Alles außer Prog

Der Progressive Rock ist der weiße Fleck der Retro-Welle. Teil eins unserer Siebziger-Jahre-Rock-Serie. von uli krug
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Kein Tabu in der Rockmusik ist unerschütterlicher als das, welches den so genannten »Art-Rock« umgibt. Es ist so bindend, dass noch jede Retro-Welle einen weiten Bogen um dieses Genre gemacht hat, selbst wenn modische Accessoires aus seinen goldenen Jahren – Schlaghosen, Mustertapeten – hoch im Kurs stehen. Die stets wiederholten Vorurteile gegen diese Musik, »verkopft«, »elitär«, »abgehoben«, wurden vom Musikjournalismus der späten siebziger Jahre gegen Bands vorgebracht, deren Stücke sich nicht mehr in die Konventionen aus der Zeit fügen wollten, als Rock noch unkomplizierte Tanz­musik für Teenager darstellte. Vieles an dem als Gegenprogramm gefeierten New Wave stellte dann auch einen bewussten Rückschritt dar – vom Sound über die Kleidung bis zur Ikonografie – und besaß ungeachtet der Punkattitüde eine eigentlich erzkonservative und antiintellektuelle Haltung.

Seit damals gelten dieselben Do-Nots: kein Über­schreiten des Single-Formats, keine Dominanz der Tasteninstrumente, keine Rückgriffe auf Kompositionsformen der Kunstmusik, keine ausgedehnten Soli, keine schräge Metrik, keine Synkopierung, kein Verzicht auf Gitarristen/Sänger, keine ungewöhnliche Instrumentierung, kein Hauch von Dissonanz oder gar Atonalität, kein Utopismus – mit einem Wort: keine Experimente (mehr). Dabei war es gerade ein Jahrzehnt her, dass die als psychedelic, also bewusstseinserweiternd apostrophierte Musik und die sie tragende Counterculture komplett mit den Konventionen der zwischen Elvis und den ­Beach Boys angesiedelten Popmusik gebrochen hatten. Die in der Counterculture stattfindenden Umwälzungen von moralischen Normen und ästhe­tischen Formen wurden fast ausschließlich durch die in diesem Kontext produzierte und gehörte Mu­sik symbolisiert, wie sie in den Zentren der Gegenkultur, San Francisco, Los Angeles und London, entstand. Sie adaptierte so gut wie nichts vom bis dato üblichen Rock’n’Roll, eignete sich jedoch den heftig verstärkten und verzerrten Gitarrensound des elektrischen Blues à la Muddy Waters oder Howlin’ Wolf an und übernahm das Faible für lange Instrumentalpassagen und Soli von Miles Davis und die Lust an kakophonischen Einlagen von Sun Ra. Gänzlich neu im Bereich der populären Musik waren der hemmungslose Stileklektizismus und die Verwendung von außermusikalischen Geräuschen; ohne die enormen Fortschritte jener Jahre im Bereich der Tonbandtechnik und der Elektronik wäre die psychedelische Musik nicht denkbar gewesen

Radiostationen, Fanzines und Comic-Magazine des Underground bezeichneten diese neue Musik häufig auch als: Progressive Rock (oder kurz: Prog). Damit ist der Begriff gefallen, mit dem in der Geschichte der populären Musik jene Gattung bezeichnet wird, die bisweilen zu Unrecht als »Bombast-Rock« geschmäht wird. Aber Achtung: Der Begriff »Progressive Rock« blieb schließich für lediglich einen Abkömmling von mehreren aus der Musik der Counterculture reserviert, die ja bisher generell als Progressive Rock bezeichnet worden war: Diese entwickelte sich auseinander in stilistisch klar voneinander getrennte Rock-Genres, deren Umrisse ab etwa 1970 sichtbar wurden. Neben dem Progressive Rock und dem nah verwandten Jazz-Rock waren das der Heavy Metal und der Country-Rock im weitesten Sinn. Diesen Weg der Revitalisierung traditioneller amerikanischer Popu­lärmusik sollten die wüsten amerikanischen Acid-Rock-Bands wie Grateful Dead beschreiten.

In England entwickelte sich die psychedelische Musik in drei Hauptrichtungen: Erstens aus der ausschließlich auf heftig verzerrte Gitarren setzenden Musik von Jimi Hendrix’ Experience und Cream. Ihr Problem war, dass sie die eher schlichten, dem traditionellen Blues-Schema entsprungenen Ideen durch endlos improvisierendes Solo-Spiel überdehnte - was sich beim britischen Hard-Rock noch lange fortsetzen sollte. Eine zweite Strömung von Bands integrierte Blasinstrumente in einen zunehmend von Keyboards bestimmten Sound. Sie verließen die Form des Pop-Songs zugunsten langer und komplexer Instrumental-Passagen mit häufigen Tonart- und Taktzeit-Wechseln. Colosseum und If entwickelten einen Jazz-Rock, der sogar zur modernen E-Musik Bande knüpft (Soft Machine u. ä.).

Der dritte Pfad des Progressive Rock nimmt seinen Anfang beim Sergeant-Pepper-Album der Beatles, dessen einzelne Songs keine besondere Qualität besitzen, obwohl auf dem Cover Stockhausen und in der Musik Streichquartette á la Wiener Schule herbeizitiert werden. Wirklich neuartig aber war, dass es »Sergeant Pepper« gelang, die psychedelische Qualität zu erhalten, ohne in sterile und öde Solo-Freak-Outs auszuufern. Das Album zog die Konsequenz daraus, dass der neue Rock Formen, Zeit­dimensionen, Themen und Instrumentierungen hergebrachter Pop-Musik sprengte; es griff deshalb auf Kompositionstechniken der Kunstmusik des 19. bzw. des frühen 20. Jahrhunderts zurück: das Konzeptalbum als Neuauflage des Schubertschen Liederzyklus.

Moody Blues veröf­fent­lichten Ende 1967 mit »Days Of The Future Passed« ein Konzeptalbum, das sich der Mehrsatzsuite bediente, um ein außermusikalisches Thema im Sinne der Programmmusik zu illustrieren: das Erleben eines ganzen durch­schnittlichen Tages wurde mit Orchesterbegleitung vertont. Die Mehrsatzsuite griff 1968 Procol Harum mit dem 17minütigen Stück »In Held Twas In I« auf, das vielfältige Themen und »klassische« Klangfarben unter eine einigende Idee bringt. Ein Vorbild für unzählige spätere Kompositionen des Progressive Rock. Weitere Vorreiter sind The Nice und Pink Floyd. Nice verbannten den Gesang fast völlig und ersetzten ihn durch die absolute Dominanz der Tasteninstrumente, für deren effektvolles Spiel Keith Emerson die gängige Klassik plünderte (und dessen etwas dubiose Vorliebe für den englischen Spätromantiker Gustav Holst die Musik von Emerson, Lake & Palmer bestimmen sollte), während Pink Floyd vor allem die elektronische Integration außermusikalischer Geräusche und die Klangverfremdung der typischen Rock-Instrumente vorantrieben.

Damit waren die Elemente für etwas Neues gegeben, den Progressive Rock: »Dauerhafte Nutzung von aus der Klassik stammenden Ton­farben auf dem Mellotron und der Hammond-Orgel; die Verwendung rockuntypischer Akustikinstrumente; lange Stücke, die aus klar artikulierten Einzelsektionen bestehen; lange Instrumentalpassagen, Sprengen des typischen Song-Charakters; extensives Expe­rimentieren mit elektronischen Effekten und neuartigen Aufnahmetechniken«, zählt der Mu­sikwissenschaftler Edward Macan auf.

King Crimsons »In The Court Of The Crimson King« aus dem Jahr 1969 war das erste Album, das all diese Elemente zu einem neu­artigen Sound zusammenfügte: Es variiert zwischen einem von düster-melancholischen Mello­tronklängen getränkten Sound mit akustischen Instrumenten einerseits und und fast schon chaotisch-aggressivem Zusammenspiel zwischen verzerrter Gitarre und Alt-Saxophon andererseits. Damit sind auch die Ecksteine des britischen Progressiv Rock gesetzt: auf der einen Seite die Yes- und Genesis-Variante, der »symphonische« Zweig, der von der Spannung zwischen verschroben-pastoralen Elementen und rockiger Rhythmus-Sektion zehrt; während auf der anderen Seite Gentle Giant und auch Van der Graaf Generator mit ihrem komplexen und eklektizistischen Gebilden aus sprunghafter Rhythmik, hochvarianter Instrumentierung und unerwarteten Wendungen stehen. Die raffiniert-lakonischen Konzeptalben von Jethro Tull markieren in etwa den gehobenen Mainstream des Genres.

Uli Krug ist freier Journalist und Redakteur der Zeitschrift bahamas. In der nächsten Folge schreibt er über den legendären Sound des Moog.

Schlüsselalben des englischen Progressive Rock:Procol Harum: Shine On Brightly, Dezember 1968Pink Floyd: Ummagumma, Oktober 1969King Crimson: In The Court Of The Crimson King, Oktober 1969Colosseum: Valentyne Suite, November 1969Soft Machine: Third, Juni 1970Van der Graaf Generator: H To He Who Am The Only One, Dezember 1970Emerson, Lake & Palmer: Tarkus, Juni 1971Jethro Tull: Thick As A Brick, April 1972Yes: Closer To The Edge, September 1972Genesis: Foxtrot, Oktober 1972Gentle Giant: Octopus, Dezember 1972King Crimson: Lark’s Tongues In Aspic, März 1973

Literatur zum Thema:

Piero Scaruffi: A History of Rock Music 1951 – 2000. Universe, 2003

Allan Moore: Rock: The Primary Text. Ashgate Press, 2001

Edward Macan: Rocking The Classics. English Progressive Rock And The Counterculture. Oxford iUniversity Press, 1997

Ed Ward, Geoffrey Stokes & Ken Tucker: Rock Of Ages: The Rolling Stone History Of Rock’n’Roll, Summit Books, 1986

Tibor Kneif (Hg.): Rock in den 70ern. Rowohlt, 1980

Websites:

www.progressiverock.com, www.progarchives.com, www.vintageprog.com, www.gepr.net/geprfram.htm