Hilflose Aufsicht

Der Atomunfall in Schweden von bernd parusel

So haben sich die schwedischen Kernkraftgegner den Ausstieg aus der Atomkraft nicht vorgestellt. Vier der zehn Reaktoren des Landes mussten abgeschaltet werden, aber nicht etwa deshalb, weil die Wähler 1980 in einem Referendum für einen Atomausstieg gestimmt haben, sondern wegen störungsanfälliger Notfallsysteme.

Vor zwei Wochen, am 25. Juli, hätte es in Schweden eine Katastrophe geben können. Bei Wartungsarbeiten in einem Stellwerk beim Reaktor Forsmark-1 nördlich von Stockholm war es zu einem Kurzschluss gekommen, der das Kraftwerk vom Stromnetz abkoppelte und lahm legte. Auf den Kontrollmonitoren wurde es dunkel. Die Sicherheitssysteme, die bei einer Notabschaltung des Reaktors die Kühlung der Brennstäbe sicherstellen müssen, liefen nicht alle automatisch an. Zwei von vier Notstrom-Dieselgeneratoren starteten nicht. Erst nach 23 Minuten gelang es dem Personal, sie manuell in Gang zu setzen. Sieben Minuten später hätte die Kernschmelze begonnen, meint der Atomkraftexperte Lars-Olov Höglund. Seiner Meinung nach ist Schweden nur knapp einem GAU entgangen, und nur dank seines Alarmrufs wurde die Nachricht von dem Unfall überhaupt erst einer größeren Öffentlichkeit bekannt.

Höglund war in den siebziger Jahren im Auftrag des Energiekonzerns Vattenfall mit der Entwicklung von Forsmark-1 befasst. Dennoch scheint ihn in Schweden kaum jemand ernst zu nehmen. Die AKW-Betreiber, allen voran Vattenfall und Tochtergesellschaften des deutschen Konzerns E.on, spielten den Vorfall in Forsmark herunter, und auch die staatliche Behörde für Atomaufsicht Statens Kärnkraftsinspektion (SKI) beschwichtigte.

Notfallsysteme seien nur sinnvoll, wenn sie auch funktionierten, sagte zwar ein Sprecher der Behörde. Letztlich habe aber keine ernsthafte Gefahr bestanden. »In Bezug auf Sicherheit und Strahlenschutz funktionierte die Anlage wie sie soll«, beteuerte SKI-Inspektor Lars Rask in der Zeitung Dagens Nyheter. Doch der Unfallreaktor ist immer noch stillgelegt, und in der vergangenen Woche wurde entschieden, drei weitere Reaktoren sicherheitshalber abzuschalten.

Viele Schweden wissen nun nicht, was sie glauben sollen, und für die Massenmedien ist das Thema schon wieder passé. Den meisten Politikern ist das recht. Die einen, die oppositionellen Bürgerlichen, wollen den Ausstiegsbeschluss von 1980 rückgängig machen und zum Teil sogar neue AKW bauen. Ein Unfall passt da nicht ins Konzept. Den anderen, den regierenden Sozialdemokraten, müsste es peinlich sein, dass der Ausstieg aus der riskanten Technologie nicht schneller gegangen ist. Seit 1980 sind erst zwei Reaktoren dauerhaft vom Netz gegangen. Um nun nicht den Eindruck zu erwecken, man setze mit der Abwicklung im Schneckentempo die Sicherheit aufs Spiel, übt sich auch die Regierung in Beschwichtigung.

Selbst wenn es aber stimmt, dass Lars-Olov Höglund übertrieben hat, wie Regierung, Atomaufsicht und Energiekonzerne behaupten, müssen sie sich die Frage gefallen lassen, warum es über eine Woche dauerte, bis klar wurde, dass auch die Notfallsysteme in Oskarshamn-1 und -2 sowie Forsmark-2 nicht sicher sind. Die Aufsichtsbehörde SKI hat zwar den Auftrag, sich stets ein »eigenes Bild von der Sicherheitslage in den Atomanlagen« zu verschaffen und zu überwachen, ob die Betreiber ihren Verpflichtungen nachkommen. Nach dem Unfall musste sie die AKW-Betreiber jedoch bitten, Berichte darüber einzureichen, ob die übrigen schwedischen AKW über ähnlich störungsanfällige Notfallvorkehrungen verfügen. Bis man einsah, dass das in mindestens drei weiteren Reaktoren tatsächlich der Fall ist, verging über eine Woche. Im Ernstfall geht es jedoch um Minuten.