Nöte eines Prinzen

Der bolivianische Präsident Morales will die Verfassung ändern, um seine Wahlversprechen einzuhalten. Dafür fehlt ihm aber die nötige Mehrheit. von benjamin beutler

Es gibt keine schwerer zu erhaltende Macht als die eines neuen Prinzen.« Bereits Simón Bolívar, der Anführer des antikolonialen Befreiungskampfes, wies 1826 in einer Ansprache über die Verfassung des neu gegründeten Staates Bolivien darauf hin, dass es einfacher sei, die Macht zu erringen, als sie zu festigen.

Vor einem ähnlichen Problem steht Präsident Evo Morales, der sich gerne auf Bolívar beruft. Morales und die von ihm geführte Bewegung zum Sozialismus (MAS) wollen mithilfe von Verfassungsänderungen ihre Macht festigen und das politische System grundlegend verändern. Der Präsident verspricht die »Abschaffung der neoliberalen Gesetze mit einem Schlag«, er hoffte, seine Partei werde die Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung in der vorletzten Woche »mit mindestens 70 Prozent gewinnen«.

Die MAS errang die absolute Mehrheit und wird 134 der 255 Abgeordneten stellen. Die zweitstärkste Kraft wurde mit 64 Sitzen die Oppositionspartei Demokratische und Soziale Kraft (Podemos) von Jorge Quiroga, der im vergangenen Jahr bei der Präsidentschaftswahl Morales unterlag. Relativ erfolgreich waren jedoch auch die eine Zeit lang kaum präsenten wirtschaftsliberalen Parteien, die Nationale Revolutionäre Bewegung (MNR) des ehemaligen Präsidenten Sánchez de Lozada, der im Oktober 2003 vor Massenprotesten in die USA geflohen war, und die Bewegung der revolutionären Linken (MIR). Die beiden Parteien hatten gemeinsam Anfang der neunziger Jahre die Privatisierungspolitik eingeleitet. Morales muss nach der konstituierenden Sitzung der Versammlung am 2. August nach Verbündeten unter seinen Gegnern suchen, denn eine neue Verfassung muss mit einer Zweidrittelmehrheit verabschiedet werden.

Durchsetzen will die MAS die »Abschaffung jeglicher Formen des Kolonialismus, der Ausgrenzung und Diskriminierung«. Die neue Verfassung soll die Erfolge der sozialen Kämpfe der vergangenen 16 Jahre institutionalisieren, Änderungen der politischen Struktur sollen »dem wahren Eigentümer des Landes«, dem Volk, zur Macht verhelfen. Die MAS hält an der traditionellen Gewaltenteilung fest, doch sollen staatliche Posten »durch universales Wahlrecht und traditionelle kommunitäre Formen der Entscheidungsfindung und Wahl« besetzt werden, wie es indigene Bewegungen fordern. Die indigenen Sprachen Aymara und Quechua werden dem Spanischen als Amtssprache gleichgestellt.

Das Bodenrecht und die Nutzung der Bodenschätze sollen dem Prinzip des Allgemeinwohls folgen, das Privateigentum muss der »nachhaltigen Entwicklung« dienen und soziale Funktionen erfüllen. Der ehemalige Kokabauer Morales will den Anbau der Pflanze zu einem von der Verfassung garantierten Recht erheben. Die neue Regierung hofft, einen legalen Markt für Koka-Tee und ähnliche Produkte etablieren zu können. Der katholischen Kirche sollen ihre Sonderrechte entzogen werden. Und statt ihre Regierung durch Massenproteste zu stürzen, könnten die Bolivianer zukünftig per Referendum ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten und seinen Stellvertreter erzwingen.

Der Opposition geht das viel zu weit. Nach der Verstaatlichung der Bodenschätze und der Agrarreform hat Morales kaum mehr als ein halbes Jahr nach seiner Wahl das dritte seiner grundlegenden Wahlversprechen eingelöst und die Verfassungs­gebende Versammlung eingerichtet. Die Oligarchie ist besorgt, sie bemüht sich, eine Gegenbewegung ins Leben zu rufen, und fordert mehr Autonomie für die Provinzen. Bei dem Referendum am vorletzten Sonntag scheiterte sie knapp, nur 47 Prozent der Bolivianer stimmten für ein föderales Modell. Das Ergebnis zeigt jedoch, dass die mit enormem finanziellem Aufwand betriebene und von vielen Medien unterstützte Kampagne nicht ohne Wirkung ist.

Organisiert wurde die Kampagne maßgeblich vom Komitee Pro Santa Cruz, einem Bündnis von Geschäftsleuten, Großgrundbesitzern und Lokalpolitikern, das den Osten Boliviens auf administrativem Weg von den vom Westen ausgehenden gesellschaftlichen Veränderungen abschotten soll. Die Wirtschaft im früher unterentwickelten Oriente wächst seit Jahren, denn die Erdgasgewinnung und der Agrarsektor prosperieren. Aus anderen Landesteilen einwandernde Menschen werden als Bedrohung des Wohlstandes und der »cruceñischen Kultur« dargestellt.

Die überwiegend von Europäern abstammende lokale Oligarchie grenzt sich von den »Andinen«, der bolivianischen Indígena-Kultur, ab. Kampagnen im Fernsehen und der Presse versuchen, den Ostbolivianern eine neue »Identität« nahezubringen: den Camba. Diese regionale Identifizierung wird hochstilisiert, um den Anspruch auf nationale Selbstbestimmung zu rechtfertigen.

Der Ton wird aggressiver. Verbände von Großgrundbesitzern im Osten drohen mit der Bildung von »Selbstverteidigungsgruppen«, sollte der Staat wie angekündigt auch Land verteilen, das sich in Privatbesitz befindet. Rubén Costas, der Präfekt von Santa Cruz, droht: »Zwingt uns nicht, das zu verteidigen, was wir mit unserem Blut und Schweiß aufgebaut haben.« Entdeckte Waffenlager lassen darauf schließen, dass es sich nicht nur um leere Drohungen handelt. Auch die Landlosenbewegung MST hat einen militanten Flügel, schon einen Tag nach der von Morales eingeleiteten Agrarreform kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen. In der vergangenen Woche wurden Soldaten zum Schutz öffentlicher Institutionen nach Santa Cruz entsandt, nachdem es zu Besetzungen durch Oppositionelle gekommen war.

Kann die Verfassungsgebende Versammlung verhindern, dass die Auseinandersetzungen eskalieren? Sie »ist die letzte Gelegenheit für die Bolivianer, ihre Probleme demokratisch zu lösen, um mögliche Konfrontationen in der Zukunft zu vermeiden«, sagt der Jurist German Gantier. Auch wenn die Verfassungsreform allein »die Armut, die Wirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit, die Ungleichheit und Ungerechtigkeit nicht beseitigen kann, so wird sie wenigstens das Verhältnis des Staates zur Gesellschaft erneuern, indem sie den Bürgern das Vertrauen in die Politik zurückgibt«, meint der Journalist Miguel Lora Fuentes.

Für einen Interessenausgleich könnte es vorteilhaft sein, dass die MAS die Zweidrittelmehrheit verfehlt hat. Die Notwendigkeit, sich mit Vertretern anderer gesellschaftlicher Gruppen und zumindest einigen Fraktionen der Oligarchie zu arrangieren, dürfte zwar die Durchsetzung radikaler Änderungen behindern. Andererseits könnte der Zwang zum Kompromiss für eine größere Akzeptanz der neuen Verfassung sorgen. Fraglich ist allerdings, ob die Oligarchie zu Zugeständnissen bereit ist.