Warten vor offenen Türen

Von einem gleichberechtigten Dialog mit den Migranten in Deutschland konnte beim Integrationsgipfel nicht die Rede sein. von titus engelschall

Schön, dass wir darüber reden. Auch wenn auf dem so genannten Integra­tionsgipfel im Bundeskanzleramt die »deutsche Seite« mal wieder viel länger gesprochen habe als die Migranten, wie die Berliner Anwältin Seyran Ates berichtete, und von den 86 handverlesenen Gästen der Kanzlerin nur ein Drittel migrantischer Herkunft war. Aber schließlich ging es ja auch nicht um die Interessen der Migranten, sondern um die Behebung ihrer Defizite.

Nicht zuletzt waren es die Vorfälle an der Rütli-Schule, die zum Integrationsgipfel führten. Der Diskurs über Schüler, die ihre Lehrer piesackten und Journalisten fernsehgerecht mit Steinen bewarfen, hatte das Bild vom in­tegra­tionsrenitenten Migranten bestätigt: Er spricht mangelhaftes Deutsch, ist ungebildet, arbeitslos, frauenfeindlich, kriminell, und es fehlt ihm jegliche Akzeptanz der Grundregeln unseres Zusammenlebens.

Nach dem vierstündigen Gespräch am Freitag fanden Angela Merkel (CDU) und Franz Müntefering (SPD) auf der Pressekonferenz ohne migrantische Vertreter salbungsvolle Worte über die Migration und lobten sich selbst. Die Eingeständnisse, Deutschland sei bei über 15 Millionen Bewohnern mit Migrationshintergrund ein Einwanderungsland und die Migranten hätten einen großen Beitrag für die Gesellschaft geleistet, schafften ein angenehmes Klima.

Die Union scheint in der Realität angekommen zu sein und sich von der beliebten alten Mär verabschiedet zu haben, die Gastarbeiter würden irgendwann schon wieder nach Hause fahren. Gleichzeitig nähert sich die SPD dem konservativen Koalitionspartner an. Ihr Generalsekretär Hubertus Heil hatte bei der Vorstellung der sozialdemokratischen Leitlinien zur Ausländerpolitik vor »multikulturellen Träumereien« gewarnt, andere Genossen bekannten sich zu Sanktionen gegen »Integra­tions­verweigerer«. Wurde der Integrationsgipfel, etwa von Vertretern der Linkspartei und den Grünen, vorher noch als reine »Showveranstaltung« kritisiert, lobte man nach der Pressekonferenz den schönen Schein der Veranstaltung und mahnte wie viele Vertreter migrantischer Organisationen an, den wolkigen Worten konkrete Maßnahmen folgen zu lassen.

Kaum jemand sprach dagegen über die Leerstellen. Die Forderung, allen hier lebenden Menschen die gleichen politischen Rechte oder eine doppelte Staatbürgerschaft zu gewähren, war nicht zu hören; kein Wort über ein Bleiberecht der 200 000 nur geduldeten Menschen in Deutschland, eisiges Schweigen über die Lage von Flüchtlingen und Illegalisierten am Rande der Gesellschaft und über Anti­diskriminierungsgesetze.

Dass die auf dem Integrationsgipfel vertre­tenen Migrantenverbände auch weiterhin die machtlose Staffage sein werden, stellte Merkel auf der Pressekonferenz klar: Sechs Gremien sollen zwar binnen eines Jahres Vorschläge für einen »Nationalen Integrationsplan« erarbeiten, doch entscheiden werde man dann alleine, im Bundestag.

Wie ernst die Bundesregierung den Dialog mit Migranten »auf Augen­höhe« nimmt, zeigt die Vorabveröffentlichung der Integrationsrichtli­nien mit dem Titel »Gutes Zusammen­leben – klare Regeln«. In dem Papier finden sich keinerlei Fördermaßnahmen, dafür wird von den Migranten umso mehr gefordert.

Darüber, wie die »Integrationsbereitschaft« der Migranten hergestellt werden kann, haben insbesondere die Unionspolitiker genaue Vorstellungen. Sie drohen mit der Kürzung der So­zial­leis­tungen und der Ausweisung. Auch die Rede von der Leitkultur geisterte vor dem Integrationsgipfel wieder tagelang durch die Gazetten. Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) vollbrachte das Kunststück, die Schnittmenge der mi­gra­tions­politischen Vorstellungen der CDU/CSU und der SPD zu umschreiben: »Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der Einwanderung so selbstverständlich ist wie in allen anderen modernen Gesellschaften«, sagte sie der Financial Times Deutschland. »Jede Gesellschaft braucht gemeinsame Überzeugungen. Andere mögen dies anders nennen, aber ich nenne das Leitkultur.«

Als Eintrittsbillett in die exklusive Gesellschaft gelten gute Sprachkenntnisse und die Akzeptanz der deutschen Werte. Um welche Werte es sich handelt, wird abgesehen von einem vagen Verweis auf das Grundgesetz im Dunkeln gelassen. Denn die Definitionsmacht darüber will man sich nicht aus der Hand nehmen lassen. Immer ausgeklügeltere Staatsbürgerschaftsschwüre und der obligato­rische Sprachunterricht sollen die Integra­tion herbeizaubern. Diese Mittel führen aber nicht dazu, diejenigen Zustände zu verändern, die zu der miserablen Lage vieler Migranten geführt haben.

Nach der eisernen Logik des ethnischen Absolutismus werden Vorgänge wie die in der Rütli-Schule selten im Kontext von sozialer Lage und deutschen Rassismen betrachtet, die sich in den Bildungsinstitutionen, auf der Straße oder auf dem Arbeitsmarkt manifestieren. Auch fehlen Maßnahmen, die Menschen mit Mi­gra­tions­hintergrund gleiche Lebenschancen gewähren könnten. Möglich wären etwa Quotenregelungen oder der interkulturelle Umbau der Bildungseinrichtungen.

Die mahnenden Worte Merkels, man müsse den Migranten die »Tür offen halten«, lassen ein kafkaeskes Bild entstehen. Trotz aller Offenheit verwehrt ihnen der Türhüter auf unbestimmte Zeit den Eintritt und vertröstet sie auf ein imaginäres Später. Die gesellschaftlichen Regulationsmechanismen der Großen Koalition sind die gleichen, welche die Erwerbslosen in der Form von »Maßnahmen« und »Eingliederungshilfen« zu spüren bekommen. Rechte werden nur dem gewährt, der Leistung erbringt. Wer die Leistung verweigert, dem wird mindestens das Geld gekürzt. Vorausgesetzt wird die vollkommene Unterordnung, doch ob man dann über die Türschwelle treten darf, ist so ungewiss, wie einen Arbeitsplatz zu erhalten.

Integration, verstanden als Anpassung und Assimilation, ist das von oben verordnete Zaubermittel, verbunden mit einer nicht enden wollenden Bringschuld der Migranten, um den Verdacht abzumildern, auf ewig das gefährlich Fremde zu sein. Nicht erst die Figur des islamistischen »Schläfers« hat die Logik, mittels Wohlverhalten ein vollständiges Mitglied der Gesellschaft zu werden, ad absurdum geführt. Und immer wieder werden Migranten für Phänomene wie Zwangsheirat und Ehrenmorde in Sippenhaft genommen.

All die versöhnlichen Redner über Integration blamieren sich schon allein deswegen, weil sie gebetsmühlenartig mehr Deutschkurse für Migranten und eine spezielle Förderung migrantischer Schüler fordern, gleichzeitig aber die Große Koalition im Haushalt für 2006 die Mittel für die Integration um ein Drittel kürzt. Ehrlicher scheint da etwa die Aussage des Vorsitzenden der Bundestagsfraktion der CDU/CSU, Volker Kauder, in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: »Wer Deutscher werden will, muss sich auch zur deutschen Schicksalsgemeinschaft (…) bekennen. Zudem muss er die deutsche Leitkultur akzeptieren.«

Die Regierung ging, nachdem die fremden Gäste das Bundeskanzleramt verlassen hatten, wieder zur üblichen »Ausländerpolitik« über. Nur wenige Stunden nach dem Gipfel kündigte Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) eine Verschärfung des Zuwanderungsgesetzes an.