Essen als Herausforderung

Der Norweger Thor Hushovd ist einer jener Radprofis, denen immer merkwürdige Sachen passieren. Außer Doping, sagt er. von elke wittich

Der Mann konnte eigentlich nicht mehr. Völlig erschöpft saß er auf seinem Rennrad, mehrmals war der unter Krämpfen Leidende kurz davor gewesen, einfach abzusteigen und sich in den Wagen zu setzen, der jenen vorbehalten ist, die aufgeben. Dieser fuhr sicherheitshalber schon seit längerem in seiner Nähe.

Thor Hushovd hatte auf der ersten schweren Berg­etappe bei der Tour de France alles falsch gemacht, was man als Profi falsch machen konnte: Der Sprinter war das Rennen zu schnell angegangen, hat unter­wegs zu wenig gegessen und zu lange versucht, mit dem Hauptfeld mitzuhalten. Und dann hatte er nicht nur ein körperliches Problem: Um weiter an der in seinem Heimatland »Frankrike Rund« genann­ten Rundfahrt teilnehmen zu dürfen, musste er ein Zeitlimit einhalten.

Während die Sieger dieser Etappe schon längst geehrt waren, quälte sich der Fahrer immer noch den Berg hinauf, mittlerweile von den internationalen Fernsehkameras und dem Tourarzt minutiös be­obachtet und von den Fans am Streckenrand so enthusiastisch angefeuert, als gehe es für ihn um den Gesamtsieg. Die Kommentatoren rechneten bei jeder neuen Zwischenzeit aus, ob er das Limit noch schaffen könne, bedenklich übergewichtige Zuschau­er riskierten Herzinfarkte, um den Erschöpften ein paar Meter anzuschieben, und die Motorräder der offiziellen Tourfotografen setzten sich immer wieder wie zufällig so vor den Fahrer, dass er wenigstens ein bisschen von ihrem Windschatten profitieren konnte.

Diesen Mann über diesen verdammten Berg zu bringen, war an diesem Tag im Jahr 2002 eine Gemeinschaftsaufgabe geworden – und tatsächlich rollte er schließlich nur wenige Sekunden vor Überschreiten der Zeitgrenze über den Zielstrich.

Thor Hushovd war mit einem Schlag berühmt geworden, am Abend durfte er als Mann des Tages neben den Siegern der Etappe in der renommierten Tour-Sendung des französischen Fernsehens sitzen. Kurz darauf gewann der Norweger seine erste Etappe.

Nun ist Norwegen ist nicht das, was man auch nur mit einem bisschen guten Willen als Radsportland bezeichnen könnte. Als größter Star der Sportart galt dort Jahrzehnte lang Dag Otto Lauritzen, in anderen Ländern nur absoluten Insidern als Gewinner der Bronzemedaille beim Straßenrennen der Sommer­olympiade in Los Angeles 1984 bekannt. Thor Hushovd wuchs jedoch in der gleichen Stadt auf wie das Radsportidol, das ihn für die Sportart begeisterte.

Nach mehreren Erfolgen als U-23-Fahrer, unter anderem bei der Juniorenversion des Klassikers Paris-Roubaix, entschloss er sich im Jahr 2000, Profi zu werden, nachdem ihm der französische Rennstall Credit Agricole einen Vertrag angeboten hatte. Obwohl der 90 Kilo schwere Hushovd eigentlich körperlich nicht so gut fürs Radfahren geeignet ist; seine Lieblingsdisziplin, der Sprint, wird traditionell von zierlichen Fahrern am besten beherrscht.

Er gilt jedoch als ehrgeizig und fleißig. 30 Stunden in der Woche trainiert er außerhalb der Saison, 30 000 Kilometer legt er jährlich auf dem Rad zurück. Während der Rennen bereitet er sich akribisch vor, allein schon vor und während einer Etappe genügend zu essen, sei »eine eigene Herausforderung«. Hushovd sagt: »Bei Tisch ist wirklich harte Arbeit gefragt.« Die ewige Pasta-Esserei, vor allem nach einer langen Etappe, sei purer Horror und er persönlich gedenke nach der Tour erst einmal große Mengen Pizza zu essen. Die Tour de France, so räumte er immer wieder ein, werde er als eher schlechter Bergfahrer wohl nie gewinnen, er hoffe auf das Grüne Trikot für den besten Sprinter.

Die diesjährige Tour begann für den Norweger ausgesprochen schön: Während die Radsportexperten noch darüber rätselten, was ohne die wegen Verwicklung in den spanischen Do­pingskandal gesperrten Top-Fahrer aus der Rundfahrt werden, und vor allem, welche der verbliebenen Radler Chancen auf Etap­pensiege haben könnten, gewann Thor Hushovd kurzerhand den Prolog.

Um am nächsten Tag das Gelbe Trikot spektakulär wieder zu verlieren. Nach der Ankunft im Ziel brach Hushovd blutüberströmt zusammen und bewies so, was langjährigen deutschen Fans der Tour schon immer klar war: Die Reporter von ARD und ZDF sind in aller Regel derart berauscht von ihren eigenen Kommentaren, dass sie völlig unfähig sind, den Inhalt der gleichzeitig vom eigenen Sender ausgestrahlten Bilder zu erfassen. Der Rest der Welt wusste spätestens nach der zweiten Wiederholung des Zielsprints, dass der Radfahrer wohl unabsichtlich von einem mit einer riesigen Reklamehand herumwedelnden Zuschauer verletzt worden war, während die Expertendarsteller im öffent­lich-rechtlichen Rundfunk noch mehr als 20 Minuten lang einen Sturz als Ursache vermuteten, wenn sie nicht gerade damit beschäftigt waren, die Leistungen der deutschen Fahrer zu besprechen.

Zwei Tage später stand Hushovd wieder im Gelben Trikot auf dem Podium, denn beim Zielsprint, den er aus Sicherheitsgründen im dichtgedrängten Pulk nur mit dem rechten Fuß absolviert hatte, war er hinter Robbie McEwen und Tom Boonen zwar nur Dritter geworden, die zwölf auf der Etappe erzielten Bonussekunden reichten jedoch für die knappe Führung im Gesamtklassement.

Der nächste sei »sein Tag«, erklärte er daraufhin, und das kann, Fans des Radprofis wissen das, zwei­erlei bedeuten: Entweder gewinnt er – oder er versagt im ganz großen Stil. Diesmal war es eine Mischung aus beidem, denn Hushovd wurde zwar Vierter, allerdings nach dem Rennen wegen »irregulärem Sprinten« auf den letzten Platz zurückgesetzt. Das Grüne Trikot für den besten Sprinter der Tour könne er nun vergessen, kommentierte er anschließend aufgebracht, wobei er allerdings den Kampf darum nicht ganz aufgeben werde. Die Arrangeure dieser Etappe hätten bewusst, um der Spannung willen, eine »lebensgefähr­liche Zieleinfahrt« geplant, worauf er zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal sehr energisch zu sprechen kommen werde.

Wie die meisten anderen Fahrer muss Hushovd derzeit aber am häufigsten über ein anderes Thema sprechen: Doping. »Eigentlich sind die derzeitigen Ereignisse sehr traurig, aber auf der anderen Seite kann man doch froh sein, dass diejenigen, die dopen, früher oder später doch erwischt werden«, sagt er. Er könne seinen Fans versichern, dass er »hundertprozentig sauber« sei. »Doping war für mich nie ein Thema. Radfahren ist für mich nicht so wichtig, als dass ich meinen Körper mit Dopingmitteln ruinieren würde.«

Vielleicht stimmt das, was er sagt, vielleicht stimmt es auch nicht. Nach seinem Prologsieg erklärte er jedenfalls: »Ich verstehe nach all den Enthüllungen der letzten Tage sehr gut, dass das Publikum im Moment automatisch denkt, jeder, der eine Etappe gewinnt, müsse auch automatisch ein Betrüger sein.«