Liebe, nichts als Liebe

Nach zwei Jahren ohne Love Parade fielen die Gefühlswallungen am vergangenen Wochenende in Berlin umso heftiger aus. von nicole tomasek

Finale!« grölten einige junge Männer. Mit einem nostalgischen Realitätsverlust hatte das jedoch nichts zu tun, sondern mit ungehemmter Feierfreude. Auch nach der Fußballweltmeisterschaft ist die kollektive Glückseligkeit noch lange nicht beendet. Von Berlins emotionalem Epizentrum, der Straße des 17. Juni im Berliner Naherholungsgebiet Tiergarten, breiten sich nach wie vor Wellen großer Gefühle aus. Eine Woche zuvor erst waren hier unzählige Fans von ungeahnten Leidenschaften gepackt worden, mitunter benetzten sogar Tränen das Pflaster. Das große Gefühl, das die Menschen am Wochenende ergriff, war noch bei weitem erhabener als jede Fußball­euphorie. Zwei Jahre lang musste die Menschheit ohne sie leben, dann kehrte sie mit enormer Heftigkeit zurück: die Liebe! Sie ist wieder da! »The Love is back.«

Über eine Million Menschen sollen es nach den Angaben des Geschäftsführers der Love Parade Berlin GmbH, Rainer Schaller, gewesen sein, die am vergangenen Samstag auf der Love Parade der Liebe gedachten. Der Hauptsponsor, Martin Schallers Fitnesskette McFit, gab allein zwei Millionen Euro für die Rettung der Love Parade und das Wohlbefinden der Musikbegeisterten aus. Insgesamt kostete die Veranstaltung die Sponsoren somit ungefähr zwei Euro pro Person. Ein Schnäppchen eigentlich. Dennoch war dem leiblichen Vater der Love Parade, Dr. Motte, sein Kind angeblich zu kommerziell geworden und er wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben (siehe Seite 18). Die Teilnehmer der Parade, die auf seinen traditionellen Redebeitrag verzichten mussten, ließen sich ihre Laune nicht verderben. Vielleicht waren viele sogar recht froh, ohne lästige Unterbrechung in den Beats schwelgen zu können. »Die Rede hat nicht wirklich gefehlt«, sagte ein tanzfreudiger Teilnehmer zu dem Radiosender Fritz.

Überhaupt gab es gar keinen Platz für Kritik, denn die Liebe hatte alle ergriffen. Die einen mehr, die anderen weniger. »Wir waren dreimal kotzen. Jetzt kann es weitergehen!« berichtete ein wackerer Betroffener. Es war nahezu unmöglich, einer Ansteckung zu entgehen, die großen Gefühle lauerten überall. Wo man auch hinblickte, sah man Anzeichen akuter Verliebtheit. Mit weichen Knien schwankten die Menschen ziellos umher. Im Magen stellte sich bald ein flaues Gefühl ein – das konnten nur die berüchtigten Schmetterlinge sein, die in den Eingeweiden ihr Unwesen trieben. Glasige Blicke schweiften wirr durch die Gegend. Die Köpfe röteten sich ob der Erregung. Ein junger Mann mit bereits grün verfärbten Kopfhaaren redete im Wahn Unverständliches: »Ficki, ficki! Ich bin der King mit dem Ding.«

Einige langjährige, resistente Beobachter des Geschehens gaben nicht der Liebe die Schuld an diesen Phänomenen. Schließlich handele es sich bloß um eine simple Parade mit Liebe im Namen, aber Musik im Herzen. »Die Parade hat überhaupt nichts mit Liebe zu tun, noch nicht mal mit Sex. Nur mit exzessiver Männlichkeit«, behauptete ein abgebrühter Skeptiker sogar. Vermutlich hatte er sich nur nicht genau umgesehen.

Denn Liebe war auf dem von ihm verächtlich als »Proleten-Laufsteg« bezeichneten musikalischen Defilee überall zu finden. Rest­stoffverwerter gaben ihre Liebe zu Reststoffen kund, in leuchtenden Overalls mit der Aufschrift: »The love is back. The BSR auch«; Polen äußerten ihre Liebe zum polnischen Bier mit dem Geschrei »Polish beer is the best of the world!«; Deutschlandfans zeigten ihre Liebe zum Vaterland mit schwarz-rot-goldenen Accessoires oder fröhlich geschwenkten Plakaten mit schwarz-rot-goldenen Smileys auf den Festwagen; Beatbegeisterte begleiteten ihre geliebte Musik ganz originell mit dem Klang von Trillerpfeifen.

Die schüchternen Versuche der Kontaktaufnahme von Seiten der Männlichkeit waren zudem kaum als exzessiv zu bezeichnen. »Hallo! Ich liebe dich!« wisperte da ein Mann, ein langhaariger Jesus, der sich mit letzter Kraft zum Ruhen auf eine Wiese geschleppt hatte, bevor er schmerzverzerrt die Augen verdrehte und sein Kopf auf den Boden sank. Später konnte er noch hinzufügen: »Du hast ’n geilen Arsch.« »Bist’e öfter hier? Willste ’n Schluck Cola? Oder ’n Kuss? Darf ich dich küssen?« probierte es dagegen ein in eine schicke blau-orangene Latzhose gehüllter Grillmaster zaghaft. Ein unsicheres »Sex?« war bei einem Trio von Jünglingen auf der schwachen nackten Brust zu lesen. Andere warteten in T-Shirts mit der Aufschrift »Don’t walk – Fuck!« darauf, endlich angesprochen zu werden.

Viele Liebende waren zum ersten Mal dabei und fanden die Parade durchweg »schön«, »nice« und »geil«, auch wenn anfangs weniger Menschen als erwartet recht übersichtlich um die Wagen herumtanzten. »Schon geil, aber wird noch. Später wird’s noch geiler!« äußerte sich ein Paradenneuling optimistisch. Experten gaben sich dagegen unzufrieden. »Scheiße, is dit leer. Verflucht!« sagte einer. Ein anderer bestätigte die Analyse mit den Ergebnissen seiner empirischen Untersuchung: »Die letzte große Love Parade, da war der Tiergarten total zugeschissen.«

Exkremente und andere Abfälle wollten die Veranstalter dem Tiergarten tatsächlich nicht mehr im gleichen Maße zumuten wie in den Jahren zuvor, schließlich hatte dies in der Vergangenheit zu Disharmonien geführt. »Wer in einem fremden Wohnzimmer feiert, muss auch wieder aufräumen«, erläuterte Rainer Schaller das neue Konzept auf der Homepage der Love Parade. Auch die sportlichen Körper der Besucher sollten sauber bleiben. Frei von Drogen und hochprozentigem Alkohol sollten sie sein, erfüllt allein von der reinen Freude am Tanz. Wenn das nicht half, vielleicht eine Mitgliedschaft bei McFit.

Neben Liebe, Musik und Gesundheit ging es bei der Parade auch um »Spaß, Toleranz und Völkerverständigung«. Sie kann daher ebenso wie die WM als soziales Projekt gesehen werden. Den Hunderttausenden von Deutschen, die auf den ersten Blick so aussahen, als seien sie als Angehörige der Mehrheitsbevölkerung aus so genannten »No-Go-Areas« angekarrt worden, wurde ein Forum zur internationalen Vernetzung geboten. So konnten sie sich mit Gleichgesinnten aus aller Welt über ihre Liebe zu ausgefallenen Mode- und Musikstilen, etwa zum Modelabel »Thor Steinar«, austauschen und Gemeinsamkeiten entdecken.

Bei der älteren Bevölkerung fehlte es dagegen noch deutlich an Toleranz. »Unmöglich! Die S- und U-Bahnen sind komplett voll! Nur Raver!« empörte sich ein greiser Kunde in einer Bäckerei. Anscheinend hatte er die Botschaft nicht verstanden. Wenn ihm auch die Raver suspekt waren, so hätte ihn doch ein selbst gemaltes Schild abseits des Festzuges mit der Aufschrift »Gott liebt euch« überzeugen sollen: Ja, selbst der Herr hatte sich angesteckt und feierte mit.