Faraway, so close

Wie haben die angereisten Gäste die Fußball-WM in Deutschland erlebt? Unser Reporter david reed ist eigens zum Finale aus den USA eingeflogen

Juni 2006

Ich habe beschlossen, nur um mal die Gangart zu wechseln, über eine große Geschichte zu berichten – über etwas, wogegen die Mord­anklage gegen einen amerikanischen Football­star, der Buchhaltungsskandal eines Energiekonzerns oder die Inauguration eines Präsidenten Schmalspurnachrichten sind. Buche einen Flug nach Deutschland zum Weltmeisterschaftsfinale. Hausaufgaben für den nächs­ten Monat: Fußballspiele ansehen, Sport­sei­ten lesen, ins Netz gehen und Karten fürs Finale finden.

1. Juli

Für die offizielle Fifa-Akkreditierung bin ich ein paar Monate zu spät. Aber nachdem ich über Wochen jede Website angesteuert habe, die mir nur einfällt, könnte mein Problem jetzt gelöst sein. Bei phillips.com gibt es Karten für die Gewinner eines Online-Fußballspiels. Bei meinem ungefähr fünften Versuch geht mein Herz auf vor Stolz, als ich in einem Banner die Schlagzeile lese: »Eine LEGENDE IST GEBOREN: david (kleines »d«, kein Bedarf an Nachnamen) hat das FIFA™ Weltmeisterschaftsendspiel gewonnen mit einem Hammertor, das in die Sportgeschichte ein­gehen wird.« (Wow!) Nun müssen sie mir doch eine Karte geben!

4. Juli

Ich checke meine Mails wieder und wieder. Vielleicht ist etwas schief gelaufen. Phillips hat mich (noch) nicht kontaktiert. Mir wird klar, dass ich mich besser nicht darauf ver­lassen sollte. Gehe wieder ins Netz und be­obachte die Ticketauktionen bei Ebay. Ich finde zwei Karten, die zwar etwas außerhalb meines Limits sind, aber günstiger als üblich: 2 446 Euro für Kategorie 4 (die billigsten Plätze). Aber als die Auktion eine Minute später schließt, ist der Preis auf 3 790 Euro gesprungen. Autsch. Ich sollte mich wohl besser an die Ausarbeitung von Plan B machen.

6. Juli

Lande in Berlin; immer noch keine Karten. Aber ach! Was für eine Stadt! Und wie es das Glück will, bin ich »zu Gast bei Freunden™«. Die Welt ist schön und für einen Moment vergesse ich die Tickets.

7. Juli

»Zu Gast bei Freunden™« ist gut und schön, aber in Berlin ist es sehr heiß und ich komme ohne Klimaanlage und Eiswasser nicht zurecht. Glück­licherweise ist das Bier am Bundespressestrand billiger als Wasser (echtes Strandfeeling (# 1) und eine »FanClubDeutschland – Land der Ideen«-Basecap sind umsonst). Fast vergesse ich meine Probleme beim Blättern durch das Buch mit dem Titel »250 Gründe, unser Land heute zu lieben« (darunter Gartenzwerge, das soziale Netz und, natürlich, Bier).

Gehe die Straße entlang zum Internationalen Media Club (# 2); Fußballnachrichten überall: In Hamburg arbeiten Wissenschaftler an einem gläsernen, Angela Merkel bekam einen goldenen und ein paar Künstler in Berlin sind angeklagt worden, weil sich ein Passant bei dem Versuch verletzte, einen ihrer Betonfußbälle zu treten (Gut, das »Kick me«-Schild neben dem Ball könnte als Provokation interpretiert werden).

Gehe ins Netz, suche nach Karten. Die Preise für die Live-Übertragung in der ­Adidas-Arena sind gesunken, und die Artikelbeschreibungen bei Ebay sind verführerisch: »LAOLA – SCHLACHTGESÄNGE – TROMMELN UND FAHNEN«. »WM-Feeling pur!!!«, »Echtes WM-Stadion-Feeling ist garantiert!«

Mache ein paar Gebote; gehe zur Fanmeile. Es beginnt zu regnen und ich verbringe fast eine Stunde mit 20 anderen Leuten am Holocaust-Mahnmal in eine Bushaltestelle gekauert. Seltsam – ich habe gehört, dass es einen Streit darüber gab, ob eine Im­bissbude am Mahnmal respektlos sei. Ich weiß nicht, warum eine Imbissbude respektloser sein sollte als die Cafés auf der anderen Seite, aber ich bin sooo hungrig, und sobald es aufhört zu regnen, renne ich los auf der Suche nach einer guten Bratwurst.

8. Juli

Es stellt sich heraus, dass ich in die Adidas-Arena (# 3) mit meinem Presse­ausweis hineinkommen kann (anders als bei den Fifa-Events ist keine beson­dere Akkreditierung nötig), um mir das Spiel Deutschland gegen Portugal live im Fernsehen anzuschauen. Vor dem Spiel gibt es ein Konzert, und so habe ich etwas Zeit, die Coca-Cola-Installation zu betrachten, in der das Getränk als integraler Bestandteil (mit Che Guevara und Mobil Oil) der lateinamerikanischen Landschaft dargestellt wird. Dann begegne ich einem Team leicht bekleideter Damen von McDonald’s, die für einen Livebericht aus der Arena auf dem Weg zum Fernsehstudio von Premiere sind.

Ich gehe zur Fanmeile, und es ist so unterhaltsam, dass ich beschließe, die erste Halbzeit hier zu verbringen (# 4). Aber weil ich mir all die Mühe gemacht habe, einen Presseausweis zu bekommen, sollte ich mir vielleicht wenigstens mal ansehen, wie es ist, mit 10 000 Leuten in einem »Stadion« fernzusehen, und was dies vom Fernsehen mit Hunderttausenden auf der Straße unterscheidet.

Kämpfe mir einen Weg durch die Massen zurück zur Adidas-Arena. Vielleicht habe ich vergessen, wie sich ein Stadion anfühlt, aber auf der Straße scheint es mehr Stadion-Feeling zu geben als hier, und mir wird klar, dass ich besser wieder zur Fanmeile gehen sollte. Aber Deutschland schießt drei Tore kurz nacheinan­der und so sitze ich in einem komischen, behelfsmäßig zusammengebastelten Stadion fest. Immerhin werfen die Damen von McDonald’s kleine Tütchen McDonald’s-Gummibärchen in die Menge und ich schnappe mir eins (# 5) und noch ein anderes Souvenir (# 6), bevor ich mich auf den Weg zurück zur Fanmeile begebe.

Mache Fotos und sammle Überreste der Party (# 7, 8). Das Bier auf der Fanmeile ist etwas teurer als Wasser, aber das ist es mir wert. Zwei Bier und eine Schale China-Nudeln später besteige ich mein Mietfahrrad und fahre nach Hause.

9. Juli

Fahre zum Flughafen Tempelhof und beobach­te die Fans (# 9), die dort die deutsche Mannschaft nach ihrer Ankunft aus Stuttgart begrüßen wollen. Hätte ich mich besser ausgekannt, hätte ich vielleicht etwas vom abfahrenden Mannschaftsbus mitbekommen. Rase zur Abschiedsvorstellung des Teams zur Fanmeile, aber der Mannschaftsbus ist schneller als ich mit meinem Fahrrad und muss durch keinen Security-Check. Als ich mich zu den Menschenmassen unter den Video­wänden geselle, ist es fast vorbei. Dennoch ergreifen mich die Emotionen des Moments, und ich stehe da und kämpfe mit den Tränen, als sich die Fans und das Team einander ihre Liebe versichern.

Mein Plan war, früh zum Olympiastadion zu gehen und zu sehen, ob ich jemanden finde, der eine Karte für das Finale übrig hat, aber das war, bevor ich den größten Teil der Nacht aufgeblieben bin. Gehe nach Hause für einen kurzen Schlaf, haste dann zum Stadion. Das Coca-Cola-Team ist gut vertreten (# 10). Als ich endlich am Tor ankomme, laufen dort hunderte Fans herum, die nach Karten suchen (# 11). Alle haben handgeschriebene Schildchen (# 12); meines (# 13) sieht nicht besonders gut aus, beim nächsten Mal muss ich mich mehr anstrengen, um größere Aufmerksamkeit zu bekommen.

Endlich finde ich einen Typen, der eine Karte verkauft, aber er will 2 000 Euro dafür. Der Anstoß naht, es sammelt sich eine Gruppe verzweifelter Ticketsucher, sie hetzen herum und zeigen sich gegenseitig ihre Schilder. Hin und wieder gibt es ein Missverständnis und einen aufgeregten Austausch von »Kaufen?« »Verkaufen?« »Hast du?« »Nein, ich will …«.

Ich dachte mir, dass die Leute aufgeben würden, wenn das Spiel angefangen hat, und dass meine Chancen dann steigen würden, aber ich habe falsch gedacht. Gegen Ende der ersten Halbzeit tauchen ein paar Frauen mit Karten auf. Ich frage, ob sie eine übrig haben, und für einen Moment sieht es so aus, als ob sie mir eine geben wollten. Plötzlich werden wir von einer Gruppe umringt, und ein beharrlicher junger Mann (Italiener?) winkt mit einem Bündel Euroscheine. Es folgt ein schneller und unauffälliger Austausch – er schwört, es seien 1 800 Euro und sie zählt nicht nach; er hastet zum Tor, ohne die Tickets anzusehen. Nun sehe ich ein, dass meine Situation ziemlich hoffnungslos ist, also gehe ich zu einem Restaurant gegen­über, wo man, wenn man nur richtig steht, das Spiel durch die Schaufenster­scheibe im Fernsehen verfolgen kann (# 14).

Ich nehme die Abkürzung über den Presse-Parkplatz (# 15), als ich hinüber zum Osttor laufe. Dort, so stellt sich heraus, lassen sie Leute hinein mit Karten von anderen, die vorzeitig gehen. Es steht unentschieden und während zwei Halbzeiten, der Verlängerung und einigen Elfmetern gelingt es ein paar Leuten, ins Stadion zu kommen. Schließlich ist das Spiel vorbei und ich finde jemanden, der 20 Euro für ein gebrauchtes Ticket nimmt. Ich haste zum Tor und bin der erste, der die neuen Regeln ent­deckt: »Nach Ende des Spiels wird niemand mehr reingelassen, mit oder ohne Karte.« Ich fühle mich wie ein Idiot, weil ich 20 Euro für nichts ausgegeben habe, aber am Südtor treffe ich auf einen Mann mit einem Bündel Banknoten und einem Schild, auf dem er 20 Euro für jede gebrauchte Karte bietet. Ich hole mir also mein Geld zurück und stecke ein Souvenir vom Eingangsbereich ein (# 16) (SO 36 war schon weg, aber ich bin froh, bei dieser Konkurrenz mit der Hälfte davon wegzukommen).

Irgendwann habe ich aufgehört, weitere Fotos für meine Serie »Unscharfe Bilder von berühmten Leuten« zu machen, aber jetzt denke ich, ich sollte eine neue anfangen: »Un­scharfe Bilder von berühmten Or­ten« (# 17). Um ein Uhr nachts taucht ein Mann mit einem Hut aus einem alten Fußball auf. Er hat ihn von allen möglichen berühmten deutschen Fußballern signieren lassen, von Franz Beckenbauer bis Lukas Podolski (# 18), und ich bekomme ein Exklusivinterview von ihm. Er hat Fotos auf seinem Handy von Autogrammen, die er heute ergattert hat, und er redet gerne über so ziemlich alles, außer darüber, wie er sie bekommt. Das ist sein Geheimnis.

Finde was für meine Nummernsamm­lung (# 19) und (endlich) ein kostenloses Final-Ticket (# 20) (oder zumindest einen Teil davon).

Um zwei Uhr morgens sind immer noch Fans vor dem Tor, in der Hoffnung, irgendwie ins Stadion zu gelangen. Ich passe einen Moment ab, als die Wachen abgelenkt sind, greife unter dem Gitter hindurch nach einem Souve­nir-Post-It (# 21) und haste dann zur S-Bahn. Fotografiere eine letzte Flagge auf dem Bahnsteig (# 22).

Es gäbe noch so viel zu erledigen, vielleicht erwische ich nächstes Mal einen besseren Start. (Notiz für mich: Fifa anrufen und fragen, ab wann man sich für 2010 akkreditieren kann.)

aus dem amerikanischen von ­martin schuster