»Vorsicht vor Ideologen!«

Nach dem Zweiten Weltkrieg trat der jüdische Schriftsteller und Publizist ralph giordano der KPD bei, 1957 verließ er erschüttert von den Verbrechen des Stalinismus die Partei
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Ralph Giordano wurde 1923 geboren und hat nur mit viel Glück den Nationalsozialismus überlebt. In seinem publizistischen Werk beschäftigt er sich hauptsächlich mit der deutschen Geschichte und der Nazi-Vergangenheit Deutschlands.

Sie haben sich 1946 der KPD angeschlossen. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Ich war am 4. Mai 1945 bei der Befreiung durch die 8. Britische Armee 22 Jahre alt. In der – wie sich später herausstellte: irrtümlichen – Annahme, dass die Feinde meiner Feinde meine Freunde sein müssten, wurde ich Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands, Landesorganisation Hamburg. Die Nazis hatten zwei Hauptfeinde: die Juden, das waren wir selber, und die Roten, die Kommunisten. Mein Eintritt in die KPD war nach meinem damaligen Erkenntnisstand daher ganz organisch. Zwar waren wir von den Briten befreit worden, haben uns aber immer auch vor allem durch die Opfer der Roten Armee befreit gefühlt. Wir haben in den letzten Kriegsjahren wie der Vogel auf die Schlange auf die Ostfront gestarrt, denn unser Leben war immer mehr zu einem Wettlauf zwischen der so genannten Endlösung der Judenfrage und dem Endsieg der Alliierten geworden. Und da spielte die Rote Armee eine bedeutende Rolle, womit ich die Anstrengungen der Angloamerikaner nicht unter den Scheffel stellen möchte. Es waren antifaschistische und humane Gründe, die mich in die KPD getrieben haben.

Sie haben auch Erfahrungen in der DDR gesammelt?

Ich bin als KP-Delegierter oft in der DDR gewesen, war aber immer Bundesbürger. Vom Oktober 1955 bis zum Juni 1956 habe ich am Ersten Lehrgang des Instituts für Literatur in Leipzig teilgenommen. In dieser Zeit vollzog sich das Grundsätzliche meines Bruchs mit der Partei. Nach der schwierigen und schmerzenden Erkenntnis für mich, dass es zwischen Propaganda und Wirklichkeit keine Übereinstimmung gab, fand im Februar 1956 der 20. Parteitag der KPdSU statt, also Chruschtschows spaltweise Türöffnung für den Blick auf die Verbrechen Stalins. Für uns war das eine fürchterliche Eröffnung, weil sich zeigte, dass es stimmte, was der Klassengegner immer behauptet hatte, wir aber nicht glauben wollten. Das gab meiner Zugehörigkeit zur Partei innerlich den Todesstoß, obwohl es noch über ein Jahr dauerte, bis ich dann auch austrat.

Wie und wo haben Sie das Verbot der KPD im Westen erlebt?

Ich kam im Juni 1956 aus Leipzig nach Hamburg zurück, am 17. August wurde die KPD verboten. Obwohl ich mich schon innerlich entfernt hatte von der Partei, war da noch so etwas wie Nibelungentreue übrig geblieben. Ich stand an jenem Tag vor dem Gebäude der Hamburger Volkszeitung mit einem Haufen von Genossinnen und Genossen, und wir sahen, wie die Polizei rein und raus ging aus dem Gebäude, und ich wunderte mich, dass die Welt nicht einstürzte, dass sich eigentlich gar nichts tat. Ich erinnere mich noch, wie mir durch diese Nichtreaktion der Öffentlichkeit klar wurde, wozu die Kommunistische Partei, so lange die meine, verkommen war, nämlich zu einer Sekte.

Welche Erfahrungen haben den Ausschlag für ­Ihren Bruch mit der KPD gegeben?

Das organische Misstrauen des Menschen gegen den Menschen, das charakteristisch war für die stalinistische Partei, dem ich schon bald nach meinem Eintritt begegnet war. Im Laufe der Zeit wurde mir dann die große Lüge zwischen humaner Propaganda und inhumaner Wirklichkeit immer bewusster. Vor allem aber: Als Schriftsteller spürte ich, wie sich das Würgeisen der Kulturapparatschiks um meinen Hals legte. Am Institut für Literatur merkte ich, was es bedeutete, Schriftsteller in der DDR zu sein, also ständig die Schere im Kopf zu haben. Bei aller Noch-Hingabe an die Partei wurde da etwas in mir berührt, was für mich unantastbar war, nämlich meine Autonomie in Bezug auf das, was und worüber ich schreiben wollte.

Welche Rolle spielten Erlebnisse unabhängig von denen in der DDR?

Ich war 1953 wegen Verbalinjurien gegen die SPD-Führung in der Ostberliner Weltbühne zu zweieinhalb Monaten Gefängnis verurteilt worden. Genau zu jener Zeit, am 5. März 1953, starb Stalin, der für mich so etwas wie ein Vater war. Ich hatte ein Stalin-Bild in das Gefängnis geschmuggelt, und an jenem Tag, als er starb, habe ich es rausgeholt und während des Freigangs unter dem Fenster meiner Einzelzelle angebracht. Als ich zurückkam, war das Bild weg. Daraufhin habe ich die Einrichtung meiner Zelle zertrümmert und bin in einen einwöchigen Hungerstreik getreten. Dieses Erlebnis habe ich damals in einem Buch verarbeitet. Ein ganz im Sinne der stalinistischen Literaturtheorie des »sozialistischen Realismus« gezimmertes Werk, bei dessen Lektüre mir heute noch übel wird. Dieses Buch sollte im März 1956 herauskommen. Im Februar jenes Jahres aber hatte es, wie schon gesagt, in Moskau den Parteitag der KPdSU mit der Eröffnung der Stalinschen Verbrechen gegeben. Ein Buch, in dem Stalin derart verherrlicht wurde, konnte nun nicht mehr erscheinen. Ich hatte also zu der allgemeinen Tragödie, die die Eröffnungen Chruschtschows für uns am Institut für Literatur bedeuteten, meine eigene, individuelle dazu. Jetzt wollte ich auch gar keine Veröffentlichung mehr. Nun zeigten sich die Umrisse des großen Irrtums.

Das hat Ihre Zweifel verstärkt?

Emanzipiert hatte ich mich schon vorher von der Partei. Aber dieser Prozess wurde nun vertieft durch ein ganz besonderes Ereignis. Kurz vor der Eröffnung des 20. Parteitages der KPdSU gab es im Ostberliner »Haus der Ministerien« den 4. Deutschen Schriftsteller-Kongress – ein einziger Lobgesang auf Stalin und Walter Ulbricht. Auf diesem Kongress hielt ich eine wahre Brandrede, eine Gotteslästerung, denn ich forderte, das Amt für Literatur und die Zensur müssten weg und die Autoren selber entscheiden, was veröffentlicht wird und was nicht. Es gab in der DDR kein gedrucktes Wort, das nicht über dieses Amt ging. Überraschenderweise war die Zustimmung durch das Auditorium gewaltig. Das Tollste aber: Als ich geendet hatte und unter dem Jubel des Saales und dem Entsetzen der Funktionäre wieder zu meinem Platz ging, reckte sich eine gewaltige Gestalt vor mir auf und streckte mir die Hand hin: Ernst Bloch, der große Philosoph. Das war der Ritterschlag.

Wieso haben Sie mit Ihrem Austritt gezögert?

Als die Partei verboten wurde, war ich eigentlich schon fertig mir ihr. Das zu bekunden, hätte aber ausgesehen, als wenn nun die Ratten das sinkende Schiff verlassen würden. Und das wollte ich nicht, weil es nicht stimmte. Deshalb habe ich nach dem Verbot weiter ausgehalten. Als dann aber der Altgenosse Alfred Kantorowicz im August 1957 nach 40 Parteijahren mit der DDR und der SED brach, gab es für mich keine Verzögerung mehr, den Austritt zu erklären.

Hätte sich die KPD auch anders entwickeln können?

Je älter ich werde, desto klarer wird mir, dass der Sozialismus, wenn das so etwas wie der Sprung vom Ich zum Du und vom Ich zum Wir sein soll, scheitern muss, ganz egal unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen. Recht hat Karl Marx mit der Analyse des Kapitalismus seiner Zeit gehabt, die Diktatur des Proletariats aber ist eine mörderische These. Ganz abgesehen von ihrer Verlogenheit für die Sowjetunion, deren Arbeiterschaft in der bolschewistischen Ära ganze vier Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte. Und die sollte nun über die restlichen 180 Millionen herrschen? Sie haben es dann ja auch nicht, denn geherrscht hat nur eines: das Politbüro.

Ihre Grund, zur KPD zu gehen, war in erster Linie der Antifaschismus. Welche gesellschaftlichen Kräfte sehen Sie in der Verantwortung, sich dem Faschismus entgegenzustellen?

Zunächst einmal: Sagen Sie bitte nicht Faschismus, wenn Sie Nationalsozialismus meinen! Meine Familie und ich sind nicht von italienischen, ungarischen oder rumänischen Faschisten verfolgt und bedroht worden, sondern von Deutschen, die sich Nationalsozialisten nannten. Faschismen gab und gibt es viele, den Nationalsozialismus mit seinem Holocaust nur einmal. Wer Faschismus statt Nationalsozialismus sagt, relativiert den Nationalsozialismus. Ich will damit den Faschismus nicht beschönigen, erlaube mir aber die Bemerkung, dass Auschwitz mit Italienern nicht zu machen gewesen wäre. Es lebe die Humanität der Schlampigkeit – die Fahrpläne der Deportationszüge hätten nicht geklappt, um es mal auf diese Schiene zu bringen, es hätte die deutsche Perfektion gefehlt. Dieser ganze geschichtsfälschende Austausch von Nationalsozialismus gegen Faschismus war eine Stalinsche Sprachregelung, weil darin der ihm angeblich heilige Begriff »Sozialismus« vorkam – den niemand so geschändet hat wie Stalin selbst.

Aber um auf Ihre Frage zu kommen: Die deutsche Demokratie wird durch die extremistische Rechte gewiss nicht ausgehebelt werden. Aber die Schmerzgrenze ist ja nicht erst erreicht, wenn diese Gefahr bestünde, sondern viel früher. Nämlich da, wo die demokratische Republik, der demokratische Verfassungsstaat, gegen ihre Feinde von rechts nicht so militant vorgeht, wie es nach meinen geschichtlichen Erfahrungen nötig wäre. Ich setze auf eine liberale Mehrheit in unserer Gesellschaft, die sich gegen die rechten Aktivitäten wehrt. Ich weiß, dass da noch viel zu tun ist und manches im Argen liegt, aber an einen geschichtlichen Triumph der Ewiggestrigen glaube ich nicht.

Ich habe den Umweg zum Humanismus über den Irrtum des Stalinismus gemacht. Dem musste ich mich stellen und habe es öffentlich getan. Aber man kann den Weg zum Humanismus auch ohne diesen Umweg finden. Die deutsche Linke allerdings ist mir dabei immer suspekter geworden. Ich meine jene Linke, die sich gründlich in der Adresse irrt. Wie sich wieder gezeigt hat an ihrer Reaktion auf den Massentod in den Twin Towers von New York am 11. September 2001: »Die Amerikaner sind selbst schuld.« Für mich gehört diese Linke zum festen Bestand der Internationale der Einäugigen, deren eine Fraktion auf dem linken, die andere auf dem rechten Auge blind ist, und die beide mit ihren jeweiligen Vorzeichen in einem Teil der Welt bekämpfen, was sie im anderen rechtfertigen. Die Humanitas ist aber nicht teilbar. Ich würde mich heute nur noch mit schweren inneren Bedenken einen Linken nennen.

Was würden Sie einem jungen Menschen sagen, der heute beschließt, wegen der sozialen Ungerechtigkeiten in der Welt Kommunist zu werden?

Den würde ich auf das Millionengrab hinweisen, das Kommunisten angerichtet haben und das von der Dimension her nur vergleichbar ist mit den Mordziffern der Nazis. Ich würde ihm sagen: Vorsicht vor allen Ideologien! Ideologie bedeutet immer, sich im Besitz der alleinseligmachenden Wahrheit zu wähnen, und das ist immer wieder die Quelle der Gewalt. Vorsicht also vor Leuten, die keine Selbstzweifel haben, Vorsicht vor Fundamentalisten jeder Couleur, ob religiös oder politisch. Die Fundamentalisten und Ideologen sind das Elend dieser Welt.

interview: ivo bozic