Klasse Wetter!

Sonnenbräune war einst das tragische Schicksal des Feldarbeiters, später symbolisierte sie den Luxus der Freizeit. Zur Sozialgeschichte des Sommers, Erster Teil. von felix klopotek

Alle reden vom Wetter. Wir nicht.« Diesen Slogan entwendete im Jahr 1968 der SDS der Bundesbahn und montierte dazu die Köpfe von Marx, Engels und Lenin. Das sollte bedeuten: Während die anderen irgendein Zeug faseln, kommen wir zur Sache. Eine genial schlichte Botschaft.

Tatsächlich gilt vielen das Schwätzchen übers Wetter als Belanglosigkeit par exellence. Warum sich über etwas aufregen, das man nicht beeinflussen kann? Warum etwas anpreisen, das einfach da ist und sich morgen schon geändert haben wird? Weil es um etwas anderes geht. »Die prompten Gespräche über das Wetter – und das Wetter, das ist die Jahreszeit –, die auch zwischen völlig fremden Menschen problemlos in Gang kommen und die wohl zu jeder Zeit Konversationen angestoßen haben, sind heute insbesondere der Versuch, sich der natürlichen Basis der Zeiterfahrung neben und unterhalb der verordneten Zeit (der Zeit der Fabrik, der Schule, des Fernsehprogramms etc.) zu vergewissern«, schrieb die Essayistin Barbara Sichtermann, als sie noch Marxistin war. Und weiter: »Die menschliche Natur verbietet eine vollkommene Anpassung des Arbeiters an den Apparat; und soweit die natürliche Zeit der Gestirne und der Erdbewegung das größere Muster bleibt, in dem die Entwicklungen und Verrichtungen der menschlichen Körpernatur ihren Platz haben, lässt sich wohl behaupten, dass die vorkapitalistische Zeit der agrarischen Produktionsrhythmen, dass Sonnen- und Sanduhr nie völlig durch den Zeitplan einer modernen Organisation und die Weckuhr haben ersetzt werden können.«

Die Linke hätte durchaus vom Wetter sprechen sollen, und nicht nur, wie einst die Grünen, unter dem Gesichtspunkt der Klimakatastrophe. Man muss daran erinnern, dass der heute mythisch verklärte Streik bei Ford in Köln 1973 seinen Anlass darin fand, dass zahlreiche türkische Kollegen ihren Sommerurlaub eigenmächtig verlängerten und dafür mit der Kündigung bedroht wurden.

Die Jahreszeiten verweisen auf keine unschuldige Utopie. Sie sind umkämpfte Felder der Klassenbildung. Es geht um die Herrschaft einer Klasse und den Versuch der anderen, dieser Herrschaft zu entkommen. Das alles verschränkt sich in dem Blick auf die unter dem Einfluss von Sonnenstrahlen gebräunte Haut. In seinem wundersamen Fotobuch »Der Tod« notiert der Schriftsteller Günter Herburger nach einem Streifzug durch einen italienischen Badeort: »Strandleben verspricht Bräune, die für Gesundheit sorgen soll. Früher war es umgekehrt: Blässe verhieß Reichtum, Schutz und Burg. Wer hungerte, sah ländlich aus, gehörte kommender Verderbnis an.« Die Sonne verbrannte den Bauern die Haut; Macht drückte sich in der Unabhängigkeit von den Witterungsbedingungen aus. Wir sind nicht die, die aufs Feld müssen, sondern die, die die anderen dorthin schicken!

Das Stigma der gebräunten Haut hob sich mit der Durchsetzung des Industriekapitalismus auf. Die Bauern wurden von ihrem Land vertrieben und in Fabriken gezwungen. Der Kapitalismus macht sich nicht von Jahreszeiten abhängig, er erkennt sie nur als Mittel des Profits an, worauf die Tourismusbranche verweist. Die schlechte Haut der Proleten rührte jedenfalls nicht mehr von sengender Sonne, vielmehr von Alkoholsucht und ungesunder Nahrung.

In dem Maß, in dem der proletarisierte Bauer bleich wurde, suchte der Bürger die Sonne. Er musste nicht, er wollte sich die Haut bräunen lassen. Man gönnte sich Urlaub, während die anderen schufteten; man fuhr in die kolonisierten Länder und bestaunte den erbeuteten Reichtum. In der Figur des sonnengegerbten Abenteurers (der Imperialist, der als Kapitalist in seiner Heimat Konkurs gegangen ist) steckt auch die symbolische Ausbeutung der exotisch-braunen Hautfarbe derjenigen, die in Afrika, Asien und Südamerika die Wucht der ursprünglichen Akkumulation zu spüren bekamen.

In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im Westen der Prolet als Konsument entdeckt. Und zu einem ordentlichen Konsumparadies gehören die großen Ferien, der Sommerurlaub und die massenhafte Verbreitung gebräunter Haut. Was auf die Verkleinbürgerlichung der Lohnabhängigen schließen lässt: »Der Fetischcharakter der Ware ergreift in der Bräune der Haut, die ja im übrigen ganz hübsch sein kann, die Menschen selber; sie werden sich zu Fetischen«, beobachtete Adorno in seinem Essay über die Freizeit. »Der Gedanke, dass ein Mädchen, dank seiner braunen Haut, erotisch besonders attraktiv sei, ist wahrscheinlich nur noch eine Rationalisierung. Bräune ist zum Selbstzweck geworden, wichtiger als der Flirt, zu dem sie vielleicht einmal verlocken sollte. Kommen Angestellte aus dem Urlaub zurück, ohne die obligate Farbe sich erworben zu haben, so dürfen sie dessen versichert sein, dass Kollegen spitz fragen: ›Sind Sie denn gar nicht in Urlaub gewesen?‹ Der Fetischismus, der in der Freizeit gedeiht, unterliegt zusätzlicher sozialer Kontrolle.«

Mittlerweile ist der Sommer unter Verdacht: Ungefilterte Sonnenstrahlen machen die Haut eben doch kaputt. Die Blässe hat wieder ihren festen Platz im Katalog der Klassendominanz, Stars wie Scarlett Johansson, Nicole Kidman, Leonardo DiCaprio sind stolz auf ihre weiße Haut.

Wenn im Sommer die Lohnabhängigen bis in die Morgenstunden vor den Cafés hocken, möglichst weit weg fahren wollen, Hitzefrei verlangen, um sich an Stränden und in Freibädern die Haut, so sagt man, brutzeln zu lassen, dann setzen sie, angetrieben von Hitze und kurzen Nächten, ihren Reproduktionszyklus gegen den Produktionszyklus des Kapitals.

Aber der Wandel des Blicks auf die gebräunte Haut erinnert daran: Es gibt da noch die Gegenseite, die Nutznießer des Kapitals, die Schönen und die Reichen, die sich auch gerne mal im Freibad mit den anderen tummeln, die aber immer ein wenig früher wissen, welches Maß an Sonnenbräune noch als verträglich gilt, und die das entscheidende Quantum Geld mehr haben, um den Sommer nicht nur vor Cafés, im Schwimmbad und in spanischen Bettenburgen zu verbringen. So eigensinnig sich die Menschen im Sommer verhalten mögen, am Ende legt sich um das schöne Vergnügen wieder das eiserne Band der Klassenherrschaft.