»Das ist unser Geld«

Was machen Linke in Caracas? Einige gründen kulturelle Zentren. Um die Frage, was vom »bolivarianischen Prozess« zu halten ist, kommen sie dabei nicht herum. von franziska dröscher und sebastian zehatschek (text und fotos)

Wir sind Revolutionäre. Und das hier unterstützt die Revolution, die bolivarianische, und alle Gegenbewegungen der Welt«, erklärt Piki. Zusammen mit Piki und Ernesto sitzen wir im Schatten riesiger Container auf einem asphaltierten Platz. Das Gelände wirkt öd und leer, trotz der bunt bemalten Bauwagen, die als Büro, Lager und Bühne dienen. Ein drei Meter hoher Elektrozaun trennt uns von der Autobahn auf der einen und einer Avenida auf der anderen Seite. Dahinter liegen die Unterkünfte der Barrios. Das Valle ist eines der ärmeren Viertel in Caracas und gilt als ziemlich unsicher. Wir befinden uns im Tiuna el Fuerte, einem der linken kulturellen Zentren, die in den letzten Jahren in Caracas entstanden sind.

Zum Aufbau der Zentren hat sicher auch beigetragen, dass mit Hugo Chávez und dem »bolivarianischen Prozess« die Finanzierung für solche Projekte relativ leicht zu bekommen ist. Schließlich ist die Förderung von Selbstorganisation offizielle Regierungspolitik. Zudem nimmt die Regierung in ihrem Diskurs für sich in Anspruch, selbst Gegenkultur zu betreiben. »Die Bevölkerung ist die Kultur«, lautet einer ihrer Slogans, der zum Ausdruck bringen soll, dass selbst organisierte Kultur und die Traditionen der ärmeren Bevölkerung gegenüber der Konsum- und der Elitekultur gestärkt werden sollen. Das Tiuna schließt eher an internationale urbane Subkulturen an, Punk, Hiphop und Graffiti. Dennoch verstehen Ernesto und Piki ihr Projekt als Teil des »Prozesses«, in dem die Politik der Regierung eben nur ein Teil sein soll: »Ich glaube, dass das, was in Venezuela passiert, nirgendwo sonst geschieht. Es ist, als ob du dir das Land schnappst und Gegenkultur machst, das ganze Land, der ganze Staat.«

Staatlich unterstützte Gegenkultur

In der von Männern dominierten radikalen Linken gibt es allerdings noch andere Ansichten darüber, was von dieser Politik zu halten ist. Die Leute von Libertario, einer bereits seit elf Jahren bestehenden anarchistischen Vierteljahreszeitschrift, die seit zwei Jahren auch einen Stadtteilladen mit Bibliothek betreiben, lehnen jede Zusammenarbeit mit der Regierung ab. Irgendwo dazwischen stehen Arnoldo und Abelardo, die zu einer der Theater- und Zirkusgruppen vom kulturellen Zentrum in Paraíso, einem Mittelklasseviertel, gehören. Weil die Gruppen in einem Zirkuszelt arbeiten, wird das Zentrum einfach Carpa (Zelt) genannt. Auf das Verhältnis zum Staat und zur Regierung angesprochen, stellt Arnoldo fest: »Ich mache staatlich unterstützte Gegenkultur und stelle dabei den Staat selbst in Frage – paradox. Für mich ist das auch schräg.«

Die drei Projekte sind selbst organisiert und hauptsächlich auf kultureller Ebene tätig. Das Tiuna zieht durch Workshops, Probemöglichkeiten und Konzerte vor allem die Punk- und HipHop-Szene an, was wegen Problemen mit Drogen, Waffen und Schlägereien für eine eher gespannte Beziehung zur Nachbarschaft sorgt. Neben der Möglichkeit, selbst Musik zu machen, geht es darum, Jugendlichen Alternativen jenseits von Gangs und Drogenhandel zu bieten. Deshalb hat die Gruppe vor einiger Zeit auch angefangen, mit ihrer Anlage Konzerte in den armen Vierteln der Stadt zu unterstützen. Eine Mischung aus sozialer Ausgrenzung, Armut, fehlenden Perspektiven und ansprechenden Identitätsangeboten sowie generell machistischen Strukturen haben in vielen Barrios zu einer von Gewalt und Banden geprägten Atmosphäre geführt. Hier setzt die Arbeit des Tiuna an und zeitigt, so Piki, auch Wirkungen: »Statt Waffen oder Munition vom Drogengeld zu kaufen, dealen die Jugendlichen jetzt, um Platten aufzunehmen.« Allerdings bleiben die Erfolge so durchaus widersprüchlich und sind wohl eher punktuell.

Während im Tiuna viel von einem historischen Moment, den es zu nutzen gelte, von Offensive und Revolution gesprochen wird, ist die Stimmung bei Arnoldo und Abelardo von der Carpa gelassener. Das liegt nicht nur daran, dass wir hier gemütlich auf dem WG-Sofa sitzen und Bier trinken. Der Ansatz der Carpa-Leute ist stärker auf die direkte Nachbarschaft bezogen und weniger an aktuellen politischen Entwicklungen orientiert. Die einzelnen Gruppen, die zum Teil schon über zehn Jahre bestehen, nutzen das Zelt für Proben und Vorführungen. Gleichzeitig geben sie Zirkus- und Theater-Workshops für Leute aus der Umgebung. Eine kritische und selbst bestimmte Kultur soll dem Konsum entgegengesetzt werden. Außerdem sollen Beziehungen zu Kulturgruppen aus den nahe gelegenen Barrios aufgebaut werden. Durch gleichberechtigte Kontakte, die nicht dem Verhältnis zwischen Chef und Angestellten entsprechen, soll die soziale Trennung zwischen den Barrios und dem besser gestellten Paraíso aufgehoben werden. Der Traum ist, dass die Carpa irgendwann ganz von der Nachbarschaft getragen wird. Wer kann, soll etwas beitragen, um Straßenfeste und lokale Zirkusgruppen möglich zu machen. Bis dahin ist es aber ein langer Weg: »Die Arbeit muss Schritt für Schritt vorangehen, damit es gut wird. Überstürzt handeln, das geht nicht.«

Mit dieser Idee verbinden Arnoldo und Abelardo das Thema der Unabhängigkeit von politischen Institutionen. Wie das Tiuna wird auch das Carpa zurzeit staatlich unterstützt. Schnell tauchen in der Debatte Begriffe wie Vereinnahmung, Befriedung, ideologische Abhängigkeit auf. Die Frage aber lautet, ob und inwiefern sich die Diskussionen um Autonomie, die wir aus der Linken in Deutschland kennen, auf die Situation in Venezuela mit Chávez und der bolivarianischen Revolution übertragen lassen. Was bedeutet es, sich von einer Regierung fördern zu lassen, die sich nicht zuletzt durch den Anspruch definiert, staatliche Macht an Basisorganisationen abzugeben?

Alles vereinnahmt?

Beide Projekte befinden sich auf Grundstücken, die von staatlichen Einrichtungen zur Verfügung gestellt werden. Das Tiuna hat den Platz vor etwa einem Jahr nach langem Papierkrieg vom Nationalen Ins­ti­tut für Wohnraum bekommen. Das Grundstück, auf dem das Zelt des Carva seit einem halben Jahr steht, gehört einem lokalen Netzwerk für nachhaltige Entwicklung, Núcleos de Desarrollo Endógeno (Nude) genannt. In den Nude-Netzwerken soll eine zentrale Idee chavistischer Politik verwirklicht werden: Sie sind staatlich gefördert, aber selbst organisiert. Das Projekt selbst erhält keine staatliche Unterstützung, allerdings beziehen einzelne Gruppen eine Förderung. So hat die Gruppe von Arnoldo und Abelardo, Arto de Caracas, Subventionen für ihr Theaterstück bekommen und konnte deshalb die Eintrittspreise niedrig halten.

Das Tiuna dagegen, das als Lieblingsprojekt des Bürgermeisters des Großraums Caracas gilt, wird ständig durch Bereitstellung von Infrastruktur unterstützt und hat zudem kürzlich 120 000 Euro zu seiner freien Verfügung erhalten. Trotzdem reicht das Geld nie: »Wir müssen schauen, wie wir mehr Räume schaffen können, aber wir haben nicht genug Geld. Alles ist total langsam, die Bürokratie und so.« Was sie nicht sagen, ist, dass das Tiuna aufgrund seiner guten Beziehungen weit mehr Geld hat als die meisten anderen Projekte. In der Linken werden sie dafür kritisiert, dass sie ihre Mittel kaum für kontinuierliche Arbeiten oder für die Unterstützung anderer Projekte, sondern überwiegend für Konzerte nutzen. Allerdings wird bei den Musikveranstaltungen auch kein Eintritt verlangt.

Für die Leute von Libertario ist beides Ausdruck der Vereinnahmung der sozialen Bewegungen durch Staat und Regierung. Nelson erzählt uns, dass die subventionierten Projekte dazu verpflichtet seien, die Regierungspolitik zu unterstützen, und dass sie damit jede Eigenständigkeit aufgeben. Gerade im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen im Dezember sei es nicht möglich, Kritik zu äußern. Diese Annahme scheint uns erst einmal nahe zu liegen. Warum sollten gerade in Wahlzeiten kritische Stimmen finanziert werden? Auch haben die Leute von Libertario sicher recht, wenn sie den Ansprüchen der Regierung skeptisch gegenüberstehen. Schließlich muss diese, um Macht umverteilen zu können, die eigene Position erhalten. Konsequenterweise finanzieren die Redaktionsmitglieder, um unabhängig zu bleiben, die Zeitschrift Libertario durch den Verkauf und den Stadtteilladen, für den reguläre Miete bezahlt werden muss, aus eigener Tasche.

»Der Staat hat viel Geld!«

Als wir in den Gesprächen mit den Leuten vom Carpa und vom Tiuna fragen, ob die staatliche Unterstützung mit Bedingungen verbunden sei, schütteln sie allerdings den Kopf. »Bis jetzt nicht«, antwortet Arnoldo, er berichtet dann aber vom Versuch der Leute vom Netzwerk Nude, ihnen ein riesiges Transparent mit dem Konterfei von Chávez aufzudrängen, das sie am Zelt anbringen sollten. Das Gegenangebot bestand aus ein paar Jonglierbällen und Akrobatikutensilien. Als er erzählt, dass es kein Problem gewesen sei, dieses Angebot auszuschlagen, wirkt er selbst etwas verwundert. Es sei einfach nichts passiert.

Wichtig sei es eben, betont er, das eigene Projekt samt der nötigen Grundausrüstung erst mal ohne Subventionen zu etablieren, damit man unpassende Angebote auch ablehnen kann. Prinzipiell aber spricht nichts gegen staatliche Finanzierung: »Warum nicht? Ich meine, der Staat hat viel Geld und muss diese Art von Projekten unterstützen. Das Ding ist, dass ich mir dafür keine rote Mütze aufsetzen muss.« Den bolivarianischen Prozess verteidigen sie, weil er ihrer Meinung nach auch radikale Kritik zulässt. »Man muss alles infrage stellen. Ich find’s gut, dass die Revolution die Leute zum Denken bringt, dass die Leute anfangen nachzudenken und nicht einfach alles schlucken. Aber die Revolution selbst werde ich auch nicht so einfach schlucken.« Und so parodiert ihr Theaterstück dann die Gründung eines utopischen neuen Staates, der nicht lange braucht, um absurde Hierarchien hervorzubringen.

Das Tiuna folgt da schon stärker der Regierungslinie. Der bei vielen Linken unbeliebte Bürgermeister wird wohlwollend als »Typ, der uns versteht«, beschrieben. Doch die Wahlwerbung ist auf den Veranstaltungen kaum zu übersehen. Auf einem Hiphop-Konzert in einem der Barrios laufen im Bühnenhintergrund stundenlang Videoclips von der aktuellen Wahlkampagne. Dennoch betonen Piki und Ernesto, dass ihnen die Autonomie des Projekts wichtig sei, und berichten von Plänen, sich langfristig durch den kommerziellen Verleih ihrer Anlage selbst zu finanzieren. Dann aber bestehe die Gefahr, sich in ein normales Unternehmen zu verwandeln.

Arnoldo kritisiert das Verhalten der Leute vom Tiuna als Selbstzensur, die Sanktionen zuvorkommen will, die aber gar nicht existieren. Das Tiuna ist allerdings wesentlich stärker als das Zelt-Projekt auf Regierungsunterstützung aufgebaut worden und wird auch in Zukunft darauf angewiesen sein. Dass Piki und Ernesto sich in die damit verbundene Abhängigkeit begeben haben, hängt wohl auch damit zusammen, dass sie sich dem bolivarianischen Prozess zugehörig fühlen und überzeugt sind, dass wichtige Leute in der Regierung diesen voranbringen wollen: »Chávez ist ein Verbündeter, er versucht, den Staat zu schwächen.«

Und genau darum gehe es ihnen, sagen sie und wenden sich gegen die Bürokratie, die versuche, Projekte wie das Tiuna in den Staatsapparat einzugliedern. Das Geld gehört nicht dem Staat, da sind sie sich mit den Leuten von der Carpa einig. »Das ist unser Geld!«, stellt Piki fest. Es geht nicht darum, den Staat um etwas zu bitten, sondern darum, die Umverteilung des existierenden Reichtums zu fordern. Und die Gewinne des staatlichen Ölkonzerns PDVSA sind nun mal die größte Einnahmequelle des Landes. Die massive Förderung vieler Projekte durch die Regierung führt allerdings auch dazu, dass es sehr schwierig geworden ist, sich selbst tragende Veranstaltungen zu organisieren. Nur wenige Leute sind noch bereit, Eintritt zu zahlen.

Und nicht zuletzt bestätigt die Wahlwerbung vom Tiuna, dass die Einwände, die die Libertario-Redaktion vorbringt, nicht unberechtigt sind, auch wenn die Beziehungen zwischen Projekten und Regierung wohl nicht so eng sind, wie Nelson sie beschreibt. Die Erfahrungen des Carpa zeigen, dass es möglich ist, sich gegen staatliche Vereinahmung zu wehren.

Zwischen allen Stühlen

Die Kritik des Libertario, die von abstrakten Überlegungen aufs Konkrete schließt, tendiert dazu, die Spielräume, die der bolivarianische Prozess eröffnet, zu übersehen. Außerdem wird leicht vergessen, dass ihr Projekt letztlich durch die Lohnarbeit der Mitglieder finanziert wird, was auch nicht widerspruchsfrei ist und zudem für den Stadtteilladen bedeutet, dass er aus Zeitmangel nur selten geöffnet werden kann. Andererseits ist der Libertario eine der wenigen Zeitschriften, in denen eine fundamentale Kritik an der Regierung Chávez von links formuliert und kontinuierlich auf Widersprüche hingewiesen wurde. Denn der Diskurs der Regierung verdeckt nur zu oft eine sozialdemokratische, wenn nicht gar neoliberale Politik, insbesondere in Fragen des Verkaufs der Abbaurechte und der Ausbeutung von Öl, Gas und Kohle.

Nelson beschreibt, wie sie mit ihrer Position, die sich sowohl gegen die chavistische Politik wie auch gegen die aus linker Per­spek­tive völlig indiskutable Opposition richtet, zwischen allen Stühlen sitzen: »Wir machen unsere Arbeit im klei­nen Rahmen und mit großen Schwierigkeiten in diesem Wahljahr. Es gibt den Druck, sich mit einem der beiden Lager zu identifizieren, und unsere Arbeit wird von beiden nicht gern gesehen.« Auch in der Linken sind sie weitgehend isoliert und werden für ihre generelle Ablehnung des bolivarianischen Prozesses scharf kritisiert.

Die Leute vom Libertario zeigen gerade eine Filmreihe zum 70. Jahrestag des Spanischen Bürgerkriegs und planen »libertäre Tage« im August. Das Tiuna organisiert ein Straßenfestival in ganz Caracas und die Jugendtheatergruppe der Carpa hat gerade die Uraufführung ihres ersten Stücks hinter sich. Linke in Caracas kommen um die Frage, was vom Prozess zu halten ist, nicht herum. Sie können sich aber auch nicht den ganzen Tag nur um die Regierung kümmern.