Im Schatten Saturns

Eine Ausstellung in Salzburg widmet sich der Melancholie. von jens kastner

In der Geschichte der modernen Kunst gibt es so etwas wie die Behauptung eines privilegierten Zugangs zur De derts galt der Künstler als derjenige, der exemplarisch an den Verhältnissen litt. Und wer umgekehrt so richtig depressiv war, in dem steckte schon ein Nachfahre Van Goghs oder ein potenzieller Jackson Pollock.

Mittlerweile ist die Vorstellung des Künst­lers als eines männlichen Märtyrers für den wahrhaftigen Ausdruck längst als Ideo­logie enttarnt und das Leiden demokratisiert wor­den. Das Elend der Welt, so der Titel einer groß angelegten Sozialstudie Pierre Bourdieus, geht heute anerkanntermaßen alle an. Die »Zeugnisse und Diagnosen des alltäglichen Leidens an der Gesellschaft«, die der Untertitel von Bourdieus Buch verkündet, werden inzwischen in sämtlichen sozialen Milieus gewonnen.

Dan Graham, einer der Granden der frühen Konzeptkunst, hat bereits 1966 eine schlichte Tabelle erstellt, auf der die Nebenwirkungen von Psychopharmaka verzeichnet sind, die er gegen Depressionen nahm. Mit dieser simplen Arbeit, die die eigene Befindlichkeit thematisiert, aber deren individuelle Ausdruckskraft konsequent verneint, beginnt die Ausstellung »Soleil Noir. Depression und Gesellschaft«.

Die eigenen Tabletten tauchen in Form von aufgeklebten Schachteln auch in der Installation »Illusion City« (2006) des relativ unbekannten Wiener Künstlers Gerd Löffler auf. Sein Werk ist das formal wohl wildeste der insgesamt streng und geordnet wirkenden Schau. Auch Löffler gelingt es, das eigene, systematische Schlecht­draufsein zu transzendieren. In seiner Illusionsstadt aus Pillenpackungen, Pappe und Styropor gibt es auch Fotos von schäbigen und irrelevanten Ecken aus irgendwelchen echten Städten zu sehen. Eines davon zeigt ein parkendes gelbes Auto vor einem heruntergekommenen Geschäft. Der Laden hieß, das steht groß und ebenfalls in Gelb darüber, »Make Cash«. Der kapitalistische Imperativ und das Scheitern daran – so schön wird es in der Ausstellung ansonsten kaum mehr thematisiert.

Der soziologische Blickwinkel wird, anders als der Titel der Schau vielleicht vermuten lässt, selten eingenommen. Gemeinsame Grundlage der insgesamt 18 gezeigten Positionen ist weniger Bourdieu als vielmehr Sigmund Freud. Genauer: Freuds Aufsatz »Trauer und Melancholie«. Darin hatte der Psychoanalytiker die de­pressive Verstimmung als Reaktion auf einen unbewussten Verlust bezeichnet und von einfacher Trauer abgegrenzt. »Bei der Trauer«, schrieb Freud, »ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst.«

Von solch einem leeren Ich erzählt beispielsweise der aus der Schweiz stammende Chilene Hans Rudolf Wildi in einem Video-Porträt, das seine Schwester von ihm gemacht hat (»Portrait Oblique«, 2005). Die Künstlerin Ingrid Wildi mutet den ZuschauerInnen dabei abrupte Schnitte zwischen verschiedenen Gesprächseinheiten zu, um ihnen die Stimmungsschwankungen des Bruders nochmals vor Augen zu führen. Er kennt sich übrigens ebenfalls bestens mit Psychopharmaka aus.

Auch wenn man hier zum dritten Mal mit Namen wie Iproniazid, Trofanil, Ciprolex oder Floxyfrat konfrontiert ist: Die Ausstellung funktioniert, weil sie Verknüpfungen auch anders als über Antidepressiva herstellt. Eine Verbindung zwischen den vollkommen verschiedenen künstlerischen Formaten bildet beispielsweise das Stichwort »Grenzen«. Beiläufig erzählt Wildi in seinem Video von alltäglichen, rassistischen Ausgrenzungen, denen er ausgesetzt ist. Damit bestätigt er eine Ansicht Judith Butlers. Die Philosophin hatte in Auseinandersetzung mit Freud darauf hingewiesen, dass die Melancholie auch die Bedingungen dafür festschreibe, die Welt als »kontingent und durch ganz bestimmte Arten des Ausschlusses organisiert zu betrachten«. Über die Alltäglichkeit von Ausschlüssen und Grenzen erschließt sich dann auch, was Doris Frohnapfels groß projizierte Buntfotos von der Ostgrenze der Europäischen Union in der Schau zu suchen haben (»Borders Horizons«, 2004). Auf diesen sind nämlich nicht nur Grenztürme, Zäune und Wachposten zu sehen, sondern oft auch geradezu malerische Landschaften. Das Normale und Alltägliche der Grenze eben.

Um das Alltägliche geht es auch in anderen Werken. Da die Verluste, die den fundamentalen Verstimmungen zugrunde liegen, nach Freud in der Regel unbewusst sind, ist man dankbar für Berichte von konkreten Auslösern. Über solche sprechen drei ehemalige linke Aktivistinnen, die nach dem Militärputsch 1971 in der Türkei als »Stadtguerilleras« inhaftiert waren. Die drei von Gülsün Ka­ra­mus­ta­fa interviewten Frauen (»Making of the Wall«, 2003) bestätigen, was man auch von anderen politischen Häftlingen schon gehört hat: An politischem Druck hält man alles Mögliche aus, wenn aber dann der Baum im Gefängnishof gefällt wird oder ein Streit unter den Genossinnen ausbricht, geht nichts mehr.

Der politische Widerstand oder die Frage nach der Selbstorganisation, die dem Verlust (der Ideale etwa) eventuell etwas entgegensetzen könnten, wird in der Ausstellung dagegen nicht diskutiert. Und das ist eigentlich auch ganz gut so. Denn die Schau ist da am stärksten, wo es so richtig frustrierend ist. Dass gewisse Erlebnisse, Erfahrungen und Analysen zu Kunst gemacht wurden, ist eigentlich schon potenzielle Versöhnung mit den Verhältnissen genug. Da bedarf es gar nicht des Positiven, das der Presseerklärung zufolge »für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit sowie der Beziehung zu sich und dem Anderen« von einigen Werken herausgestellt werden soll.

Zwei Arbeiten, die einen auch nicht gerade aufbauen, sind die von Pawel Ksiazek und Fritz Rücker. Die aus fünf Gemälden bestehende Serie des polnischen Künstlers Pawel Ksiazek ist Leben und Werk der Schriftstellerin Sylvia Plath gewidmet. Es geht hier um biographiegespeistes Leid im Allgemeinen, am konkreten Beispiel erläutert. Wie der Ausstellungstitel eine Zeile aus einem Gedicht von Gérárd de Nerval (1808 bis 1855) aufgreift, so zitiert Ksiazek die Lyrik Plaths: »You flicker / I cannot / touch / you«. Die Momente, in denen das Leben flimmert und man es nicht fassen kann, sind denen wohl nicht unähnlich, in denen sich die Sonne verdunkelt.

Anders als die Bilder von Ksiazek erzählen die von Rücker einmal nicht von Depressionen. Sie rufen sie hervor. Der Salzburger Künstler hat im Hause seiner Großeltern eine Sammlung von Urlaubsbildern gefunden und zeigt diese nun als Diashow: Oma Elsa steht auf 160 Bildern vor Gebäuden, Sehenswürdigkeiten und Landschaften. So wurde sie über die Jahre hinweg offenbar immer vom Großvater dort hingestellt und abgelichtet. Das ist wirklich witzig und beklemmend zugleich. Als habe das Leben nur in dieser steifen und immergleichen Form seine Berechtigung, als könne man der Welt anders nicht habhaft werden. Die arme Frau. Der arme Mann. Man möchte weinen.

»Soleil Noir. Depression und Gesellschaft«, Salzburger Kunstverein. Noch bis zum 10. September 2006.