Lothar und die Klavierspieler

Auf den Moog gekommen: Wie der Synthesizer den Progressive Rock eroberte. Teil zwei unserer Serie über den Rock der siebziger Jahre. von uli krug
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In der ersten Hälfte der siebziger Jahre war die Hammond-Orgel so populär, dass nicht einmal Hard-Rocker wie Uriah Heep, Deep Purple und sogar Black Sabbath auf sie verzichten wollten. Diese Popularität war nicht zuletzt ein Erfolg des von Tasteninstrumenten dominierten Progressive Rock. Dieser völlig neuartige Schwerpunkt in der Rock-Instrumentierung wurde – wie nahezu alles, was den Progressive Rock unverwechselbar macht – aus der europäischen Kunstmusik von Bach bis Bartók adaptiert. So entstand ein neues – aus der Art geschlagenes – »Idiom« der Populärmusik: mit der Klangfärbung aus der symphonischen bzw. geistlichen Musik und dem Verwenden breit angelegter, mehrteiliger Kompositionsformen wie Liederzyklus oder Suite: »Der konstante Bezug des Progressive Rock zur Hochkultur ist wohl der Hauptgrund, warum so viele Rockkritiker – Populisten aus Profession – dieses Idiom so intensiv verabscheuten«, schreibt Edward Macan in »Rocking The Classics«, seinem Standardwerk zum Prog. »In den Boom-Zeiten der späten Sechziger setzten die Plattenfirmen darauf, ihre experimentelleren Künstler zu fördern, und verknüpften damit die Rockmusik viel mehr als je zuvor mit den Ausdrucksformen bürgerlicher Kultur«, notiert auch der Musiksoziologe Allan Moore.

Vor dem Prog-Zeitalter jedenfalls war die Orgel in der Rockmusik nicht nennenswert in Erscheinung getreten außer bei Songs, die SciFi-Stimmung verbreiten wollten wie das Welterfolgs-Instrumental »Telstar« (1962) der Tornados. Im Underground hingegen kam bei den texanischen Acid-Rock-Bands der Mitt-Sechziger häufiger die schrill klingende Farfisa-Kompaktorgel zum Einsatz (die CD-Box Nuggets versammelt solche vergessenen Perlen), während zur selben Zeit John Mayall, das Mastermind des britischen Blues-Revivals, die Hammond-Orgel für seinen schweren Sound nutzte.

Hugh Hopper, der Bassist von Soft Machine, beschreibt die damals aufkommende Tasten-Faszination: »Eine besonders willkommene, erfrischende Entwicklung war die plötzliche Zunahme von Keyboardern. Die guten unter ihnen brachten mit ihrer neuen Art zu spielen und neuen Tönen eine dringend nötige Veränderung. Seit den Fünfzigern war die elektrische Gitarre – zunächst ein wundervoller, neuer Klang, mittlerweile ein von abertausenden Gruppen abgegrastes Terrain – immer mehr in Gefahr, bruchlos in der musikalischen Hintergrundbeschallung zu verschwinden.«

Neben dem Einsatz bisher völlig abseitig scheinender Instrumente wie Querflöte und E-Violine revolutionierte also ganz wesentlich die Hammond die Instrumentierungskonventionen der Rock-Musik. In den dreißiger Jahren war sie als preisgünstiger, elektromechanischer Ersatz für die Pfeifenorgel in der Kirchenmusik konzipiert worden. In Kombination mit dem rotierenden Leslie-Lautsprecher wurde der Klang des Instruments tiefer und zugleich facettenreicher, ohne jedoch seine bisherigen Qualitäten einzubüßen. Die nun mögliche Spannbreite des Instruments von sakraler Hymnik (Yes) bis zu eher perkussiven, übersteuerten Läufen (Emerson, Lake& Palmer), einem »verzerrten und wütenden Sound« (Emerson), markiert zugleich den inhaltlichen Spannungsbogen des Progressive Rock. Er reichte von quasi-liturgischer »head-music« bis zum aggressiv-dissonanten Soundtrack für rebellische Oberschüler; viele der langen Kompositionen – wie Genesis’ relativ populäres »The Musical Box« (1971) – oszillieren zwischen diesen Eckpunkten.

Ebenso typisch wie die Hammond wurde für den Progressive Rock das Mitte der sechziger Jahre entwickelte Mellotron: Es wurde erstmals von den Beatles für die LSD-Trips thematisierende Single »Strawberry Fields Forever« verwendet. Das Gerät spielt mithilfe einer Tastatur eine Vielzahl vorweg aufgenommener Tonbänder ab und besitzt einen weichen, etwas wimmernden Eigenklang, der sich zur Untermalung und Akzentuierung ruhigerer Passagen eignete (sehr gut zu hören auf der King Crimson-LP »Lizard«). Meist diente es den Prog-Bands schlicht als Ersatz des nicht vorhandenen (Streich)­Orchesters.

Eine fast noch größere Rolle spielte ein drittes, ebenso neuartiges Instrument: der legendäre Moog-Synthesizer, der 1968 nicht nur der erste vollelektronische Klangerzeuger mit Tastatur auf dem Markt war, sondern einen besonders »fetten Sound« besaß – »dank des patentierten Moog-Filters«, wie es in der Eigenwerbung hieß. Keith Emerson benutzte bereits 1969 bei Live-Auftritten den Synthesizer, was dessen Erfinder Robert Moog ermutigte, den leicht beweglichen und preisgünstigeren Minimoog zu entwerfen, der zu einem Markenzeichen des Prog werden sollte.

Die ersten Moogs erzeugten zwar eine unbegrenzte Vielzahl von Klangfarben, waren aber zugleich limitiert. Sie konnten nur je einen Ton zu je einem Zeitpunkt produzieren. Die Polyphonie, die gleichzeitige Erzeugung mehrerer Töne, blieb zunächst der Hammond vorbehalten, bis ab Mitte der Siebziger ein neues Modell, der Polymoog, nachzog. Weil der Moog konventionell erzeugte Klangfarben hervorragend imitieren und zugleich verfremden konnte, wurde er im Progressive Rock häufig nur als eine Art auffrisiertes Mellotron benutzt: Der Synthesizer lieferte ersatzweise orches­trale Klangbilder. Keith Emerson beispielsweise entlockte ihm gerne Hochgeschwindigkeitsfanfaren von imitierten Blechbläsern (beeindruckend realisiert auf der LP »Brain Salad Surgery«).

Vielleicht trug das missratene – aber hörenswerte – Experiment der Blues-Rocker von Spooky Tooth mit dem französischen Elektronik-Pionier Pierre Henry 1969 zur solcherart limitierten musikalischen Funktion des Synthesizers im britischen Progressive Rock bei. John Peel hatte deswegen bereits 1970 Emersons Musik als »Verschwendung von Elektrizität und Talent gleichermaßen« verrissen. Das ist sicher ungerecht, aber tatsächlich war die Vor-Moog-Phase reicher an unkonventionellen Klängen: die frühen Pink Floyd beispielsweise erzielten bizarre Ergebnisse mit eigentlich schlichten Echo- und Hallgerätschaften, Banddoppelungen und verfremdeten Naturgeräuschen.

Soundexperimente mit Synthesizern blieben zunächst ein obskures Nebengleis der US-Psychedelik. Das Opus »Ragnarok Electronic Funk« (1969) des kalifornischen Duos Beaver & Krause versprühte B-Movie-Charme, während die New Yorker Lothar & The Hand People, die eine herkömmliche Rhythmus-Sektion mit nicht weniger als drei Keyboardern kombinierten, eine muntere Mixtur aus psychedelischer Popmusik und elektronischer Kakophonie boten: Die Hauptrolle dabei spielt »Lothar«, wie die Band ihr Theremin nannte, ein vom sowjetischen Physiker Termen 1920 vorgestelltes elektronisches Musikinstrument, das nur durch von Antennen aufgefangene Handbewegungen gespielt wird. Mitte der siebziger Jahre komponierte dann Larry Fast aus New Jersey unter dem Namen Synergy Musik allein für elektronische Tongeneratoren, die sich stark an den zeitgenössischen britischen Progressive Rock anlehnte.

Dieser wiederum schien einfach zu sehr der E-Musiktradition des Landes verpflichtet, in der die folklorisierende Spätromantik eines Vaughan Williams dominierte, um sich auf die von Boulez oder Stockhausen untersuchten Terrains der elektronischen Musik zu begeben (Canterbury-Bands wie Soft Machine waren da mutiger). Selbst dort, wo der Synthesizer eine exklusive Rolle einnahm, beschränkten doch die kompositorischen Vorgaben letztlich die klanglichen Resultate. Das gilt für die Alben Tim Blakes (aus dem Musikerstamm des Jazz-Rock-Projekts Gong) wie für die von White Noise, ein Projekt von David Vorhaus, dessen Musik auch im Trash-Kultfilm »Dracula A.D. 1972« zu hören ist – deutscher Verleihtitel übrigens: »Dracula jagt Mini-Mädchen«.

»Kosmisch« wird es bei der »Kraut«-Adaption des Progressive Rock im dritten Teil der Serie.

Uriah Heep: Look At Yourself, 1971

Deep Purple: Machine Head, 1972

Black Sabbath: Sabotage, 1975

Tornados, The: Telstar/Jungle Fever (Single), 1962

Nuggets: Original Artyfacts From The First Psychedelic Era 1965-1968 (Compilation)

John Mayall & The Bluesbreakers: A Hard Road, 1967

Genesis: Nursery Crime, 1971

Beatles, The: Strawberry Fields Forever/Penny Lane (Single), 1967

King Crimson: Lizard, 1970

Emerson, Lake&Palmer: Brain Salad Surgery, 1973

Pink Floyd: Pipers At The Gates Of Dawn, 1967

Spooky Tooth & Pierre Henry: Ceremony. An Electronic Mass, 1969

Beaver&Krause: Ragnarok Electronic Funk, 1969

Lothar&The Hand People: Space Hymn, 1969

Synergy: Electronic Realizations For Rock Orchestra, 1975

Tim Blake: Crystal Machine, 1976

White Noise: White Noise 2. Concerto for Synthesizer, 1974