahl der Teilnehmer an den öffentlichen Veranstaltungen, bis sie schließlich nicht mehr weiter steigerungsfähig war. Obendrein machte sich jeder Beteiligte, so gut er konnte, zu einem Objekt der Alltagskunst, wie Wohlmeinende den Kostümierungs- und Selbst­bemalungsfimmel bezeichnen würden, den WM-Fans und Leute, die gerne vor dem Atomtod warnen, ganz ähnlich ausleben. Auch erinnert an die Friedensbewegung, dass das Anschwellen der Hysterie mit tatsächlich erwartbaren Geschehnissen nichts zu tun hatte; eine Ohrfeige, also ein Misserfolg genügte, um das Ganze abrupt zu stoppen: Die Stationierung der Mittelstreckenraketen beendete damals schlagartig die »große Angst«, obwohl doch nach eigener Logik nun erst recht Grund bestanden hätte, sich zu fürchten; der Sieg der in fußballerischer Hinsicht zuvor absolut favorisierten und schließlich in glänzender Manier siegenden Italiener beendete so auch das »WM-Fieber«, obwohl das Finale doch erst noch ausstand.

Dass die durch den genialen Hackenpass von An­drea Pirlo und den folgenden Volley von Fabio Gros­so geohrfeigten Hysteriker anschließend eine Mischung aus wenig Beschämung und viel Ermattung packte, war also eine erwartbare Erscheinung, für die die Medien, die sich zuvor an der »Stimmung im Lande« voyeuristisch berauscht hatten, Trost, Erklärung und Kompensation bereit hielten. Die Süddeutsche Zeitung beispielsweise bedauerte, dass die »Realität die Party-Stimmung verdrängt« habe, und erklärte es zur nationalen Pflicht, eine »unend­liche Leere« zu empfinden, während die Bild-Zeitung auf Seiten voller heulender Blondinen praktische Lebenshilfe gab: »Trocknet Eure Tränen, Ihr seid doch alle Sieger.« Zum Beleg offerierte sie nicht weniger als »50 Gründe, warum wir doch die Besten sind«, die letzlich den bekannten »deutschen Tugenden« noch zwei weitere hinzufügten – zähes Ausharren auf öden Parties bis zum Geht-Nicht-Mehr und trotzige Trinkfestigkeit: »Wir können eben doch feiern.«

Diese Seite des »WM-Fiebers« könnte man als den Love Parade-Anteil der Massen­hys­terie qualifizieren: So wie die Beschallung auf der Techno-Festmeile aufgrund ihrer Mono­tonie völlig belanglos für die Teilnehmer war, verhielt es sich auch mit dem Fuß­ballspiel, das auf den öffentlichen Leinwänden zu sehen war. Es war Anlass und nicht Grund der Massenaufläufe; ansonsten hätten absolute Tiefpunkt-Partien wie das Achtelfinale zwischen der Schweiz und der Ukraine die Feierlaune ebenso dämpfen müssen wie die generell ziemlich miese Sicht auf die Leinwände.

Genau aber in dieser Feierlaune, in der sich die Teilnehmenden an sich selbst und natürlich an Billig-Alk berauschten und sich nur beiläufig für das Gekicke interessierten – solange am Schluss der richtige Sieger herauskam –, sahen alle Kommentatoren durch die Bank einen Beweis sowohl für das »Gelingen« der WM als auch für die »neue deutsche Weltoffenheit« und wie dergleichen Phrasen mehr lauteten. Schade, dass an dieser Art geistigem Sonnenstich auch der ansonsten recht nett zu lesende Halb­fi­nalnachruf der Welt leidet. Der beinhaltet echte Wahrheiten wie die, dass es zur in Deutschland »gewachsenen Fußball-Kultur« gehöre, dass »Pro­leten« den »nächs­ten Baum anpinkelten und dabei ihr hirnfreies ›Sieg‹-Gegröle erklingen ließen«, oder die, dass der »deutsche Wunschbrasilianer« »in der gefühlten Mehrheit mitschwimmen« will, »die sich als Minderheit geriert«.

Allerdings befeiert eben auch dieses WM-Epitaph ausgerechnet das besonders Deutsche, die öffentliche Enthemmung und den Kultus der Masse, als Abkehr vom klassischen Deutschtum, so als ob auch das Oktoberfest eigentlich eine antifaschistische Manifestation wäre: »Wir sind ja gar nicht miesepetrig, misstrauisch und altgermanisch! Diese Lektion haben nicht bloß WM-Touristen gemacht, sondern die verblüfften Deutschen selbst. Wir wissen nun: Eigentlich sind wir ein Mittelmeer-Anrainerstaat, mit Hang zu Freigebigkeit und Laissez-Faire-Mentalität.«

Gottseidank sieht es am Mittelmeer aber nur dort so aus, wie es der Welt vorschwebt, wo Deutsche ihre permanenten Fanmeilen eingerichtet haben: an den diversen Ballermännern Spaniens nämlich. Für alle, die sich in einem solchen Ambiente unwohl, ja nachgerade »miesepetrig« fühlen, kann man deshalb nur hoffen, dass sich das beckenbauerische Mantra bewahrheitet, dass »wir« nämlich »zu unseren Lebzeiten keine Weltmeisterschaft mehr in Deutschland erleben werden«.