Spiel mir ein Konzeptalbum vom Tod

Die neue Platte des Ambient-E-Tüftlers Ekkehard Ehlers »A Life Without Fear« steckt voller kluger Ideen und vor allem voller Wehmut. von thomas blum

Wie stellt man zeitgemäße Musik her, die zutiefst melancholisch ist, ohne das klassische Format des Popsongs zu bedienen, ohne sentimental zu sein? – Eine Musik, die politisch ist und doch beinahe ohne Text auskommt, die in einem wünschenswerten Sinn modern ist, ohne schlimmstenfalls belehrend oder bestenfalls unverständlich zu sein, die eine Art fortschrittlicher, verstörender Ambient-E-Pop ist, falls es dergleichen gibt, ohne populär sein zu wollen, ohne kitschig zu klingen, eine aus der Beschäftigung mit der Musikgeschichte und Musiktheorie erwachsende Musik, die, obwohl oder weil sie sich ihrer Geschichte, ihrer Herkunft, ihrer Einflüsse, ihres Gehalts, ihres Sujets bewusst ist, klingt wie keine andere.

Der Elektronik-Avantgardist, DJ, Komponist, Pädagoge und Improvisationsmusiker Ekkehard Ehlers, der auf seinem neuen Album »A Life With­out Fear« mit seinen Kompagnons eine solche Musik erzeugt hat und der schon seit Jahren damit beschäftigt ist, elektronische Experimentalmusik mit klassischer Komposition, digitale Computersounds mit Kammermusik zu verschmelzen, scheint auch in anderer Hinsicht ein Mensch mit Geschmack zu sein. Auf der Bühne steht er unbeweglich, für Berliner Verhältnisse erstaunlich gut frisiert und ebenso unauffällig wie elegant gekleidet hinter einem Laptop und ruft Töne ab: Ein beständiges Knistern, Bratzeln, Schaben, Ticken, Sirren, Kratzen, Zirpen, Schnarren ist zu vernehmen. Ein sich fortwährend verdichtendes, feines Gewebe aus Geräuschpartikeln, das sich behutsam über ein regelmäßig langsam an- und abschwellendes, dynamisches, lärmiges Rauschen legt. Im Halbkreis um Ehlers stehen ein Trompeter, ein Gitarrist und ein Viola-Spieler. Ganz auf das rhythmische Rauschen konzentriert, setzen sie hie und da mit ihrem jeweiligen Instrument dazu an, kurze, improvisierte Passagen beizusteuern: eine gänzlich entrückt klingende Mundharmonika, dem Sound von Miles Davis ähnliche, sich im Nirgendwo verlierende Trompetenklänge, die an dessen Soundtrack zu Louis Malles Film »Fahrstuhl zum Schafott« erinnern, schmutzige Blues-Gitarrenakkorde.

Ehlers legt Wert auf diesen kunstvoll verstrahlten und verworrenen elegischen Sound, der sich »zwischen Reinheit und Verwaschenheit« bewegt und der gleichermaßen aus Absicht und aus Zufall entsteht. »Die Musik ist gleichzeitig beständig und unbeständig. Man muss wirklich jede Sekunde zuhören, sonst verpasst man etwas.«

Die Zeitschrift Wire schreibt treffend anlässlich eines Konzerts in London über die sonderbare »Formlosigkeit und Seltsamkeit« von Ehlers’ neuartiger Musik, die elektronisch verstärkte und Computer-Ambient-Sounds mit den Klangfarben akustischer Instrumente zu einer eigentümlichen Melange verarbeitet, die gleichsam energetisch den Raum flutet und die gekennzeichnet sei von einer von verschiedenen hintereinandergeschalteten Verstärkern angetriebenen Ambience: »Weder ist die Musik Computerkomposition noch Improvisation oder Blues, vielmehr befindet sie sich in einem verschwommenen Raum, der nicht klar zu definieren ist.«

Ehlers, der Philosophie studiert hat, als Konzeptkünstler begonnen hat und erst durch das Experimentieren am Computer zum Musiker geworden ist, scheint eine Art wandelndes Musikarchiv zu sein, und das merkt man seinen Produktionen an. »Wenn wir normalerweise über Musik reden, meinen wir Popmusik. Ich meine damit aber den kompletten Diskurs der Musik«, sagt er. Dazu gehört ihm zufolge Schönberg eben­so wie Techno.

Seit er 14 Jahre alt ist, sammelt er Platten. Als Jugendlicher hörte er Hardcore-Punk und stieß, wie viele andere, auf der Suche nach Wegen, die Grenzen des Herkömmlichen zu überschreiten, die Töne zu befreien, nacheinander auf Jazz, Free Jazz, frei improvisierte und moderne Musik. »Die Grundbewegung war schon die vom Immer-Musik-Hören, versuchen, sich mit Musik auszukennen und sich dafür zu begeistern, die Strukturen und die Entwicklungen darin zu verstehen und es dann selber zu machen.« Seine frühe Begeisterung für den Free-Jazz-Pionier Albert Ayler erklärte er dem britischen Magazin Wire: »Das Versprechen des Pop ist bei ihm verbunden mit dem Versprechen einer sehr eindringlichen Musik.« Aylers »Anspruch an ein universales, poetisches, religiöses, alle Musik – Blues, Straßen- und Zirkusmusik – zusammenbringendes, großes, nach dem Himmel strebendes Musikstück« habe ihm »sehr imponiert«, sagte er dem Hessischen Rundfunk.

Mit seinem Album »Plays« (2002) erwies er auf ungewohnte Art, indem er ihr Werk mit einem musikalischen Kommentar versah, den randständigen Künstlern Reverenz, die er verehrt: Albert Ayler, dem Schriftsteller Hubert Fichte, dem Bluessänger Robert Johnson, dem Filmemacher John Cassavetes und dem Komponisten Cornelius Cardew.

Sein beim Hörer eine Art glückselige Gleichmut auslösendes Album »Politik braucht keinen Feind« (2003), das zeitgenössische Ballettmusik enthält, hört sich teilweise an, als habe einer zu viel Musik von Brian Eno gehört und hinterher versucht, sie von einem unter Drogen stehenden Streicherensemble nachspielen zu lassen.

Die seit den siebziger Jahren unzählige Male erfolglos umhergetragene weiße Friedenstaube auf blauem Grund, das Symbol der Friedensbewegung, ist nun auf dem Cover des neuen Albums, das den Begriff der Trauer untersucht und sich der Geschichte und Tradition des Blues annimmt, abgebildet. Und bezeichnenderweise ist die Taube schwarz. Eine schwarze Taube. Denn ein Leben ohne Angst kann es ebenso wenig geben wie ein Leben ohne Leid, Trauer und den Tod. »Der Tod und die Schwärze sind wiederkehrende Figuren in Ehlers’ Werk« (Wire). Ehlers selbst nennt das Album »ein Konzeptalbum über den Tod«.

Den Auftakt bildet ein unter gequältem Gitarrengequengel sperrig hervorgepresstes Blues­traditional, »Ain’t no grave«. Nach einer Weile des Zuhörens kann man schließlich en détail mitverfolgen, wie der Blues in seine Einzelteile zerlegt und zielgerichtet demontiert wird, wie das nächste Stück etwa nur einzelne disparate Mikromusikfragmente nacheinander erklingen lässt, zerfallende Einzeltöne, unspezifisches Geraschel, Gefiepe, Gezische und Gebratzel, Störgeräusche, lose zusammengehalten nur von alles dürftig miteinander verbindenden Lautfetzen.

»There’s strange things happening in the land«, so hören wir danach die raue Stimme des Bluesgitarristen Charles Haffer Jr., das Knistern und Rauschen der Originalaufnahme, überlagert von elektronischen Einsprengseln, »und der klare digitale Bass und die verzerrten Gitarrengriffe aus Dylans Zeit knüpfen den Bezug zu heute, Begleitfiguren, die zurechtrücken, aber nicht modisch verfremden« (Die Zeit).

»A Life Without Fear« hat, als Album, das das Wesen, die Essenz und die musikhistorische Bedeutung des Blues in die Gegenwart rettet und liebevoll neu interpretiert, jedoch nichts zu tun mit musikalischer Restauration oder einer im gegenwärtigen Pop gerne praktizierten Rückkehr zum vermeintlich Authentischen, zum Herzerwärmenden des Neofolk oder anderer so genannter handgemachter Musik. Vielmehr muss das Album gleichermaßen als Respektsbekundung, als Demutsgeste gegenüber dem historischen Material des Blues wie als dessen Aktualisierung verstanden werden. »Musikgeschichten mit Störfaktor sind da zu hören, wobei entweder das Handgemachte digital erhöht oder das Computergenerierte (…) auf den Boden zurückgeholt wird. ›Lo-Fi in High-Tech-Qualität‹ lautet die Losung. Von einer beruhigenden Unruhe ist diese Mischung, die zugleich einnimmt und distanziert, die der Trauer des Blues gerecht wird und doch die Distanz des weißen Nachgeborenen hören lässt.« (Die Zeit)

Der Blues wird hier in einer Weise zitiert, angereichert, verfremdet, verdichtet, kontextualisiert und mit den musikalischen Mitteln der Gegenwart respektvoll bearbeitet, die ihn selbst und seinen Gehalt ebenso sehr in seiner Ursprünglichkeit bewahrt, wie sie ihn erneuert und seine Geschichte fortschreibt. Wer hätte geglaubt, dass es derlei gibt: eine Experimentalmusikplatte eines Laptop-Nerds und Theoretikers, die warm, hypnotisch und zutiefst anrührend ist, voller Wehmut und wahrhaft schön.

Ekkehard Ehlers: A Life Without Fear. Staubgold (Indigo)