Von Jägern und Stammlern

Wo Männer noch Männer und Frauen noch Frauen sind: Raymond Darts »Jagdhypothese« hat in Wissenschaft und Gesellschaft sichtbare und hässliche Spuren hinterlassen. Von Cord Riechelmann

Die Jagd auf Tiere ist immer noch eine nur unzureichend sublimierte Gewalttätigkeit. Wer jagt, will töten und tut es auch. »Jagd ohne Mord wäre ein Oxymoron, ein Begriff, der sich selbst aufhebt«, meint der Ethnopsychoanalytiker und Jäger Paul Parin in sei­nem Erzähl- und Essayband »Die Leidenschaft des Jägers«.

Parin kennzeichnet die Jagd als »Licence for Sex and Crime« und macht damit die mit dem Prozess der Jagd und des Tötens untrennbar verbundenen Empfindungen der sexuellen Lust deutlich. Die Jagd ist wegen ihres Grausamkeits- und Verbrechens-potenzials immer ritualisiert worden. Es gibt keine Gesellschaft – ganz gleich wie komplex sie organisiert war oder ist –, die die Jagd nicht an Gesetze und Regeln gebunden hat.

Die Regeln und Gesetze bestimmen, wie gejagt wird, und weil sie nicht naturgegeben, sondern von Menschen gemacht sind, wird überall anders gejagt. Die Regeln »sind in einer Ideologie zusammengefasst, die alle Erwachsenen kennen, oft ohne zu wissen, wie sie dieses Wissen erworben haben« (Parin). Und wie in allen Ideologien ändern sich auch die Regeln der Jagd mit der Zeit – je nachdem, wie sich die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern.

Dass die Jagd mit Waffen den Menschen vom Tier grundsätzlich unterscheidet, wurde in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zum ersten Mal behauptet. Dass man in dem Bedürfnis zu jagen trotzdem häufig einen naturgegebenen »Trieb« sieht und die Regeln, Verbote und Tabus um die Jagd als Naturtatsachen akzeptiert, gehört zur ideologischen Verpackung des Jagddiskurses. Gejagt wurde, heißt es, zu allen Zeiten.

Die Jagdhypothese

Die Jagd mit Waffen und Werkzeugen sei ei­ne genuin menschliche Tätigkeit, die dem Menschen einen ungeheuren Entwicklungs­schub eingebracht habe, der ihn endgültig vom Affen trennte und die einzigartigen Fähigkeiten bedingte, die ihn zum Herrscher der Erde haben werden lassen, lautet die Kernaussage der »Jagdhypothese«. Sie geht auf den australischen Anthropologen Raymond Dart (1893 bis 1988) zurück.

Dart war seit 1923 Professor für Anatomie an der School of Medicine in Johannesburg und entdeckte durch Zufall den missing link zwischen Affen und Menschen. Aus einer Kiste mit verschiedenen Fossilfunden nahm er den Kopf eines Kindes mit menschenähn­lichen Zähnen und einen affenähnlichen Schädel heraus und präparierte ihn. Der als »Kind von Taung« – benannt nach der Kalksteinhöhle in Südafrika, wo die Knochen ge­funden wurden – berühmt gewordene Fund begründete die Spezies des »Australopithecus africanus«, auf Deutsch: der südliche Affe von Afrika.

»Affe« ist in diesem Fall ein irreführender Begriff, denn heute weiß man, dass die Aus­tralopithecinen die ersten echten Hominiden in der Stammesgeschichte waren. Es waren kleine Menschen, die größten wurden nur 1,50 Meter groß, die im aufrechten Gang den Schritt aus den schützenden Bäumen und Büschen Afrikas hinein in die Savannen und Steppen wagten. Dart war klar, dass die Raubaffen sich in den kargen Steppen hauptsächlich von Tieren ernährten, die sie erjagten. Seine Spekulationen um die Lebensweise dieser frühen Hominiden begründeten die Jagdhypothese, die im eng­lischen Sprachgebrauch als »Man the Hunter«-Theorie bekannt geworden ist.

Diese Theorie wurde sehr unterschiedlich rezipiert. In den unterschiedlichen Lesarten spiegeln sich die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den so genannten entwickelten Ländern. Nach heftigen Angriffen von pazifistischen und feministischen Kritikern und Kritikerinnen vor allem in den siebziger Jahren und nach den Befunden von Primatologinnen wie Jane ­Goodall, die in Tansania Schimpansen be­obachtete, war die Jagdhypothese zum Mythos herabgesunken. Im Diskurs um die Natur der Menschen und anderer Primaten war sie in den Hintergrund gedrängt worden.

Aber sie verschwand nie ganz. Dass sie nun allerdings mit Vehemenz zurückkehrt, u.a. im Geschlechterdiskurs, lässt nichts Gutes über den Zustand der Gesellschaft ahnen. So hat Peter Sloterdijk kürzlich in einem Gespräch im Spiegel behauptet, dass »von unserem anthropologischen Design her Männer so gebaut sind, dass sie an Jagdpartien teilnehmen. Doch haben wir seit seit gut 7000 Jahren, seit Beginn des Ackerbaus, die Jäger einem riesigen Siedlungsprogramm unterworfen.«

Natürlich findet Sloterdijk auch den dazu passenden Part für die Frauen. »Frauen sind herkunftsmäßig Sammlerinnen, und die braucht man heute mehr denn je, denn aus der Sammlerin wird auf dem kürzesten Weg die Konsumentin. Frauen sind in diesem Punkt viel kapitalismuskompatibler als Män­ner.«

Ähnlich argumentiert der Medientheo­retiker Norbert Bolz. In Sandra Maischbergers Talkrunde erzählte er kürzlich, wie gut die moderne Welt und die Frauen zueinander passen würden. Man könne das etwa daran erkennen, dass Frauen die besseren Managerinnen seien. Das alte Jägererbe der Männer liege brach, und deshalb müssten sie sich Ersatzbeschäftigungen suchen, z. B. das Autorennen. Bolz schlägt dabei einen Bogen vom frühen Jäger zur Formel 1, und zwar ebenso unvermittelt wie Sloter­dijk den von der Jagdpartie zum modernen Fußball.

Ihr weibliches Pendant finden Bolz und Sloterdijk in der Moderatorin und Tagesschau-Sprecherin Eva Herman. Für sie ist es u. a. der Feminismus, der die Frau von ihrer Bestimmung als Hüterin von Herd und Kind abgebracht und in ein modernes Dilemma geführt hat. Statt Kinder zu kriegen und zu betreuen, wie es das biologische Schicksal gewollt hat, muss sie in den männ­lichen Gefilden wildern und Karriere machen.

Dass archaische Verhaltensweisen von uns schon wegen ihrer geschichtlichen Entfernung so ohne weiteres nicht verstanden werden können, kommt gar nicht mehr in den Blick. Das soll es natürlich auch nicht. Denn wenn man die aktuelle gesellschaft­liche Lage als historisch gewordene, das heißt als veränderbare begreift, dann hat das auch Konsequenzen auf die Wahrnehmungs- und Bewusstseinsapparatur und der schöne Kurzschluss vom motorisch-aktiven archaischen Jäger-Mann auf die heutige Zeit ist hinfällig.

Nicht dass dadurch das Denken von Herman, Bolz und Sloterdijk Schaden nehmen würde. Um die Schwierigkeiten, die aus den wissenschaftlichen Beschreibungen längst vergangener und aus der Epoche der wissen­schaftlichen Kultur von heute nur unzuläng­lich rekonstruierbaren dama­ligen Weltwahr­nehmung erwachsen, geht es ihnen nicht. Auf ihre Art wissen die drei sehr gut, dass ihre Analysen vor allem jenen als Lebensersatz dienen sollen, die in der gegenwärtigen Lage mit ihrem Unbehagen an Kultur und Politik nicht weiterkommen.

Da liegt es irgendwie näher, einen archaischen Impuls aufzurufen, der heute nur noch auf dem Fußballplatz, bei der Formel 1 oder beim Kinderhüten ausgelebt werden kann, als sich genauer mit den Restaura­tions­tendenzen einer Gesellschaft zu beschäftigen, die gerade auf dem Weg ist, den Lebensstandard von wenigen feudalistisch zu sichern und dem Rest klar machen zu müssen, warum für ihn nichts mehr übrig ist.

Die Rückkehr der Jagdhypothese in den allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs erfüllt also eine Entlastungsfunktion. Wer vom Jäger hört oder liest, kann sich wie einer fühlen – ohne je einer gewesen zu sein oder werden zu müssen. Der Effekt bleibt ­literarisch. Damit ist er aber nicht weniger wirksam. Denn auch die Phantasien haben Rückwirkungen auf die Gesellschaft.

Der aufrechte Gang

Deutlich wird das an den Äußerungen des Schriftstellers Martin Walser. Er glaubt von sich, wie er mal in einem Interview sagte, dass er ein Jäger sei. Gleichzeitig scheint er auch die andere Seite zu kennen. Nachdem Walser sich von einem mit der DKP sympathisierenden Linken zu einem konservativen Schreiber entwickelt hat, meint er nun, dass auf ihn »Jagd gemacht« werde.

Paul Parin geht in seinem Jagd-Buch kurz auf Walsers Metapher vom »Gejagtwerden« ein. »Meist geht es schief«, schreibt Parin, »wenn man versucht, ein Symbol rückläufig auf seine ethymologische oder historische Herkunft zurückzuführen und zu deuten. Man kann aus allem ein Symbol machen, wie aus den beleidigten Gefühlen Martin Walsers. Schließt man zurück, dass der Autor getötet, ›zur Strecke‹ gebracht werden sollte, geht man fehl. Es handelt sich um Kritik, allenfalls um die Enttäuschung früherer Freunde und Leser.«

Was bei Walser, Bolz und Co. – hoffentlich – nur ein schlechtes Symbol ist, gibt es aber wirklich. »Die Jäger waren schon immer die Radaumacher, die Aufwiegler«, schreibt Thomas Bernhard in seinem 1986 erschienenen Roman »Auslöschung« über die Konstitution der Herren Jäger und fährt fort: »Passte ihnen einer nicht, schossen sie ihn einfach bei nächster Gelegenheit ab und verantworteten sich vor Gericht, sie hätten den Erschossenen für ein Stück Wild gehalten. Die Prozessgeschichte in Ober­österreich ist voll von solchen Jagdunfällen, die dem Täter meistens nur eine Verwarnung einbrachten nach dem Motto: der von einem Jäger Erschossene ist selbst schuld.«

Bernhards Roman liefert eine der besten zeitgenössischen Analysen der sozialpsycho­logischen Konstitution gegenwärtiger Jäger. Er bleibt aber nicht dabei stehen, sondern führt mit dem Gärtner auch gleich eine Gegenfigur ein: »Zu den Gärtnern ging ich, wenn ich unglücklicher, als erträglich war, wenn ich in höchster Not gewesen bin.« Dann kommt Bernhard in seiner Geschichte auch auf den Autor und Revolutionär Peter Kropotkin zu sprechen.

Der russische Anarchist brachte 1902 in England ein Buch mit dem Titel »Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt« heraus. Darin liefert er eine Reihe von Beispielen, in denen gegenseitige Hilfe genauso zum Motor der Entwicklung wird wie bei den Darwinisten der »Kampf ums Dasein«. Kropotkin begann seine Überlegungen im englischen Exil in der Atmosphäre des Ober­schichten-Darwinismus. Wenn diese Darwinisten auf die Natur sahen, entdeckten sie dort Hierarchie und Konkurrenz. Da konnte die eigene gesellschaftliche Konstellation, die ebenfalls auf Konkurrenz und Hierachie beruhte, so falsch nicht sein.

Man kann sich die Tautologien, mit denen die Oberschicht ihre Lage als Korrelat der Naturverfassung erklärte und damit für richtig befand, gar nicht simpel genug vorstellen. In einen Widerspruch zu Darwins Originalschriften gerieten die kolo­nialistisch agierenden englischen Darwinisten damit nicht. Hatte doch schon dessen Hauptwerk über »Die Enstehung der Arten« den Untertitel »Der Fortbestand der begünstigten Rassen im Kampf ums Dasein«.

Dass der politisch konnotierte Untertitel heute auf deutschen und englischen Ausgaben in der Regel fehlt, hat auch mit Darts Jagdhypothese und seiner wissenschaft­lichen Rezeptionsgeschichte zu tun. Dart schloss nämlich mit seiner Arbeit eine Lücke in Darwins Werk.

Darwin hat weder in der »Entstehung der Arten« noch in der nachfolgenden »Abstam­mung des Menschen« eine schlüssige Herlei­tung der menschlichen Evolution geliefert. Die menschlichen Eigenschaften waren für Darwin von Vorteil, weil sie uns halfen, zum Herren des Urwalds zu werden. Weil der Mensch so erfolgeich ist, müssen auch seine Eigenschaften im Sinne der Evolution gut sein.

Den aufrechten Gang zum Beispiel erklärt er so: »War es von Vorteil für den Menschen, seine Hände und Arme frei zu haben und feste auf seinen Füßen zu stehen, woran sich nach seinem so ausgezeichneten Erfolge im Kampfe ums Dasein nicht zweifeln lässt, dann kann ich keinen Grund sehen, warum es für die Vorläufer des Menschen nicht hätte vorteilhaft sein sollen, immer mehr und mehr aufrecht und zweifüßig zu werden. (… ) Die am besten gebauten Individuen hätten auf lange Sicht den meisten Erfolg gehabt und in größerer Zahl überlebt.«

Den Grund, warum der Mensch oder unsere Menschenaffen-Vorfahren sich in den aufrechten Gang hätten erheben sollen, nennt Darwin nicht. Er bleibt in der Tautologie seiner Erfolgslogik behaftet. Und der Frage, warum heute nicht alle Affen aufrecht gehen, wenn der aufrechte Gang doch zwangsläufig zum Erfolg führt, wich Darwin aus. Genau in diese Erklärungslücke stieß Raymond Dart mit seinem Fund in Südafrika.

Er folgerte, dass die Australopithecinen – gerade weil sie unter widrigen Umständen in kargen Steppen lebten – auf dem Weg der Menschwerdung waren. Während die anderen Menschenaffen in den tropischen Regenwäldern sozusagen ihre Nahrung nur vom gedeckten Tisch der Überproduktion greifen mussten, war der Steppenaffenmensch dazu gezwungen, »ständig und in wachsendem Maße Entscheidungsvermögen und Schlauheit« an den Tag zu legen, »wenn er neue Arten von Nahrung finden und davon leben und die Gefahren und Feinde der offenen Steppen vermeiden wollte«.

In der gefahrvollen Grasebene mussten sich die frühen Hominiden auf die Hinterbeine stellen, um Raubtieren mit schnellem zweifüßigen Schritt zu entkommen. Indem Dart den aufrechten Gang als Anpassung an eine bestimmte Umweltsituation interpretierte, lieferte er die erste darwinistische Erklärung des Phänomens. Die bedrängte Lebensweise weckte auch »die Fähigkeit des Anthropoiden zu denken und voraus­zuplanen, und mit dieser Fähigkeit wurde die Umwandlung vom Anthropoiden zum Menschen in Gang gesetzt«.

Da Dart in den Knochensammlungen, aus der er das Kind von Taung herauspräparierte, auch einige Pavianschädel mit charak­teristischen Löchern fand, folgerte er, dass die frühen Hominiden von der Jagd lebten. Er schrieb ihnen ein enormes Aggressionspotenzial zu, was er mit den Beinamen »Raub-« bzw. »Mörderaffe« unterstrich. Der Mörderaffe lebte seine Aggression aber nicht nur am zu jagenden Wild aus, er erschlug auch seinesgleichen.

In diesem Szenario waren es nur die Männer, die jagten. Die Frauen blieben zu Hause, passten auf die Kinder auf und sammelten ein paar Früchte oder Wurzeln, wenn die Männer wieder mal zu spät oder ohne Futter von der Jagd zurückkamen. Aus dieser Grundkonstellation wurden weit rei­chen­de Schlussfolgerungen gezogen – von Dart und in seiner Nachfolge auch von anderen Autoren wie dem Anthropologen Sherwood Washburn, der nach dem Zweiten Weltkrieg an der University of Chicago Vorlesungen zur frühen Hominidenevolu­tion hielt.

Der Werkzeuggebrauch, komplexe Sozialsysteme und die Vergrößerung des Gehirns durch die eiweißhaltige Fleischnahrung seien nur auf die Entstehung der Jagd zurückzuführen, hieß es. In dieser Interpretation der Evolution waren die jagenden Männer die treibende Kraft, Frauen traten demnach nur am Rande auf und bereiten das Essen zu. Das traf sich in den zwanziger Jahren mit der allgemeinen Vorstellung der Primatensozietäten. Der amerikanische Psychologe und Begründer der modernen Primatologie, Robert Yerkes, befand, die Organisation wilder Affenverbände sei dominiert von motorisch aktiven Männchen, die das Terrain für passive Weibchen sichern.

Die Wahl der Waffen

Die Dekonstruktion dieser Thesen in den siebziger Jahren hatte verschiedene Gründe. Merkwürdigerweise wurde die Jagd­hypo­the­se hauptsächlich von Wissenschaftlerinnen erledigt, die aus Washburns Chi­cagoer Seminaren hervorgingen. Aber schon Dart hatte Probleme, ernst genommen zu werden. Als sein Aufsatz über »The Man-Ape of South Africa« 1925 im Fachblatt Nature erschien, stieß er auf Ablehnung, weil er darwinistsich argumentierte. In den zwanziger Jahren war die Biologie durch die aufkommende und sich schnell entwickelnde Gene­tik antidarwinistisch dominiert. Die Genetiker hielten Darwins Konzept der natürlichen Selektion für viktorianischen Aberglauben. Man versuchte, die Evolution als von zufälligen Mutationen angetriebenen Prozess zu erklären. Das änderte sich erst, als Ernst Mayr in den vierziger Jahren in der synthetischen Theorie der Evolution die zufälligen genetischen Variationen mit der richtenden Kraft der Selektion zusammendachte.

In der Atmosphäre des anthropologischen Schocks nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Rezeption von Darts Jagdhypothese erst so richtig. Auschwitz und Hiroshima hatten endgültig den Glauben an ein Fortschreiten der Menschheit hin zu Glück und Frieden erschüttert. Man suchte auch in der Natur des Menschen nach Gründen. Da­raus erwuchs sozusagen der pessimistische Strang der Rezeption Darts, der in der ursprünglichen, mit Werkzeugen vollzogenen Jagd des Menschen auch den Grund der Entfremdung von Natur und Mensch sah.

Konrad Lorenz erklärt fortan in Weltbestsellern wie »Das so genannte Böse«, dass andere Raubtiere ihren Tötungsapparat über Millionen von Jahren ausbilden konnten. Mit ihren Zähnen und Krallen hätten sie aber auch Hemmmechanismen entwickelt, die verhindern, dass sie ihre Freunde und Verwandten töteten. Dem Menschen als ursprünglich harmlosen Allesfresser fehl­ten aber genau diese Mechanismen der Hemmung. Durch die Erfindung der Waffen eröffneten sich ihm »mit einem Schlage neue Tötungsmöglichkeiten«, die vorher vorhan­denen Gleichgewichte zwischen verhältnismäßig schwachen Aggressionshemmungen und der Fähigkeit zum Töten von Artgenossen seien dadurch gründlich gestört worden. »Kein geistig gesunder Mensch würde auch nur auf die Hasenjagd gehen, müsste er das Wild mit Zähnen und Fingernägeln töten«, schließt Lorenz.

Für die populäre Verbreitung der Jagdhypothese sorgte in den sechziger Jahren der Dramatiker Robert Ardrey, der, wie der US-Anthropologe Matt Cartmill schreibt, »Dart die Ideen praktisch frisch aus der Schreibmaschine wegschnappte«. In Büchern wie »Adam kam aus Afrika« porträtierte Ardrey den Menschen als »ein Raubtier, dessen na­türlicher Instinkt ihn dazu treibt, mit der Waffe zu töten«. Kriege waren in Ardreys Version der Dartschen Jäger die natürliche Folge aus unserem Tötungsinstinkt und unserem Revierinstinkt.

Das lasen besonders jene konservativen Politiker und Sozialwissenschaftler in den USA gern, die gerade den Vietnamkrieg führ­ten bzw. verteidigten. Ardrey und Dart boten aber nicht nur reaktionären Kriegstreibern Argumentationsstoff, sie fanden auch bei Kulturpessimisten und anderen Schopen­hauer-Anhängern Resonanz.

Stanley Kubrick wird Darts Jagdhypothese 1968 in der Eingangssequenz von »2001: A Space Odyssey« in die Filmgeschichte ein­schreiben. Darin löst sich ein Affenmensch aus einer friedlich-hippiemäßig kauernden Gruppe. Er nimmt sich einen Zebraknochen als Werkzeug, mit dem er zuerst auf ein Skelett einschlägt, um dann seine Freunde zu bedrohen. Nachdem er den ersten Mord begangen hat, wirft er den Knochen freude­strahlend gen Himmel, wo er - Schnitt! – zum fliegenden Raumschiff im Weltall wird.

Darts Thesen nahmen aber nicht nur den populären Weg, sie wurden auch als Tatsachen in den Lehrbüchern der physischen Anthropologie festgeschrieben – ausgehend von einem mit »Man the Hunter« betitelten viertägigen Symposium an der University of Chicago, das explizit dem jagenden Menschen gewidmet war. Der 1968 erschienene und von Richard Lee und Irvene De Vore, zwei Schülern von Sherwood Washburn, herausgegebene Sammelband zur Konferenz mit dem gleichnamigen Titel wurde zu einem der am häufigsten zitierten Bücher der Anthropologie und damit zum Standardwerk.

Der Band gibt im Wesentlichen die wis­sen­schaftliche Aufbereitung der hier bereits dar­­gestellten Thesen wieder. Er enthält allerdings auch Momente der Kritik an der Jagdhypothese. So wird die Behauptung, die frühen Menschen hätten sich haupt­sächlich von erjagtem Fleisch ernährt, in mehreren Beiträgen angezweifelt und stattdessen die Bedeutung der vegetarischen Nahrung hervorgehoben. An der prin­zipiellen Tendenz des Bandes, den Mann als Jäger anzusehen, änderte das aber nichts.

Im Gegenteil. »In einem sehr realen Sinn sind­ unser Intellekt, unsere Interessen, Emo­­tionen und die Grundzüge unseres sozialen Lebens allesamt evolutionäre Produkte des Erfolgs der jagenden Adaption«, schrieben Washburn und Lancaster. Man ging so weit, den Jagdinstinkt genetisch im »Menschenmann« zu verorten. Dass es später ausgerechnet die Schülerinnen Washburns sein sollten, die der Jagdhypothese die empirische Basis entzogen, ist dabei erst mal kein Widerspruch.

Für Washburn hatten Darts Veröffentlichungen auch eine progressive Funktion. Washburn war ein an klassisch morpholo­gischen Methoden der Primatenanatomie ausgebildeter physischer Anthropologe. Die physische Anthropologie aber war bis in die fünfziger Jahre hinein von rassistischen Klassifikationen durchzogen. Als dezidierter Gegner rassischer Klassifikationen und Hierarchisierungen führte er den von Ernst Mayr entlehnten Populationsbegriff in die Anthropologie ein. Und die ersten Menschen in den Steppen Afrikas, von denen die gesamte weitere Entwicklung bis zum Homo Sapiens, dem modernen Menschen, ausging, dienten ihm als Beleg für die Zugehörigkeit aller Menschen zu einer Art.

Um den Lebensverhältnissen der frühen Menschen näher zu kommen, forcierte Wash­­burn empirische Studien an lebenden Affen­verbänden. Er begründete seine Forschungs­anträge mit der Bedeutung der Studien für die menschliche Psychologie und Psychiatrie. Die an indischen Languren und afrikanischen Pavianen gewonnenen Ergebnisse führten dabei häufig zu konträren Einsichten, nicht selten musste die vergleichende Perspektive zum Menschen aufgegeben werden.

Jäger und Gejagte

Die Mehrzahl von Washburns Studenten waren Frauen. Viele von ihnen prägen fortan die Primatologie, die damit zu einer auch institutionell von Frauen dominierten Wissenschaft wurde. Mit »dem Auftritt der Töchter im Feld des Jägers«, wie die amerikanische Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway die neuen Primatologinnen treffend beschreibt, ändert sich schließlich der Blick.

Die Wissenschaftlerinnen sehen auch auf Frauen, Mütter, Kinder und Tanten und entdecken soziale Netzwerke. Und sie sehen zum ersten Mal auch bei den Affen näher hin. So findet zum Beispiel Jane Goodall bei frei lebenden Schimpansen ausgeklügelte Formen von Werkzeuggebrauch und kooperativer Jagd auf andere Affen. Bei den nächsten Verwandten der Schimpansen, den Bonobos oder Zwergschimpansen, konnten selbst Wild jagende Weibchen beobach­tet werden.

Damit war klar, dass die Jagd auf andere Tiere kein ausschließliches Merkmal der frühen Menschen war. Es gab andere Primaten, die ebenfalls jagten, Werkzeuge herstellten und benutzten. Zu Menschen, die in Kriegen andere Menschen mit modernen Waffen attackieren, sind sie trotzdem nicht geworden. Als Motor für die Entwicklung des frühen Menschen zum moder­nen Menschen waren Jagd und Werkzeuggebrauch als alleinige Faktoren in Frage gestellt.

Auch konnte die Entdeckung der komplexen sozialen Netzwerke unter Frauen die These widerlegen, die Entwicklung der Ko­operation in menschlichen Gesellschaften sei nur auf die gemeinsam koordinierte Jagd der Männer zurückzuführen. Ebenso wurde die den frühen Menschen zugeschriebene hauptsächlich fleischliche Ernährung durch den Verweis auf sich vegetarisch ernährende Primaten ins Reich der Mythen verschoben.

Eine genauere Untersuchung der Löcher in Darts Pavianschädeln ergab, dass sie per­fekt zu Leopardenzähnen passten, und die von Dart als Werkzeuge identifizierten Knochen stellten sich als »ein buntes Durcheinander heraus, das anscheinend von einem reinen Aasfresser in die Höhlen geschleppt wurde« (Cartmill). Viele Knochen wiesen außerdem Spuren auf, wie sie vierfüßige Raubtiere hinterlassen. Das legt den Schluss nahe, dass die Australopithecinen keine Jäger, sondern Gejagte waren. Die Vermutungen, dass die frühen Hominiden hauptsächlich von erbeutetem Fleisch lebten, hatten sich nicht bestätigt.

Es kommt hinzu, das die heutigen Jägervölker in der Kalahari sich zu zwei Dritteln von vegetarischer Kost ernähren. Die Jagdhypothese kann somit zu Recht als widerlegt bezeichnet werden. Das heißt natürlich nicht, dass nicht zu allen Zeiten in der menschlichen Geschichte gejagt wurde. Nur gibt es keine Belege für eine genetische Disposition, die die Menschen dazu zwingt, ein aggressives Jagdpotenzial auszuleben.

Für Paul Parin ist das Jagdfieber die Folge einer Initiation, die den Menschen mit der gleichen Macht erfasst wie das sexuelle Begehren. »Das Ziel der Gier war von jetzt an der Mord an einer Kreatur. Die ge­schlecht­liche Lust hatte sich vom Begehren getrennt und war fortan der Liebe vorbehalten, mit den Verlockungen, Hemmungen und komplizierten Gefühlen, die Liebe mit sich bringt. Wenn mich die Jagdleidenschaft ergreift, ist mir alles, was Jagd ist, zutiefst vertraut«, schreibt Parin. Das bedeutet, die Jagdleidenschaft ist in den Formen ihrer Ritualisierungen beherrschbar. Damit hängt sie aber auch von den jewei­ligen Kulturtechniken ab, die sie erst hervorbringen.

Es gibt also keinen Grund, den Menschen vom »anthropologischen Design her« als Jäger zu begreifen. Man kann ihn mit demselben Recht als Sammler oder Flüchtling bezeichnen. Ihre derzeitige Aktualität zeigt, dass die Jagdhypothese weiterhin virulent ist. Warum sie gerade jetzt hervorgekramt wird, kann man mit einem Blick auf die USA nachvollziehen.

Dort ist der Jägermythos bereits in den neunziger Jahren als Antwort auf den Feminismus wieder ins öffentliche Bewusstsein eingeschrieben worden. Dieses Comeback war auch Ausdruck einer sich verschärfenden sozialen Lage und gehörte zu den Begleiterscheinungen der konservativen Politik, die in George W. Bush schließlich einen Präsidenten fand, der mit seiner Politik sozialdarwinistische Theoreme wieder hoffähig machte und in seiner Sozialpolitik die bürgerliche Familie wieder in die Verantwor­tung einsetzte.

Ähnliches geschieht zurzeit auch in Deutsch­land. Die Familie soll die Kosten übernehmen, die der Sozialstaat nicht mehr tragen kann oder will. Da kann es nie schaden, soziale Rollen als »natürlich« abzuleiten. Das erklärt weder die Familie noch die Jagd, verstellt aber immerhin den Blick auf die tatsächlichen gesellschaftlichen Zusammenhänge. »Die Jagd«, schreibt Parin, »ist eine Leidenschaft, ein Fieber, das Anhänger und Gegner gleichermaßen ergreift. Nur eine Waffe kann ihr bedrohlich werden: die Vernunft.«