Relativ subkomplex

Der Start der Fußball-Bundesliga zeigt: Beim Fußball geht es nur um eins – um Fußball. von rayk wieland

Hin und wieder sind sie noch zu sehen: jene sympathischen Alltagsphlegmatiker, die mit einem schwarz-rot-goldenen Fetzen am Auto durch die Gegend gurken, sei es aus Bequemlichkeit, sei es aus dem dringenden Bedürfnis, die schwarz-rot-geile Euphorie der Fußball-Weltmeisterschaft am Privatfahrzeug zu konservieren – und natürlich werden sie von der Polizei angehalten. Denn das Führen von Hoheitszeichen der Bundesrepublik Deutschland unterliegt einer speziellen Standarten­verordnung des Bundesverteidigungsministeriums, das nur während der WM beide Augen fest zudrück­te und jetzt das Privileg des im Fahrtwind flatternden Deutschland-Fähnchens wieder ganz für sich allein haben will.

Die Weltmeisterschaft ist nämlich vorbei. Dafür startete jetzt die Bundesliga wieder. Und sie begann mit einer Überraschung. Man konnte ganz normal Karten für die Spiele erwerben, im Stadion oder im Vorverkauf, ohne im Internet einen Daten-Striptease sondergleichen hinzulegen, ohne ganze Ränge mit VIP-Logen und Sponsoren-Kontingenten zu erdulden, nein: einfach so. Und man konnte den Fernseher einschalten, ohne gleich mit Hymnen incommodiert zu werden und in Gesichter zu blicken, die mit Staatsfarben verkleistert sind.

Es geht wieder um Fußball, weniger um das Drum­herum, um Fan- und Partymeilen oder Public-Viewing. Und das wahrhaft Erstaunliche ist, dass der Fuß­ball immer noch da ist, immer wieder von neuem beginnt, immer wieder neue Emotionen kreiert, obwohl es hier im Vergleich etwa zu einer Monteverdi-Oper oder Marcel Prousts »Suche nach der verlorenen Zeit« ziemlich monodimensional und subkomplex zugeht. Auf den ersten Blick jedenfalls.

Auf den zweiten stellt man fest, dass Fußball heute, zumindest in weiten Teilen der Welt, anders als Industrie und Landwirtschaft, als Glaube und Wissenschaft, der Kultus der modernen Gesellschaft ist: eine grandiose Mischung aus Religion und Pornographie, sozialer Interaktion und Idolatrie. Während in den Kirchen die Leere zum Firmament gähnt, sind die neuen Kathedralen der Stadien überfüllt, wobei die Schiedsrichter vom Papst die Unfehlbarkeitsdoktrin übernommen haben. Die Magie des Glaubens schwebt über jeder gelungenen Aktion. Die Spieler bekreuzigen sich, sie blicken auf zum Himmel, sie sinken auf die Knie.

Aber genügt das, die immer wiederkehrende Ekstase der Fans zu erklären? Ist es nicht viel eher ein erotischer Ritus als ein religiöser, dem die Massen orgiastisch beiwohnen?

Es sind ja wohl vor allem junge Männer, die jungen Männern dabei zuschauen, wie sie das Ding reinmachen. Anstoß, Abstoß, Freistoß, es wird gefummelt, es wird getrickst, man kommt über Außen und sucht den freistehenden Mann. Immer geht es darum, zum Tor vorzudringen, einem Tor, um das gekämpft wird, das bewacht wird, verteidigt, abgeschirmt, das sauber bleiben soll, das die Tabuzone überhaupt ist. Es liegt obendrein hinter einem Strafraum, und vor ihm thront die mythische Vaterfigur schlechthin, der Hüter, der einzige auf dem Feld, der die Hand benutzen darf, um das Tor reinzuhalten.

Fußball mag Oper, Rasenschach oder Spiegel der Gesellschaft sein, vor allem ist es eine Art Porno ohne Frauen. Darin liegt die Faszination des Spiels, das nicht von ungefähr in den Ligen auf Freitag und Samstag gelegt wird, die klassischen Wochentage des intergeschlechtlichen Kuschelns.

Deshalb rollt der Ball immer wieder, deshalb müssen wir immer wieder gebannt hinschauen: Dieses immergleiche Vor und Zurück, dieses ewige Rein und Raus, dieses mechanische Hin und Her – es geht immer nur um das Eine. Worum auch sonst?