Zum Siegen verdammt

In Israel wird vermehrt darüber diskutiert, welches Kriegsziel erreicht sein müsste, um nicht als Verlierer aus dem Konflikt hervorzugehen. von michael borgstede, tel aviv

Eines ist bereits jetzt klar: Wenn die Waffen irgendwann schweigen und die Menschen im Norden des Landes aus ihren Bunkern herauskommen, dann wird in Israel die Suche nach den Schuldigen beginnen. Denn irgend jemand muss schließlich dafür verantwortlich sein, dass es der stärksten Armee der Region auch fast einen Monat nach Ausbruch der Kämpfe nicht gelang, den Beschuss israelischer Städte zu unterbinden oder zumindest einzudämmen. Waren die vorliegenden Geheimdienstinformationen unzureichend oder gar falsch? Warum wusste die Armee nicht, was genau in den Waffenlagern der Hiz­bollah auf den Einsatz wartete? Weshalb war über das unterirdische Tunnelsystem der Guerillaorganisation so wenig bekannt? Ist die Armeeführung für den wenig glorreichen Kriegsverlauf verantwortlich? Hat sie der Bedrohung im Norden in den letzten Jahren nicht viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt?

Die Generäle verteidigen sich vehement: Sie hätten in der Vergangenheit immer wieder eindrücklich vor einer Eskalation im Norden gewarnt, seien aber bei den Politikern auf taube Ohren gestoßen. Auch hätten die verantwortlichen Politiker die von der Armeeführung empfohlene Bodenoffensive nicht durchgeführt. Nur bei einem großzügigen Einsatz von Bodentruppen aber würde im Kampf mit Hizbollah-Kämpfern die Übermacht der israelischen Armee überhaupt ins Gewicht fallen.

Verteidigungsminister Amir Peretz und Ministerpräsident Ehud Olmert hingegen erinnern sich noch gut an das letzte militärische Desaster im Libanon: 1982 wollte der damalige Verteidigungsminister Ariel Sharon eine Israel freundlich gesonnene Regierung in Beirut installieren. Nicht länger als 48 Stunden solle die Aktion dauern, versicherte er damals dem Kabinett; viele Jahre und viele tausend Tote später zog Ehud Barak im Mai 2000 die letzten Soldaten aus dem libanesischen Süden ab. Wahrscheinlich standen Peretz und Olmert deshalb dem potenziell verlustreichen Einsatz von Bodentruppen sehr skeptisch gegenüber.

Erst in der dritten Kriegswoche änderten sie ihre Meinung. Die Bodenoffensive werde ausgeweitet, die Zahl der im Libanon eingesetzten Truppen mehr als verdoppelt, beschloss das Kabinett am Dienstag voriger Woche einstimmig, mit nur einer Stimmenthaltung. Der ehemalige stellvertretende Verteidigungsminister Efraim Sneh sagte dem Armeeradio daraufhin, die Militäraktion könne noch »mehrere Wochen« andauern. Auch Ministerpräsident Olmert äußerte sich dementsprechend: »Israel kämpft weiter«, sagte er. »Es gibt keinen Waffenstillstand, und es wird in den nächsten Tagen auch keinen Waffenstillstand geben.«

Doch diesen Bekundungen zum Trotz konnte man auch in Israel nicht die Augen davor verschließen, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen früher oder später in einer Resolution einen Waffenstillstand fordern wird. Sollte der Sicherheitsrat die von den Vetomächten Frankreich und den USA ins Spiel gebrachte Resolution verabschieden, bleiben Israel bestenfalls Tage zur Vollendung der Offensive. Waren die USA dem kleinen Verbündeten bisher wohl gesonnen und verweigerten sich den Rufen nach einer Waffenruhe, so hat sich die Situation nach der Bombardierung eines UN-Stützpunktes und der Katastrophe von Kana geändert. Langfristig können auch die USA solche Fehlschläge nicht ignorieren, ohne ihrem Ansehen zu schaden. Natürlich kommt der Resolutionsentwurf den Israelis in vielen Punkten entgegen: Der Entwurf ruft nämlich Israel nur »zur sofortigen Einstellung aller Offensiven« auf – gegen Raketenbeschuss verteidigen darf der jüdische Staat sich also weiterhin, und wie diese Verteidigung aussieht, bleibt wohl Ansichtssache.

Doch die Hauptfrage bleibt: Hat Israel seine Kriegsziele erreicht? Die Schriftsteller Amos Oz, David Grossman und A.B. Jehoshua haben diese Frage in einem offenen Brief vom Sonntag für sich bejaht und fordern aus diesem Grund einen sofortigen Waffenstillstand. Doch was war eigentlich das Ziel der israelischen Offensive?

Nach anfänglicher Verwirrung und überzogenen Ankündigungen, man werde »Hizbollah zerstören«, sind die realistischen Ziele erst spät halbwegs deutlich definiert worden. Das wichtigste Ziel, den Raketenbeschuss nordisraelischer Städte zu unterbinden, ist bisher jedenfalls nicht erreicht worden. Und noch immer streiten sich Verteidigungsminister Peretz und Ministerpräsident Olmert, ob die Armee eine zehn oder 25 Kilometer breite Sicherheitszone erobern soll. Nachdem die Armee die Hiz­bollah aus dem Gebiet vertrieben und ihre Stellungen zerstört hat, soll diese Sicherheitszone dann im Rahmen eines Waffenstillstandes einer multinationalen Truppe übergeben werden.

Ein Mandat für diese Truppe soll mit einer zweiten Resolution in ein bis drei Wochen geschaffen werden. Den seit 1978 im Südlibanon stationierten Blauhelmen der Unifil blieb jahrelang nichts anderes übrig, als hilflos den Grenzverletzungen der Hizbollah zuzuschauen. Im Idealfall sollen die ausländischen Truppen auch der libanesischen Regierung bei der Umsetzung der UN-Resolution 1 559 helfen, die die Entwaffnung der Hizbollah fordert.

Zuvor aber soll die »Partei Gottes« signifikant geschwächt werden. In gewissem Maße ist das Ziel bereits erreicht. Zahlreiche militärische Führer der Organisation wurden bei den Kämpfen und Luftangriffen getötet, das Hauptquartier in Beirut zerstört, und täglich werden Stützpunkte der Miliz im Grenzgebiet dem Erdboden gleichgemacht. Zwar sollen sich noch immer 9 000 Katjuscha-Raketen im Besitz der Hizbollah befinden, doch die Zahl der Raketen mit höherer Reichweite wurde bei Luftangriffen angeblich erheblich dezimiert. Eines der größten Probleme der israelischen Regierung in diesem Krieg aber ist, dass die Hizbollah nicht zu ihren Verlusten steht und in jedem Fall versuchen wird, sich als Sieger zu feiern. Das ist gar nicht so schwer: Bereits jetzt genießt Hizbollah-Führer Nasrallah auf der arabischen Straße eine Beliebtheit, von der die autokratischen Staatschefs der Region nur träumen können. Immerhin trotzt er der gefürchteten israelischen Militärmaschine seit über drei Wochen und hat es verstanden, seine eigentlich bescheidenen Erfolge in ein günstiges Licht zu setzen.

Israel hingegen müsse diesen Krieg deutlich gewinnen, bekommt man in Jerusalem in diesen Tagen immer wieder zu hören. Alles andere könne für die Region fatale Folgen haben. Sowohl der Abzug aus dem Libanon im Jahr 2000 als auch der Abzug aus dem Gaza-Streifen sind dem jüdischen Staat als Schwäche ausgelegt worden.

Schwäche aber, da herrscht in Israel ein partei­übergreifender Konsens, kann für den Staat lebensgefährlich werden. Die Friedensschlüsse mit Jordanien und Ägypten kamen nicht zuletzt deshalb zustande, weil Israel seine arabischen Nachbarn in mehreren Kriegen von seiner militärischen Unbesiegbarkeit überzeugt hatte. Das Abschreckungspotenzial des jüdischen Staates ist seit jeher seine beste Sicherheitsgarantie. Ein – wenn auch nur scheinbarer – Sieg der Hizbollah könnte deshalb den radikalen Palästinensern neue Motivation in ihrem Kampf für die Vernichtung Israels geben und die verhandlungsbereiten Kreise um Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas schwächen.