Bombe im Waggon

Nach den Anschlägen in Mumbai blieben die befürchteten Racheaktionen aus. Doch die indische Regierung, die Pakistan der Mittäterschaft beschuldigt, will die Friedensgespräche nicht fortsetzen. von jörn schulz

Wenn die Regierung die Schuldigen nicht so bald wie möglich verhaftet, werden wir unsere Proteste intensivieren«, drohte Jai Bhagwan Goel, ein Sprecher der rechtsextremen hinduistischen Partei Shiv Sena. Eine Statue der Frau des Gründers der Organisation in Mumbai war angeblich mit Dreck beschmiert worden, mehrere hundert Demonstranten hatten daraufhin am vorvergangenen Wochenende Polizeiwachen mit Steinen beworfen und mehrere Busse angezündet.

Wer aus einem so banalen Anlass randaliert, dem kann getrost zugetraut werden, auf ein wirkliches Verbrechen weit brutaler zu reagieren. Als im Jahr 2002 bei einem Brandanschlag auf einen Personenzug in der Privinz Gujarat 57 Hindu-Fundamentalisten starben, organisierten rechtsextreme Gruppen einen Rachefeldzug, bei dem mehr als 2 000 Muslime getötet wurden. Doch nach den Bombenanschlägen auf sieben Pendlerzüge in Mumbai am Dienstag der vergangenen Woche, bei denen fast 200 Menschen starben, blieben die von vielen befürchteten Vergeltungsaktionen aus.

Es bestehen kaum Zweifel daran, dass islamistische Extremisten für den Massenmord verantwortlich sind. Die Polizei hatte bis zum Wochenende entweder keine relevanten Ermittlungsergebnisse vorzuweisen oder wollte bereits vorliegende Informationen nicht preisgeben. Der Verdacht konzentriert sich jedoch auf zwei islamistische Fraktionen, die beide in der Lage gewesen wären, die logistisch anspruchsvolle Terroroperation durchzuführen.

Die indischen Ermittler suchen die Täter offenbar vornehmlich unter Anhängern der Lashkar-e-Toiba (Armee der Reinen), einer überwiegend in Kaschmir operierenden Organisation, die möglicherweise mit dem verbotenen Students Islamic Movement of India (Simi) zusammengearbeitet hat, das den Lehren des pakistanischen Islamisten Maulana Maududi folgt und Indien in ein islamisches Kalifat eingliedern will. Beide Organisationen haben jede Beteiligung an den Anschlägen abgestritten.

Die Täter könnten auch unter Gefolgsleuten der al-Qaida zu finden sein. Die Ähnlichkeit mit den Anschlägen in Madrid und London ist offensichtlich, und in den Stellungnahmen der al-Qaida wurden in den vergangenen Monaten die »Hindu-Chau­vinisten« neben »Juden und Kreuzfahrern« als Zielobjekte des Jihad hervorgehoben. Denkbar ist allerdings auch eine Zusammenarbeit beider Fraktio­nen, deren gemeinsames Ziel es sein könnte, den pakistanisch-indischen Annäherungsprozess zu stoppen.

Auf jeden Terroranschlag in Indien reagieren die Po­litiker des Landes mit einer schon rituellen Schuldzuweisung an Pakistan. Nicht ohne Grund, denn der pakistanische Geheimdienst ISI versorgte die Islamisten in Kaschmir mit Geld und Waffen, die Armee erleichterte die Infiltration über die Waffenstillstandslinie auf indisches Territorium, und auch nach seiner Machtübernahme im Jahr 1999 betonte Staatschef Pervez Musharraf zunächst, der Jihad in Kaschmir habe seine volle Unterstützung.

Derzeit aber ist nicht ersichtlich, welches Interesse Musharraf an Anschlägen in Indien haben sollte. Seit dem Jahr 2004 hat er die Entspannungspolitik gegen erheblichen innenpolitischen Widerstand durchgesetzt. Nicht allein die Islamisten, sondern auch viele Nationalisten und Offiziere, die um den Einfluss der Armee fürchten, kritisierten die Annäherung an Indien. Aus ihren Kreisen erhalten die Jihadisten weiterhin Unterstützung, doch gänzlich auf ihre Unterstützung verzichten kann Musharraf, dessen autoritäre Politik die bürgerliche Opposition gegen ihn aufgebracht hat, nicht. Das Vorgehen gegen die militanten Islamisten, die den Geheimdienst und die Armee infiltriert haben, blieb daher immer halbherzig. So wurde die Lashkar-e-Toiba zwar verboten, doch als Wohlfahrtsverbände getarnte Ersatzorganisationen existieren weiterhin.

Damit will sich die indische Regierung nicht zufrieden geben. Die Terroristen wurden »von Elementen jenseits der Grenze angestachelt, inspiriert und unterstützt, ohne die sie nicht mit so verheerenden Folgen hätten handeln können«, sagte Premierminister Manmohan Singh am Freitag. Die pakistanische Regierung müsse ihre Zusage einhalten, den Terrorismus konsequent zu bekämpfen, »bevor der Friedensprozess fortgesetzt werden kann«. Für diese Woche geplante Gespräche über weitere Entspannungsmaßnahmen werden nun wahrscheinlich abgesagt.

Die von der Kongresspartei geführte Koalitionsregierung steht unter starkem Druck. Die Polizei wusste seit Monaten von Attentatsplänen, dennoch konnte Polizeisprecher Jayjit Singh am Sonntag noch nicht einmal angeben, welche Art von Sprengstoff benutzt wurde. Vor allem die hindu-nationalistische BJP, die bis zum Jahr 2004 regierte, nutzt die Gelegenheit. Politiker der Partei kritisierten die unentschlossene Politik gegen den Terrorismus, forderten eine härtere Linie gegenüber Pakistan und riefen für den 24. Juli zu Protesten auf. Deutlicher noch äußerte sich Bal Thackeray, der Führer der mit der BJP verbündeten Shiv Sena: »Die Re­gie­rung ist unfähig, Maharashtra (den Bundesstaat, in dem Mumbai liegt, die Red.) zu schützen, weil jene, deren Politik darauf basiert, die Minderheiten zufrieden zu stellen, die Terroristen nicht besiegen können.«

Es war die Shiv Sena, die 1995 Bombay regierte und durchsetzte, dass die Stadt zu Ehren Mumbas, einer lokalen Inkarnation der Muttergottheit Devi, in Mum­bai umbenannt wurde. Seitdem hat die Partei, wie die Hindu-Nationalisten im ganzen Land, an Einfluss verloren. Doch die religiöse Bigotterie und der patriarchale Extremismus der hinduistischen Rechten haben weiterhin große Anziehungskraft, und die Regierung kann es sich nicht leisten, als schwach zu erscheinen.

Ohnehin ist es immer vorteilhafter, die Schuldigen im Ausland zu verorten, als sich einzugestehen, dass es im eigenen Land ein Terrorproblem gibt. Die Attentäter sind mit großer Wahrscheinlichkeit indische Muslime gewesen, und es ist möglich, dass sich terroristische Zellen gebildet haben, die unabhängig von pakistanischer Unterstützung operieren können.

Islamistische Massenorganisationen gibt es nicht, denn allzu offensichtlich ist, dass eine Minderheit von 13 Prozent der Bevölkerung aus Indien keinen islamischen Staat machen kann. Andererseits gibt es zweifellos Unzufriedene unter den knapp 140 Millionen indischen Muslimen, die für Rekrutierungsversuche anfällig sein könnten. Muslime sind im Staatsdienst unterrepräsentiert, die Alphabetisierungsrate bei ihnen liegt mit 42 Prozent um 20 Prozent unter dem Durch­schnitt. Dass der Massenmord in Gujarat praktisch keine Folgen für die Täter und ihre Hintermänner in der hinduistischen Rechten hatte, mag manche dazu bewogen haben, sich den Jihadisten an­zuschlie­ßen.

Ziele anzugreifen, die nicht effektiv geschützt werden können, ist kein Zeichen der Stärke der militanten Islamisten, denen es noch vor fünf Jahren gelang, das Parlament zu stürmen. In einer nur oberflächlich säkularisierten Gesellschaft können jedoch auch die Aktionen einer winzigen Minderheit katastrophale Folgen haben, zumal es unter Hindus an gewalt­bereiten Extremisten nicht mangelt. Die Entspannungspolitik zu behindern, scheint den Jihadisten bereits gelungen zu sein.