German Psycho

Der WM-Wahn war eine konformistische Revolte. Nicht die Große Koalition, sondern sozialpopulistische Demagogen könnten davon profitieren. von jörn schulz

Der Wahn beginnt mit einer Wahrnehmungsstörung. Obwohl unbefangene Beobachter am unteren Ende der deutschen Fahne nur einen gelben Streifen zu erkennen vermögen, sprechen deutsche Patrioten unbeirrt von schwarz-rot-gold. Gold muss es schon sein, wenn es um die Nation geht.

Es wird zwar unablässig gepredigt, dass das Fahnenschwenken und das Grölen nationalistischer Parolen nur eine Rückkehr zur Normalität seien, gewissermaßen der letzte Schritt zur Integration in die »internationale Gemeinschaft«. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Deutschen sich zwanglos irgendwo in den fröhlichen Reigen der Nationen einordnen wollen. »Der Klassenerhalt kann im weltweiten Wettbewerb nicht Deutschlands Anspruch sein. Es muss für uns immer um die Meisterschaft gehen, nicht nur bei der Nationalmannschaft«, sagt Oliver Bierhoff, Manager des deutschen Teams und Mitglied der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.

Angela Merkel und andere Politiker haben recht offen zu erkennen gegeben, dass die WM die Deutschen zu größerer Opferbereitschaft für den »Standort« erziehen soll. In dem Irrglauben befangen, die Veranstaltung werde den seit langem gepredigten Stimmungsumschwung bewirken, haben sie die Infrastruktur der Fanmeilen kostenlos bereitgestellt und die Regelverstöße geduldet, die mit dem Wahn alkoholisierter Massen zwangsläufig einhergehen.

Doch der Nationalismus wäre keine so erfolgreiche Ideologie, wenn er allein den Bedürfnissen der herrschenden Klasse dienen würde. Die Zugehörigkeit zur Nation zu demonstrieren, kann auch ein Weg sein, Ansprüche zu formulieren. Der WM-Wahn war eine konformistische Revolte, die Mehrheit der Fahnenschwenker wird weiter auf »die da oben« und die »Heuschrecken« schimpfen, und wahrscheinlich wird eher die Linkspartei von der patriotischen Aufwallung profitieren als die Große Koalition.

Das hervorstechendste Merkmal des Nationalismus im 21. Jahrhundert ist, nicht nur in Deutschland, seine Inhaltslosigkeit. Wenn es darum geht, »Leitkultur« oder »deutsche Werte« zu definieren, hat auch der eloquenteste Konservative ein Problem. Kulinarische Genüsse erscheinen als zu banal, blühende Landschaften gibt es auch anderswo, Goethe kennen die meisten Deutschen nur dem Namen nach und demokratische Werte zeichnen sich nun einmal dadurch aus, dass sie universal sind und nicht zum Eigentum einer Nation erklärt werden können. Da die konkurrierenden Nationen zugleich auch potenzielle Kunden sind, wäre es geschäftsschädigend, einen rassistischen oder kulturalistischen Überlegenheitsanspruch geltend zu machen.

Der Nationalismus wird so zum Teil einer infantilisierten Eventkultur. Seinen Zwangs­charakter bewahrt er jedoch, denn sich einfach nur freuen kann der Deutsche nicht. Wenn er zum Frohsinn fest entschlossen ist, muss jeder andere die Hacken zusammenschlagen und ebenfalls fröhlich sein, andernfalls ist er ein Miesmacher und Spielverderber. Gehässigkeit, latente und nicht selten auch offene Aggression waren bei den dem WM-Wahn Verfallenen unübersehbar.

Wer nur bescheidene Ansprüche an ein zivilisiertes Zusammenleben hat, mag es als Fortschritt feiern, dass unpatriotische Subjekte nicht mehr als »Volksschädlinge«, sondern nur noch als »Miesmacher« bezeichnet werden, und es als Quelle des Nationalstolzes betrachten, dass die Deutschen mehr als 60 Jahre lang keinen Vernichtungskrieg geführt haben. Tatsächlich ist der deutsche Nationalismus moderner, d.h. amerikanischer geworden. Der Rassismus verliert an Bedeutung. Er verschwindet nicht, ihn offen zu äußern, gilt jedoch als degoutant. So wie die meisten US-Amerikaner gelernt haben, zwischen Condoleezza Rice und den schwarzen Gangmitgliedern in Los Angeles zu unterscheiden, lernen auch die Deutschen, dass der türkische Mittelständler, anders als der Rowdy in der Rütli-Schule, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft ist.

Doch eine auf dem Prinzip der Konkurrenz aufgebaute Gesellschaft benötigt Anpassungszwänge und Ausgrenzungsmechanismen, sie reproduziert sie in veränderter Form ständig neu. Gerade weil sich das »Deutschtum« von seinen biologistischen Wurzeln löst und somit seine Selbstverständlichkeit verliert, muss umso intensiver Anpassung und Bekenntnis gefordert werden. Zudem ist der moderne Kapitalismus zwar in vielerlei Hinsicht liberaler als frühere Klassengesellschaften, doch um sich in die Warenproduktion einzufügen, müssen die Menschen täglich weit komplexere Anpassungsleistungen erbringen als Sklaven oder Leibeigene. Und sie müssen es freiwillig, heutzutage sogar mit Enthusiasmus tun.

Die Anpassungsbereitschaft wird nicht allein durch die Existenzangst, die Gefahr, dass abweichendes Verhalten zu Ausgrenzung und Verelendung führen kann, erzwungen. Sie wird internalisiert. Wie weit sie geht, zeigen die Untersuchungen von Wahrnehmungsforschern, die einer größeren Gruppe, in die sie einzelne Versuchspersonen gesetzt hatten, Zettel mit zwei verschieden langen Linien in die Hand gaben. Wenn alle anderen in der Gruppe sagten, die kürzere Linie sei die längere, behaupteten die Versuchspersonen nicht nur das gleiche, sie glaubten es auch. Dass Millionen von Menschen, die sich zuvor nicht für Fußball interessiert hatten, auf einmal der Ansicht waren, sie dürften kein Spiel versäumen, Deutschland habe den Meistertitel verdient und sei ein ganz tolles Land, ist eine Folge von Fehlfunktionen des Gehirns unter den Bedingungen kapitalistischer Sozialisation.

Zwar ist der Nationalismus kein »natürliches« Gefühl, denn die Liebe zum Vaterland setzt dessen Existenz voraus. Der Nationalismus ist mit dem bürgerlich-kapitalistischen Staat entstanden und wird mit ihm auch wieder verschwinden. Das Bedürfnis, dazu zu gehören, ist jedoch bei der Spezies Mensch sehr stark entwickelt. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe war in der menschlichen Geschichte meist durch materielle Zwänge bestimmt, die Gruppe zu verlassen oder sich eine andere zu suchen, war ein lebensgefährliches Unternehmen. Andererseits waren bereits in der Steinzeit persönliche Initiative und Individualität notwendig, denn eine Gruppe, die eisern an einem einmal gefundenen Konsens festhält, kann auf eine veränderte Umwelt und neuen Herausforderungen nicht angemessen reagieren.

Der Kapitalismus ist das erste Gesellschaftssystem, in dem die Individualisierung zum Leitbild erhoben wird. Doch es sind die kapitalistischen Verhältnisse selbst, die eine Individualisierung verhindern. Nicht nur, weil auch die Nation, die Familie und die Firma zu ihrem Recht kommen müssen, sondern vor allem, weil den in Produktion und Verwaltung Tätigen ständig vor Augen geführt wird, dass sie austauschbar und ihre individuellen Wünsche und Fähigkeiten bedeutungslos sind.

Unterhaltsamer als bei Adorno wird das Scheitern der Individualisierung im Kapitalismus in Bret Easton Ellis’ Roman »American Psycho« dargestellt. Patrick Bateman, Broker und Serienkiller, kommt immer wieder davon, weil niemand die von ihm Ermordeten vermisst oder sich auch nur daran erinnern kann, mit wem er am Tag zuvor zu Abend gegessen hat. Bateman hasst seinen Job. Warum er nicht einfach aufhört, wo er doch vom Vermögen seines Vaters leben könnte, will seine Begleiterin wissen. »Weil ich dazugehören will« (Because I want to fit in).

Es ließe sich wohl jeder Entwicklungsphase der Klassengesellschaft eine dominierende Persönlichkeitsstörung zuordnen, das christliche Mittelalter beispielsweise war eine manisch-depressive Epoche. Im modernen Kapitalismus überwiegt die narzisstische Persönlichkeit. Sie hat »eine grandiose Vorstellung von der eigenen Bedeutung« und »erwartet, ohne entsprechende Leistungen als überlegen anerkannt zu werden«, ist »neidisch auf andere und glaubt, dass andere sie beneiden«, versucht, Menschen zu manipulieren, und ist »unfähig, die Gefühle und Bedürfnisse anderer anzuerkennen«. (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders)

Bateman tötet einen Kollegen, weil dessen Visitenkarte von den anderen Brokern als schöner beurteilt wurde. Doch es gibt andere Möglichkeiten. Die britische Psychologin Belinda Board verglich die Persönlichkeitsprofile von 39 Managern mit denen von Patienten der forensischen Psychiatrie. Beide Gruppen »zeigten die mit der narzisstischen Persönlichkeitsstörung verbundenen Charakterzüge: Grandiosität, Mangel an Empathie, ausbeuterisches Verhalten«, zudem »Halsstarrigkeit, diktatorische Tendenzen, Perfektionismus«. Bei den Managern sei dies häufig verbunden mit »oberflächlichem Charme, Unehrlichkeit, Egozentrik und manipulativem Verhalten«.

Für Menschen, die keine Macht ausüben, ist es schwieriger, mit den täglich erfahrenen Kränkungen ihres Narzissmus fertig zu werden. Entlassene oder von Entlassung Bedrohte demonstrieren sehr häufig mit der Parole »Wir sind Menschen, keine Nummern«, doch das genügt in der Regel nicht, um die Empathie des Managements zu wecken. Größere Erleichterung verspricht es, sich einem Kollektivwahn zu ergeben und die Grandiosiät einer Gemeinschaft zu feiern.

Der WM-Wahn war in dieser Hinsicht eine Art psychotischer Schub, dessen langfristige Folgen noch nicht absehbar sind. Sollte sich die Steigerung nationalistischer Emotionen jedoch als dauerhaft erweisen, werden sie sich gegen alles richten, was als zersetzend für den Gemeinschaftsgeist empfunden wird. Dazu gehört auch der »amerikanisierte« Manager, und mit Oskar Lafontaine steht ein begnadeter Demagoge bereit, der glücklich wäre, eine solche Bewegung führen zu dürfen. Der sozialpopulistische Patriotismus scheint auch für Linke eine gewisse Anziehungskraft zu haben, zumal er ja mit einer Abkehr vom völkischen Rassismus einhergeht. Das Bedürfnis, dazu zu gehören, befriedigen auch radikale Gruppen und Sekten. Viele möchten jedoch einmal im Leben auch zu den Siegern gehören.

Eine erfreuliche Seite hatte der WM-Wahn dennoch. Wer sich als selbstkritischer Dissident hin und wieder gefragt hat, ob wirklich der Rest der Welt verrückt ist oder nicht vielleicht doch er selbst, kann sich nun wieder ganz sicher sein: Es ist der Rest der Welt.