Aufhören!

Ein Auszug aus Bruno Preisendörfers neuem Roman »Die letzte Zigarette«

Kreta wollte nie aufhören. Jahrelang rauchte sie gleichmäßig ihre drei mal drei Roth-Händle, die ich jahrelang schauderhaft fand. Und jetzt sehne ich mich nach ihrem Duft. Heute weiß ich, dass ich Kreta an dem Tag verlor, an dem sie eine Roth-Händle vor meinen Augen zerbrochen und gesagt hat, sie würde erst wieder rauchen, wenn ich entweder mit meiner »komischen Paula« Schluss gemacht hätte oder ausgezogen wäre.

Ich brauchte einen Monat, um mit Paula Schluss zu machen, und Kreta kehrte zu ihren drei mal drei Roth-Händle pro Tag zurück. Ich weiß, dass sie schon begonnen hatte, vorsichtig in Erwägung zu ziehen, mir Paula irgendwann zu verzeihen. Nur selbst konnte ich mir Paula nicht verzeihen.

Und vor allem, ich kam nicht von ihr los, obwohl die Affäre beendet war und beendet blieb. Ein halbes Jahr, nachdem Kreta die Zigarette zerbrochen hatte, beschlossen wir, vorübergehend auseinander zu ziehen, um Abstand zu gewinnen und dadurch unsere Ehe zu retten. Wir gewannen den Abstand und verloren uns. Ich habe Kreta seit dem Termin beim Scheidungsrichter nicht mehr gesehen.

Nach der Prozedur standen wir verlegen auf der Treppe zum Gerichtsgebäude. Plötzlich begann sie über Alain Resnais’ Film Smoking / No smoking zu sprechen, den wir während unserer Ehe mehrmals zusammen gesehen hatten, zwei Mal im Kino und noch ein oder zwei Mal im Fernsehen. »Wie ein Augenblick das ganze Leben verändern kann«, sagte Kreta, »Smoking – No smoking«, und zuckte mit Tränen in den Augen die Schultern.

Dann holte sie eine Roth-Händle aus der Handtasche, gab mir einen Kuss auf die Wange, zündete die Zigarette an und ging rasch davon.

*

Von meiner Ehe mit Kreta abgesehen, spielte Roth-Händle nur in meiner Anfangszeit als Raucher eine gewisse Rolle, als ich mit siebzehn in einer verqualmten Bahnhofskantine saß, Flaschenbier trank, filterlose Zigaretten verschiedener Marken ausprobierte und vor Ekel Bauchweh hatte. Es ist viel schmerzhafter, mit dem Rauchen anzufangen, als damit aufzuhören.

Ich saß nach der Schule in der Bahnhofskantine, starrte grübelnd durch die schmierigen Fenster und wartete darauf, dass der rot-beige TEE durch die Halle brauste. Erst danach fuhr der Bummelzug ein, der draußen auf einem Nebengleis schon bereitstand. Ich rauchte filterlose Reval (10 mg, 0,9 mg, 6 mg), Gauloise brune (10 mg, 0,7 mg, 9 mg) und manchmal Roth-Händle.

Es war eine trübe Zeit. Nicht mehr Kind und noch nicht erwachsen, rannte ich quer­köpfig und im Herzen ratlos gegen das an, was man damals »die Verhältnisse« nannte. Die filterlosen Ungeheuer, die mir die Lunge ausbrannten und die Spitzen des Zeige- und des Mittelfingers gelb färbten, sollten Signale des Aufruhrs sein und quälten doch nur mich selbst.

Damals standen zwei Werte auf den Schachteln: Nikotin und Kondensat. Mit diesem seltsamen Ausdruck ließen sich so hässliche Worte wie »Teer« und »Kohlenmonoxid« vermeiden. Die Zahlen standen klitzeklein auf den Steuerzeichen, und Warn­hinweise fehlten. Es gab damals eine EWG, aber noch keine EU-Gesundheitsminister.

Anstelle der schwarz gerahmten Hinweise hatte die Badische Tabakmanufaktur Roth-Händle, Lahr i. B. auf ihre Schachteln geschrieben: »Ein Zug durch die noch nicht brennende Cigarette überzeugt Sie von dem feinen und würzigen Aroma dieser klassischen Tabakmischung.« Dieser Hinweis steht auch heute noch auf der Längsseite der Packung direkt über der kleinen Todesanzeige.

Auch wenn Kreta verächtlich die Brauen hochziehen würde: Ich finde, die Badische Tabakmanufaktur hat Recht: Roth-Händle schmecken am besten unangezündet. Aber das gilt auch für Schilfrohre, Zigarillos und Filterzigaretten.

*

Anne könnte die Methode »Rauchen ohne Feuer« gefallen. Ich sehe sie vor mir, wie sie konzentrierte Züge durch die kalte Zigarette nimmt, hyperventiliert und dabei ES ATMET, ES ATMET flüstert.

Neulich war ich wieder einmal in ihrem Atelier und habe mit Erstaunen festgestellt, dass sie sich auf eine Marke festgelegt hat. Das widerspricht ihrer ganzen »vision du monde«, wie sie sagen würde, oder im Stil von Kreta ausgedrückt: Es widerspricht dem, was Anne für ihre Weltanschauung hält. Bis zu ihrer überraschenden Festlegung war ihr Sortiment an Zigarettenmarken so vielfältig wie ihre Kunst, mit dem Rauchen aufzuhören.

Nun raucht sie American Spirit, diese grün-alternative Indianermarke, die deshalb so gesund ist, sagt Anne, weil der verarbeitete Tabak unparfümiert und naturbelassen bleibt.

Vor allem enthält er kein Ammoniak. Das ist der Stoff, der Melanie glücklich macht. Er entsäuert den Rauch und sorgt dafür, dass die Lunge das Nikotin besonders schnell aufnimmt und in Sekunden zur Hirnzentrale, Abteilung Belohnen weiterschickt.

Ammoniak wurde erstmals 1965 von Philip Morris eingesetzt, um die Marlboro zu tunen. Mitte der zwanziger Jahre war die Marke als Damenzigarette lanciert worden, Mitte der Fünfziger begannen die Cow­boys, die Lassos zu schwingen und Kun­den zu fangen. Aber in Wahrheit haben nicht sie aus der Marlboro die meistverkaufte Zigarette der Welt gemacht, von der jährlich 200 Milliarden zwischen zusammen­gepressten Lippen verglühen, sondern der Ammoniak-Flash, dem auch Melanie nach ihrer Javaanse-Jongens-Jugend verfallen ist.

Verglichen mit den drei Marlboro-Sorten Melanies sind die vier Sorten American ­Spirit von Anne eine treuherzige Angelegenheit. Der politisch korrekte Indianer im Logo raucht sogar Pfeife.

Ich muss Anne fragen, ob der Tabak ihrer neuen Marke ökologisch angebaut wird, er wäre dann noch gesünder. Die Spirit gibt es in Orange (3 mg, 0,4 mg, 4 mg), Gelb (5 mg, 0,6 mg, 6 mg), Hellgrün (7 mg, 0,8 mg, 8 mg) und Türkis (9 mg, 1,0 mg, 10 mg).

Anne raucht sie alle durcheinander. Die vier Farben der Spirits haben die vier Farben der nicht mehr zelebrierten Harmonys abgelöst. Das gibt den Entwurfsskizzen für ihre prachtvollen Decken einen neuen Touch. Vielleicht kann ich ihr eine dieser Skizzen abschwatzen, bevor sie zur nächsten Periode übergeht und erneut die Farben wechselt.

Meine kurze Liebe mit Anne, aus der eine wunderbare und gleichbleibend ungetrübte Freundschaft geworden ist, fällt in die Zeit vor meiner Ehe mit Kreta. Die beiden kennen und mögen sich. Mich hat das lange gewundert. Zwischen der spirituellen Anne und meiner kopfstarken Kreta könnte der Unterschied größer nicht sein. Aber vielleicht sind sie gerade deshalb befreundet.

Ich weiß, dass die beiden sich immer noch treffen, aber wenn ich mich bei Anne nach Kreta erkundige, legt sie sofort ihre Vielseitigkeit ab. Sie wird dann so störrisch wie der Esel, der einst zwischen meinem und Kretas Auto mitten auf einer schmalen Bergstraße stand.

Nur hat der Esel damals dafür gesorgt, dass Kreta und ich uns kennen lernten. Sie stieg aus ihrem verbeulten Miet-Fiat, ich stieg aus meinem verbeulten Miet-Fiat, und gemeinsam schoben wir so lange an dem Tier herum, bis es sich wieder in Bewegung setzte und die wer weiß vor wie viel Stunden begonnene Überquerung der Straße vollendete.

Kreta und ich rochen mit lachenden Iiiihs und Puuuhs an unseren Fingern, denn das Fell des Esels war so wenig parfümiert wie der Tabak der Spirits von Anne. Nach dem gemeinsam erfochtenen Sieg verabredeten wir uns zum Abendessen in dem Restaurant am Marktplatz des Dorfes, in dem sich auch die Tankstelle befand, bei der wir beide unsere verbeulten Fiats gemietet hatten.

Anne kennt diese Geschichte, wir haben oft darüber gelacht bei gemeinsamen Aben­den zu dritt – oder zu viert, wenn Anne ei­ne ihrer vielseitigen Liebschaften mitbrachte. Was gäbe ich nicht für einen solchen Abend, Kreta, wenn du mich schon nicht allein treffen willst. Ich würde für ihn mit dem Rauchen aufhören, gleich, auf der Stelle, in die­sem Augenblick.

*

Philine lernte das Rauchen bei unseren im Bett verbrachten Sonntagvormittagen, als ich ihr den Zeno Cosini vorlas mit dem Versprechen, nach dem Ende des Romans keine Zigarette mehr anzurühren. Der Triester Schriftsteller Italo Svevo, der trotz seines Vornamens deutsche Wurzeln hatte und in Wahrheit Ettore Schmitz hieß, ließ seinen Zeno Cosini im Roman all die zahllosen vergeblichen Vorsätze niederschreiben, die er im wirklichen Leben selbst gefasst hatte – nicht minder vergeblich.

Kein realer Schriftsteller und keine fiktive Figur haben mehr letzte Zigaretten geraucht als Italo Svevo und Zeno Cosini. Der Schriftsteller schreibt an seine Verlobte: »Was ich jetzt rauche, ist die letzte Zigarette! Caro bombon! Wenn ich nicht einmal das fertig bringe, was werde ich dann für Dich im Leben leisten können? Nichts!«

Die Romanfigur schreibt: »Ich bin überzeugt, dass die Zigarette anders und bedeutsamer schmeckt, wenn sie die letzte sein soll.«

Der Schriftsteller bemerkt über sich: »Er verbringt sein Leben damit, die letzte Zigarette zu rauchen.«

Der Romanheld bedeckt während seines Studiums die Tapete der Zimmerwand mit den Daten und Uhrzeiten lauter letzter Ziga­retten. Dann kündigt er die Wohnung. »Ich verließ das Zimmer wie einen Friedhof meiner guten Vorsätze.«

Italo Svevo hörte erst auf zu rauchen, als er starb.

Zeno Cosini, der unsterblich ist, wird eine Letzte nach der anderen anzünden, solange es Leserinnen und Leser gibt.

Oh ultima sigaretta, die du so bedeutend schmeckst, wenn du die letzte sein sollst, wie ich dir entgegenfieberte, der Großen, Letzten, Allerletzten in Svevos Roman und in meinem verliebten Leben. Doch die Einhaltung des Versprechens wurde mir nicht abgefordert. Unsere Liebe ging noch vor dem Roman zu Ende.

Philine machte nur zarte Erfahrungen mit dieser »widerlichen Angewohnheit«, wie das Rauchen von Zeno bezeichnet wird, der sich gern »armer Cosini« nennt. Philine indessen erwies sich als resistent gegen Nikotin und Ammoniak, gegen Benzol, Form­aldehyd, Blausäure und die zwei- oder viertausend anderen Gifte, die in Zigaretten enthalten sind. Sie gehört zu jener seltenen und besonders schutzwürdigen Gattung tatsächlicher Gelegenheitsraucher, die es fertig bringen, wochenlang nicht an Zigaretten zu denken und sich dann an einem beschwingten Party-Abend durch die Runde schnorren und eine halbe Schachtel wegrauchen, ohne es überhaupt zu merken.

Während ich vorlas, wie Zeno sich mit Zigaretten und Vorsätzen quält, hatte Philine, von mir unbemerkt, eine aus meiner Packung gefischt. Als das Feuerzeug knipste und ich gleich danach den Rauch roch, hörte ich überrascht mit dem Lesen auf. Zauber­haft, wie sie nun einmal war, lag sie mit einer glimmenden Zigarette in der Hand nackt neben mir auf dem Rücken und sagte: »Lies doch einfach weiter.«

Ich warf einen raschen Blick auf ihren zauberhaften Nabel, gehorchte und lieh Zeno erneut meine Stimme: »Zuletzt waren meine Tage angefüllt mit Zigaretten und mit Vorsätzen, nicht mehr zu rauchen, und, um gleich alles zu sagen, von Zeit zu Zeit sind sie es immer noch. Der Reigen der letzten Zigaretten, der mit zwanzig eröffnet wurde, dreht sich immer noch. Der Vorsatz ist nur weniger streng geworden, und meine Schwäche trifft in meinem alt gewordenen Gemüt auf mehr Nachsicht.«

Philine begann zu kichern, verschluckte sich am Rauch und hustete ihn aus der Spei­seröhre, während sie die Zigarette tapfer in der Hand behielt, schließlich war es ihre erste.

Ich wartete, bis sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie den nächsten Zug nehmen konnte, und fuhr fort: »Im Alter lächelt man über das Leben und über alles, was dazugehört. Ja, ich kann sagen, dass ich seit einer gewissen Zeit viele Zigaretten rauche – die nicht die letzten sind.«

Dann kam ich zu der Stelle, wo Zeno vom Verlangen nach Zigaretten zum Verlangen nach Frauen übergeht. Er bekennt beschämt, die Frauen gefielen ihm hauptsächlich »stückweise«, so drückt er sich aus, bei der einen der Hals, bei der anderen die Brust und so weiter. Dann sagt er traurig: »Gesunde Liebe umfasst die ganze Frau und nur sie allein, mitsamt ihrem Charakter und ihrer Intelligenz.«

Philine hatte sich aufgesetzt und schüttel­te sich vor Lachen. Ein langes Aschestück fiel in ihren Schoß. Ich nahm ihr die Zigarette weg und drückte sie aus, dann machte ich einen Finger feucht und tupfte vorsichtig die Asche aus dem zauberhaften Haar. An diesem Tag lasen wir nicht weiter.

*

Carmen legte zehn Tage lang Scheit für Scheit in ihr Fegefeuer und rauchte und rauchte und rauchte. Es war schrecklich mit anzusehen, und beinahe wäre ich es gewesen, den sie in diesen Tagen zum Nicht­raucher bekehrt hätte. Die Luft in ihrer Woh­nung war undurchsichtig und schwer, überall standen volle Aschenbecher herum und verbreiteten dieses ganz besondere, jedem nikotinsüchtigen Menschen vertraute Todes­aroma.

Carmen ekelte sich furchtbar, aber die Aschenbecher blieben ungeleert. Sie wollte den Erfolg ihrer Methode nicht gefährden. Ihre Augen schwollen zu, die Nase klang beim Sprechen verstopft, und die Hustenanfälle, von denen Carmen gepeinigt wurde, hätten sogar das Mitleid der tuberku­lösen Patienten auf dem Zauberberg erregt, den sie mindestens dreimal gelesen hatte.

Sobald ein Anfall vorüber war, fingerte sie die nächste aus der Schachtel und zündete sie mit zitternden Händen an. In den letzten drei Tagen ihrer mörderischen Kur hatte ich Besuchsverbot.

Den ersten Tag ihres neuen Lebens wollten wir gemeinsam mit einem Ausflug verbringen, und ich hatte ihr versprochen, an diesem Tag ebenfalls nicht zu rauchen. Als ich kam, um sie abzuholen, standen Türen und Fenster sperrangelweit offen, das Bett war abgezogen und die Waschmaschine lief. Carmen strahlte, und die Sommersprossen in ihrem Gesicht schienen zu tanzen. Sie empfing mich in einem frisch gewaschenen und vom Trockner flauschig geblasenen Bade­mantel, und als ich sie küsste und den Mantel abstreifte, kam nichts als ihre liebe Figur zum Vorschein.

Hinterher lagen wir nebeneinander auf dem Flokati und naschten von dem Potpourri aus Bananenscheiben, Ananas- und Apfelstücken, das sie vorbereitet hatte. Von nun an, sagte sie, gibt es nur noch frisches Obst und Gemüse.

Ich hielt das für ein schlechtes Zeichen, besonders das »nur noch« erregte meinen Argwohn. Aber diesmal war ich klug genug, den Mund zu halten, um nicht wieder die vulkanische Verwandlung meiner blonden Carmen in ein mériméesches Ungeheuer zu erleben.

Als wir uns zu dem Ausflug fertig machten und sie die Fenster in Kippstellung brachte, fiel mir in ihrem Bücherregal ein großes Einweckglas in die Augen. Mich schauderte. Es stand neben einer zerlesenen Ausgabe des Zauberberg und war randvoll mit Zigarettenkippen. »Ich verstehe es nicht«, sagt Hans Castorp in diesem Roman, »wie jemand nicht rauchen kann.«

Was für Carmen die Menthol-Zigaretten waren, sind für ihn die Zigarren. Auf das Ein­weckglas voller bis zum Filter abgerauchter Kippen hatte Carmen eine Art Etikett geklebt, das sich als Zitat Hans Castorps erwies, als ich näher herantrat, um es zu lesen: »Ein Tag ohne Tabak, das wäre für mich der Gipfel der Schalheit, ein vollständig öder und reizloser Tag, und wenn ich mir morgens sagen müsste: Heute gibt’s nichts zu rauchen – ich glaube, ich fände den Mut gar nicht aufzustehen, wahrhaftig, ich bliebe liegen.«

Das sprach Carmen aus der Seele, und doch hatte sie mit Brachialgewalt den Absprung geschafft und ihre Sucht begraben. Vorsichtig erkundigte ich mich nach dem gläsernen Sarg. Sanftmütig setzte sie mir auseinander: Immer dann, wenn das Verlangen nach einer Zigarette sie überkäme, würde sie die Metallspange lösen, den Deckel hochklappen und die Nase in das Weckglas halten.

Ich weiß nicht, wie oft Carmen an ihrem Kippengrab geschnüffelt hat, aber es dauerte fast drei Monate, bis sie es in die Mülltonne warf und die roten Dunhill zu rauchen begann.

Mit Carmen war ich während meiner Studienzeit zusammen. Wir leben schon lange nicht mehr in der gleichen Stadt, aber ein- oder zwei Mal im Jahr treffen wir uns. Sie ist noch etwas rundlicher geworden, führt eine eigene kleine Buchhandlung, in der Rauchverbot herrscht, ist mit einem charmanten Nichtraucher verheiratet und hat zwei blonde, sanftmütige Töchter im Alter von neun und elf Jahren.

Sie ist überhaupt keine fette, blöde Blondine, wie sie damals von sich behauptete, und sie hat ihr Leben im Griff – allerdings auch die roten Dunhill, für die sie den Kindern zuliebe auf den Balkon geht.

*

Melanie bin ich zuletzt begegnet, als sie sich gerade zum Zehnerquantum hinabgearbeitet hatte, das sie stabilisieren und halten wollte.

Sie konnte an nichts anderes mehr denken als an ihre Ration. Wann sie die erste rauchen würde. Wann die zweite. Wie weit sie mit der dritten käme. Und so weiter durch den ganzen Tag. Und ob sie am Abend die zehnte noch in der Schachtel haben würde. Und wie schlimm sie nach der zehnten und letzten vor dem Nichteinschlafenkönnen in der Nacht vom Verlangen nach der elften, allerletzten und der zwölften, allerallerletzten gepeinigt werden würde.

Sie war wirklich verzweifelt. Sie saß mir am Cafétisch gegenüber, die Schachtel auf- und zuklappend, Zigaretten herausziehend und hineinschiebend. In ganzen Serien von Übersprungshandlungen knipste sie am Feuerzeug herum, ohne sich Feuer zu geben, und redete ununterbrochen vom Rauchen und wie glücklich sie darüber sei, endlich die Umerziehung vom Sucht- zum Genussrauchen geschafft zu haben.

Dann hielt sie es nicht länger aus, griff betont selbstbeherrscht nach der Schachtel, legte die Schachtel noch einmal hin, fingerte sich endlich eine heraus, steckte sie in den Mund und zündete sie an.

*

Sie wäre zu einem Mord fähig gewesen in diesem Moment, um zu verhindern, dass ihr jemand die Zigarette wegnimmt. Sie inhalierte den Rauch wie einst Franziska van Almsick die Luft am Ende der Bahn und starrte nach dem dritten oder vierten Zug gedemütigt auf den Lippenstiftabdruck am Mundstück. Ich konnte es nicht mit ansehen, schnorrte trotz der sofort in ihren Augen aufflackernden Panik ihre Nummer sechs und riet: Melanie, glaub mir, das geht so nicht, du musst ganz aufhören.

Sie schaute mich an, als hätte ich etwas unerhört Obszönes gesagt. Zum Beispiel: Ich liebe dich! Oder etwas in dieser Art.

*

Ich selbst hörte zum ersten Mal mit neunzehn auf, zwei Jahre, nachdem ich in der Bahnhofskantine angefangen hatte. Ich unvollendete gerade einen Roman, der von einer unglücklichen Liebe handelte, außerdem von Melanie, und war selbst unglücklich verliebt, dito.

Auf diese, Wirklichkeit und Fiktion ver­mischende Weise gelangte ich zu der Überzeugung, ein neues Leben beginnen zu müssen. Das ist mit neunzehn schwierig, denn in diesem Alter fängt sowieso alles ununterbrochen an. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, wie der Kollege bemerkt hat, dessen Steppenwolf ich damals mit angemessen juveniler Verzweiflung las.

Den Zauber des eigenen Anfangs machen sich die meisten Menschen erst in der Erinnerung bewusst: Zum Beispiel diese alte Dame, von der wir uns vorstellen wollen, geliebte Leserin, verehrter Leser, dass sie an der Bushaltestelle sitzt, dem kleinen Pudel in ihrer Handtasche das Köpfchen krault und dabei zu den Jungs hinüber­schielt, die gerade die Schachtel kreisen lassen.

Sie hat vor zwei Wochen aufgehört, an ihrem siebzigsten Geburtstag, und ihre erste Zigarette etwa in dem Alter geraucht, in dem die Jungen jetzt sind. Wie schön ihr Haar damals war, manchmal hatte sie nach dem Waschen selbst daran geschnuppert, wie klar und leuchtend ihre Augen, wie rosig und straff die Haut, wie voll und rot die Lippen; und wie die süßen jungen Männer mit den niedlichen Flaumbärtchen und den verletzlichen Adamsäpfeln in den mageren Hälsen mit ihr geflirtet hatten; und wie herrlich die erste Zigarette gewesen war. Daran denkt sie besonders gern.

Viele behaupten, die erste sei eklig. Ihre hat wunderbar geschmeckt, eigentlich war es die beste ihres Lebens, und sie hätte bes­ser daran getan, schon diese erste zugleich als ihre letzte zu rauchen, anstatt vierundfünfzig Jahre später die 385 278 ste, denn so viele waren es bei durchschnittlich 20 Stück am Tag, ihre beiden Schwangerschafts­zeiten abgerechnet, in denen sie fast auf null reduziert hatte.

Wie sie so die jungen Hunde betrachtet, die bestimmt denken, dass sie eine alte Hexe ist, die wegen der Raucherei gleich anfängt zu schimpfen, bekommt sie der­maßen Lust auf eine Zigarette, dass sie den Reißverschluss an der Seite der Pudeltasche aufzieht und eine Schachtel der oft unterschätzten Eve (10 mg, 0,7 mg, 10 mg) herausholt, die sie für den Rückfall bei sich führt.

Die Streichhölzer kann sie nicht finden, und so winkt sie einem der Jungs, der brav heranschlurft mit seinen Weltraumturnschuhen und dem Hosenboden in den Kniekehlen. Der Junge beugt sich zu der alten Dame hinunter und gibt ihr Feuer. Für einen kurzen Moment fällt eine blau gefärbte Sträh­ne des jungen Mannes in das weiße Haar der alten Frau, und die beiden lächeln sich an.

Dann schlurft der Junge zurück zu seinen Freunden, die Dame raucht zufrieden ihre Eve. Und zu dem Pudel, der aus der Handtasche vorwurfsvoll zu ihr emporblickt, sagt sie schnippisch: »Na und!«

*

Mit neunzehn vergrub ich meinen unvollendeten Roman über meine unvollendete Liebe zu Melanie im Wald, hörte mit dem Rauchen auf und begann ein neues Leben, indem ich anfing, einen neuen Roman zu schreiben, der wieder von Melanie handelte, und davon, wie ein junger Mann gereift und erfahren aus einer unglücklichen Liebe hervorgeht, sein Leben ändert, einen unvollendeten Roman im Wald vergräbt und die Stadt verlässt.

Daraufhin fällt es der Frau wie Schuppen von den Augen, und sie begreift das ganze Ausmaß ihres Verlusts. Sie folgt dem jungen Mann in die Stadt, spürt ihn auf, fällt ihm drei Seiten lang tränenreich um den Hals, und wenn sie nicht gestorben sind, dann lieben sie noch heute.

Ich habe damals tatsächlich die Stadt verlassen, aber nicht wegen Melanie, sondern wegen meines Studiums. Den Militär- beziehungsweise Zivildienst hat mir der Musterungsarzt unter besonderer Berücksichtigung meiner Kurzsichtigkeit erspart.

Die wirkliche Melanie dachte anders als die im Roman nicht daran, mir aus unserer Kleinstadt in die Universitätsstadt zu folgen, um mich »im Dschungel der Metropole« aufzuspüren – so hatte ich oder mein Erzähler, vielleicht war das auch dasselbe, formuliert, von der Großstadt noch ganz überwältigt.

Das Aufspüren war nicht schwer, denn ich stand im Telefonbuch. Es dauerte drei Monate, bis sie anrief – ich hatte mit höchs­tens drei Wochen gerechnet – und mich fragte, ob wir uns nicht treffen wollten. Da ich in der Institutsbibliothek über den Kartei­schrank des alphabetischen Katalogs hinweg, der seinerzeit noch aus von Hand getippten Karten bestand, einer sanftmütigen Blondine in die blauen Augen geblickt und vor der Bibliothek bereits die ersten Mentholzigaretten Bitte rauchen Sie nur, wenn das Signal erscheint mit ihr geteilt hatte, fiel es mir nicht schwer, in Melanies Angebot einzuschlagen, gewissermaßen, denn es wurde ja am Telefon gemacht.

Aus meiner verunglückten Jugendliebe wurde im Lauf der Jahre die »älteste Freundin«, ohne die kein Mann, sei er verheiratet oder nicht, durchs Leben gehen sollte. Keinen Menschen kenne ich besser als Melanie, ausgenommen Kreta und Anne, auch wenn mir das »Erkennen« im biblischen Wortsinn bei Melanie versagt geblieben ist.

Seit ich Mentholzigaretten mit Carmen rauchte Bitte rauchen Sie nur, wenn das Signal erscheint hatte ich auch die Arbeit an meinem zweiten Roman über Melanie  &  mich eingestellt. Dieses unvollendete Manu­skript vergrub ich nicht im Wald, sondern warf es einfach mitsamt der Kladde in die Mülltonne.

Nur als der Deckel zufiel und wie zum Hohn ein schnappendes Geräusch machte, streifte mich ein Hauch der Wehmut des Scheiterns.

Während ich die Treppe zu meiner Mansar­de hochstieg, überlegte ich ein paar verfüh­rerische Sekunden lang, das Manuskript in einen Umschlag ohne Absender und Adresse zu stecken und einem Briefkasten der Deutschen Bundespost anzuvertrauen; so ähnlich, wie einst die Mütter, die sich nicht in der Lage sahen, ihre Babys groß zu ziehen, sie auf die Kirchenpforte legten.

Aber dann geschah etwas wirklich Sonder­bares: Mir fiel ein, dass ich den Text in meinem Leichtsinn der Neugier der Mülltonnen mitbenutzenden Nachbarschaft preisgegeben hatte, auf der Kladde stand sogar mein Name.

Ich holte eine Plastiktüte aus der Küche, um mein verworfenes Buch in ein Leichentuch zu wickeln, und ging noch einmal hinunter in den Hof. Als ich den Deckel der Müll­tonne hob, die erfahrene Leserin und der erfahrene Leser werden es schon vermuten, war das Manuskript nicht mehr da.

Aus dieser Situation könnte ich nun eine spannende literarische Zukunft entwickeln: Nachdem ich als Schriftsteller berühmt geworden bin, erhalte ich eines Tages von einem begeisterten Leser, oder noch lieber: von einer begeisterten Leserin mein verschollenes, unvollendetes Manuskript zurück, immer noch romantisch in die etwas verschmutzte Kladde geheftet.

Gerührt von dieser Gelegenheit, frühes Scheitern mit spätem Erfolg zu versöhnen, schreibe ich den Roman zu Ende, versehe ihn mit einem Nachwort, das den Titel trägt »Schicksal eines Manuskripts«, und widme ihn der Leserin, die den Text vor der Zerstörung gerettet hat wie Max Brod die Texte von Kafka.

Dann klettert das Buch auf der Bestsellerliste der Zeitschrift mit dem roten Rand nach oben, und alle sind glücklich und zufrieden.

Aber ich sagte ja, dass etwas wirklich Son­derbares passierte: Ich war sicher, dass ich die Kladde in die erste Mülltonne von rechts geworfen hatte, und zwar mit der Vorderseite nach unten wegen des Namens. Dennoch hob ich den Deckel der Tonne daneben. Darin lag die Kladde mit der Vorderseite nach oben. Es kränkte mich furchtbar. Offen­bar hatte sie jemand herausgefischt, darin geblättert und kurzerhand wieder zum Müll geworfen. Es war die schlimmste Rezension meines Schriftstellerlebens.

Hätte ich zu diesem Zeitpunkt wegen der Mentholzigaretten von Carmen nicht bereits mit dem Aufhören aufgehört, dann hätte ich nach diesem Schock wieder mit dem Anfangen angefangen:

*

Mit Carmen war ich glücklich, mit Melanie blieb ich befreundet. Glück ist das Empfinden von Unterschieden.

Das hat ein Mann gesagt, der viele unglückliche Menschen auf der Couch liegen hatte. Freud meint: Wenn man in einer kalten Winternacht in einem ungeheizten Schlafzimmer die Füße unter der Decke hervorstreckt und sie nach zehn Minuten wieder einzieht – was man dann empfindet, ist Glück. Das Anstecken einer Zigarette ist wie das Einziehen der Füße.

Und das Ausdrücken der Zigarette ist wie das Herausstrecken. Wir greifen nach der Zigarette, um das Nachlassen der Wirkung des Nikotins der Zigarette von vorhin zu kom­pensieren. Mit der Zigarette in der Hand lin­dern wir den Mangel, den wir uns mit der Zigarette in der Hand anerzogen haben. Wir brauchen das Nikotin, weil wir rauchen. Wir rauchen, weil wir das Nikotin brauchen. Wir rauchen, weil wir rauchen.

Wir können nicht davon ablassen, die Füße unter der Bettdecke hervorzustrecken, um sie mit einem wohligen Gefühl wieder einzuziehen. Das Geheimnis der Sucht ist nicht das Verlangen nach Lust, sondern der Flirt mit dem Schmerz. Wir lieben das Rauchen, weil es wehtut, nicht dennoch, und wir lieben es, weil wir uns nur nach dem Rauchen so wohl fühlen, als würden wir nicht rauchen.

Freud war nikotinsüchtig. Er konnte auf die Zigarre nicht verzichten. Er starb, von den Nazis nach dem »Anschluss« Österreichs aus Wien vertrieben, im Londoner Exil an Kehlkopfkrebs. Er war betagt und lebenssatt und hatte einen verständnisvollen Arzt, der ihm beim Sterben half.

»Fünfzig Jahre«, so hatte Freud geschrieben, »haben die Zigarren mir als Schutz und Waffe im Kampf des Lebens gedient.« Was eine Zigarette in der Hand eines Komantschen bedeutet, ist klar. Aber was bedeutet eine Zigarre im Mund von Sigmund Freud? Die Frage ist ihm gestellt worden, und er hat darauf geantwortet: »Manchmal ist eine Zigarre wirklich nur eine Zigarre.«

Eine Zigarette ist immer eine Zigarette. Wir strecken die Füße unter der Decke hervor und ziehen sie ein. Wir lieben den Teer in unserer Lunge, und wer das abstreitet, lügt oder macht sich etwas vor. Zufrieden ekeln wir uns vor dem eigenen Gestank, ergeben husten wir uns morgens in einen langen Zigarettentag.

Und wenn wir zwischen Sex und Zigaretten wählen müssten, würden wir die Zigaretten nehmen wie der gealterte Luis Buñuel.

Melanie würde das abstreiten, Paula würde es zugeben, Paul die Frage nicht verstehen. Carmen wäre es egal. Sie geht ihren Kindern zuliebe auf den Balkon. Anne sagt philosophisch: »Sucht sucht«, und Kreta fügt sarkastisch hinzu,»besonders nach Mitternacht, wenn es draußen regnet und keine mehr in der Schachtel ist.« Anne nimmt ihr das nicht übel, sie weiß, dass Kreta es nicht so meint. Ich weiß, dass Kreta es doch so meint. Aber Hauptsache, die beiden verstehen sich.

Kurz bevor Kreta und ich heirateten, erklärte uns Anne: »Das Leben ist ein großer Garten mit vielen verschiedenen Pflanzen und Kräutern und Bäumen, mit Wegen, die im Kreis, und mit Wegen, die nirgendwohin führen, mit Wiesen und verwunschenen Ecken und Bächen und Teichen.« Kreta sagte: »Die wichtigste Pflanze in deinem Lebens­garten ist der Tabak.«

Anne ging darüber hinweg: »In der Mitte des Gartens steht ein Hügel, der eine sonnige und eine schattige Seite hat. Die sonnige Seite heißt Yang …« Kreta fiel ihr ins Wort: »… und Yin die schattige, stimmt’s?«

»Genau!« sagte Anne. »Woher weißt du das?«