Sonn’ ohn’ Unterlass

Die Moderne wollte das Wetter nicht beherrschen, sondern abschaffen. Zur Sozialgeschichte des Sommers, Zweiter Teil. von roger behrens

Seit ihrer Erfindung im 19. Jahrhundert gilt die Eisenbahn als Symbol des Fortschritts schlechthin. Der Fortschritt aber sollte vom Wetter unabhängig sein. Umgekehrt kennt das Wetter keinen Fortschritt und keine Geschichte, sondern nur die Wiederkehr der Jahreszeiten, den Wechsel der Temperaturen und die unveränderlichen Klimazonen. So war es kein Zufall, dass sich ausgerechnet die Bahn den Spruch »Alle reden vom Wetter – wir nicht!« als Werbeslogan aussuchte.

Die Moderne ist der Versuch, das Wetter nicht nur zu beherrschen, sondern es zu überwinden und abzuschaffen. Das Wetter selbst bleibt ziellos, während das Ziel der Moderne das ewig schöne und gute Wetter ist. Der Frühsozialist Charles Fourier dachte darüber nach, die Polkappen mit künstlichen Sonnen abzuschmelzen und dadurch den Sozialismus in einem permanenten Hochsommer einzurichten. Und die »Internationale« endet mit den Zeilen: »Unser Blut sei nicht mehr der Raben / und der mächt’gen Geier Fraß! / Erst wenn wir sie vertrieben haben / dann scheint die Sonn’ ohn’ Unterlass!«

Der realkapitalistische Kompromiss ist der Urlaub, der touristische Platz an der Sonne. Jede Reise verheißt einen »Kurzen Sommer der Anar­chie«. Ohnehin versucht die Moderne, sich als ein Sommerspektakel zu inszenieren. Lag in vorkapitalistischen Gesellschaften die Zeit des Feierns und der Feste im Winter, so wird sie in der bürgerlichen Epoche auf den Sommer verschoben. Die Kultur macht jeden Sommer zum »Summer of Love«, zu einer Aneinanderreihung von Festivals und anderen Open-Air-Events. Hier wird mit Mitteln des Pop versprochen, was dereinst die Revolutionen – und die großen fanden zumeist im Winter statt – forderten: die Gesellschaft der freien Assoziation.

Insbesondere in der Popkultur wird die Zelebrierung des Sommers zum Ritual, zum Mythos der Wiederkehr. Wenn der neoliberale Kapitalismus diese Nachhaltigkeit und Wiederholbarkeit der Lebensbedingungen nicht mehr garantiert, suggeriert das gute Wetter das schöne Leben, wenigstens nach Feierabend in der Beach-Bar, oder – wie schon im 19. Jahrhundert – am Sonntag. Die Sonne bleicht auch die Klassenunterschiede aus.

Während der Winter wegen der Starre auf Veränderung drängt, verheißt jeder sommerliche Sonnentag die Utopie, dass fortan alles so bleibt, wie es ist, dass das Wetter still- und abgestellt werden kann. Übrigens bedeuten erst seit der Moderne gutes und schönes Wetter ein und dasselbe, eben weil man sich das Wetter von seinem ökonomischen Nutzen abgekoppelt wünscht. Das Wetter soll allein zur Freizeit des modernen Menschen gehören, nicht zum System der abstrakten Arbeit. Heute wird das gesamte Jahr gebaut, das Schlechtwettergeld ist gekürzt; Hitze- oder Schneefrei gibt es nur in Ausnahmefällen. Anders als die feudale Agrarwirtschaft ist die kapitalistische Produktion zumindest ihrem Ideal nach vom Wetter unabhängig.

Heute sagt man: »Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung.« Doch für die Moderne ist dieser Satz falsch. Im Kapitalismus, mit dem die Sphäre der Freizeit erst entstanden ist, gibt es das erste Mal schlechtes Wetter (kurzum: in der Natur gibt es kein schlechtes Wetter, nur in der Kultur). Das schlechte Wetter wird sogar zum Missstand, wird medial zum sozialen Übel erklärt. In den Nachrichten sieht man die Menschen in den Büros oder auf der Baustelle unter der Hitze leiden. Dass nicht die Sonne das Leiden verursacht, sondern der ökonomische Zwang der Verwertungslogik, wird nicht einmal in Erwägung gezogen. Glücklich ist in diesen Sommertagen, wer Urlaub hat oder unabhängig vom Wetter produzieren und konsumieren kann.

Trotzdem bleibt das Wetter eine allgemeine Gewalt der Natur, der die moderne Kultur nach wie vor ausgesetzt ist. Das Wetter bricht immer wieder in die Moderne ein, durchkreuzt die Geschichte in einer Abfolge von Katastrophen, die tatsächlich auf die Abschaffung des Wetters hinauslaufen könnten (man denke nur an den Treibhauseffekt!) Wettervorhersagen sind immer noch mehr oder weniger Glückssache, und alle Versuche, das Wetter zu beeinflussen, sind bislang gescheitert – auch Wilhelm Reichs »Regenmachmaschine«, der die wahnwitzige Annahme zugrunde liegt, dass das Wetter eine Charakterpanzerung, eine psychische Verhärtung der Natur ist.

Auch die einfache Technik greift nicht wirklich ins Wetter ein. Heizungen und Klimaanlagen vermögen künstlich Wärme oder Kälte zu erzeugen, aber das Wetter lässt sich nicht verändern, jedenfalls nicht dauerhaft. (Möglich sind bislang nur sporadische Eingriffe, wie in Shanghai und Peking. Dort werden bestimmte Chemikalien mit Raketen und Artilleriegranaten in die Luft geschossen, die einen künstlichen Regen erzeugen, um das durch die Klimaanlagen über­bean­spruchte Stromnetz zu entlasten.)

So zeigt sich, dass sich gerade mit den modernen Unternehmungen, die Natur zu beherrschen, die Moderne selbst in einen Naturzustand verwandelt, für den das Wetter dann ein selbstverständlich natürlicher Ausdruck ist.

Walter Benjamin, der sich für den Zusammenhang von Wetter und Moderne interessierte, hat dazu in seinem »Passagen-Werk« notiert: »Moden, ja selbst das Wetter sind im Innern des Kollektivums, was Organempfindungen, Gefühl der Krankheit oder der Gesundheit im Innern des Individuums sind. Und sie sind, solange sie in der unbewussten, ungeformten Traumgestalt verharren, genauso gut Naturvorgänge, wie der Verdauungsprozess, die Atmung etc.« Das Wetter als Restnatur inmitten einer Welt, die sich als vollständig kultiviert begreift; und umgekehrt: das Wetter als Kultur getarnte Natur in einer auf den Naturzustand zurückgeworfenen Gesellschaft.

Dass Benjamin Wetter und Mode zusammenbringt, verweist auf deren strukturelle Ähnlichkeit in der Moderne. Gewissermaßen tangiert das Wetter den modernen Menschen genau dort, wo er modern wird, nämlich in der Mode. Und die Mode bleibt vom Wetter abhängig, ordnet ihre Kollektionen nach der Saison und übernimmt das wesentliche Prinzip des Wetters, nämlich die ewige Wiederkehr. In dem Maße, in dem die Mode zu einem Ausdruck des jeweiligen Wetters wird, verliert sie ihre soziale Signifikanz und wird von den sozialen Klassen unabhängig.

Auch hier ist ein Rückblick ins 19. Jahrhundert aufschlussreich. George Seurat malte die Ausflügler auf der Seine-Insel La Grande Jatte. Sein großformatiges Gemälde »Ein Sonntag auf Grande Jatte« aus dem Jahr 1884 zeigt, für diese Zeit ausgesprochen ungewöhnlich, Bürger, Angestellte und Arbeiter in einem Bild. Die Arbeiter, so offenbart das Bild, sind auch in ihrer spärlichen Freizeit Arbeiter, verhalten sich wie Proletarier und tragen zu jedem Wetter die Kleidung ihrer Klasse. Die Angestellten hingegen verstecken ihre Klassenlage in der Sonntagskleidung, verhalten sich als Freizeitbürger, nicht als Buchhalter oder Verkäuferin. Ihre soziale Stellung zeigt sich nunmehr darin, inwieweit sie dazu imstande sind, sich dem Wetter angemessen zu kleiden.

Seither ist dies die soziale Funktion des Sommers für die kapitalistische Gesellschaft: die Geschichte der Mode zu überantworten und den Umstand, dass es sich bei ihr um eine Klassengesellschaft handelt, dem Wetter entsprechend zu verkleiden und – bei der anhaltenden Hitze buchstäblich – zu reduzieren.