Deutschland? Wo liegt das?

Die Holländer sind viel zu sehr mit sich beschäftigt, als dass sie Zeit hätten, sich für die Deutschen zu interessieren. von antoine verbij

Im Grunde genommen sind die Niederländer nicht an den Deutschen interessiert. Sie interessieren sich überhaupt kaum noch für die Welt jenseits der nationalen Grenzen. Ausland? Wo liegt das? Ausland ist Inland, glauben viele Niederländer, denn es gibt genug Ausländer im eigenen Land. Jedenfalls sehen viele Leute so aus, als wären sie Ausländer. Dass die, die so ausländisch aussehen, niederländische Staatsangehörige sind, lässt man oft einfach nicht gelten.

Die Niederländer glauben, zu viel mit sich selber zu tun zu haben, um noch am Rest der Welt interessiert sein zu können. Seit dem Mord an Pim Fortuyn haben sie sich von der Welt abgekehrt, um einmal richtig untereinander zu streiten und sich gegenseitig die Köpfe einzuhauen. Die vergangenen Jahre werden in die Geschichte eingehen als die Jahre der natio­nalen Zwistigkeiten, als Epoche der populistischen Schreihälse, als Zeitalter des sozialen und politischen Autismus.

Die Deutschen? War da etwas mit ihnen? Die Niederländer haben vergessen, was da war. Der Zweite Weltkrieg scheint schon Jahrhunderte zurückzuliegen. Jedenfalls spielt er im zutiefst unhistorischen Bewusstsein der Niederländer kaum eine Rolle. Nur in ironisch verfremdeter Form kehrt er hin und wieder zurück, zum Beispiel während der Fußballweltmeisterschaft, als in Holland orangefarbene Stahlhelme verkauft wurden, um in den Stadien die Deutschen zu provozieren.

Das war einmal ganz anders. In den sechziger Jahren, als die Protestgeneration heranwuchs und sich moralisch zum Gewissen der Nation und allmählich zum Gewissen der ganzen Welt auf­blähte, wurde abgeurteilt. Ob man während des Krieges auf der »richtigen« oder der »falschen« Seite gestanden hatte, wurde zum Maßstab. Natürlich standen alle älteren Deutschen auf der »falschen« Seite. Der holländische Operettenstar Johannes Heesters, der während des Krieges Ufa-Filme drehte und in den Konzentrationslagern für die SS gesungen haben soll, wurde im Jahr 1964 plötzlich zur persona non grata und in Amsterdam mit Rufen wie »Heesters SS« von der Bühne vergrault.

In den siebziger Jahren teilten viele Holländer die Meinung der radikalen Linken in Deutschland, die in der damaligen Bundesrepublik einen neuen Polizeistaat erkannten. Als der spätere Bundeskanzler Helmut Kohl 1979 im Fern­sehen mit niederländischen Bürgern diskutierte, wurde ihm die Schuld am Krieg und der brutalen deutschen Besatzung gegeben. Angeblich soll dies für Kohl der schlimmste Moment seines öffentlichen Wirkens gewesen sein.

Noch denkwürdiger war im Jahr 1993 die Reaktion der Niederländer auf den ausländerfeindlichen Brandanschlag in Solingen, bei dem fünf türkische Mädchen und Frauen ums Leben kamen. Ein populärer Radio-DJ rief die Holländer dazu auf, Postkarten mit der Aufschrift »Ich bin wütend« an Kohl zu schicken. 1,2 Millionen Karten trafen im Kanzleramt ein.

Die Niederländer fühlten sich gegenüber den Deutschen moralisch eindeutig überlegen. Mehr noch: Holland sah sich als die ethnische »Führungsnation« der Welt schlechthin, als unfehlbarer Wegweiser in Sachen Atomwaffen, Weltfrieden, Entwicklungshilfe, Antirassismus und Multikulturalismus. Erst in den neunziger Jahren sickerte allmählich die Einsicht durch, dass die Niederländer in all diesen Sachen vielleicht doch nicht so unfehlbar waren, wie sie dachten. Immer mehr Selbstkritik wurde laut, die von Populisten wie Pim Fortuyn zu einer rücksichtslosen Selbstbestrafung ausgeweitet wurde. Alle »guten« Einstellungen wurden als »falsch« entlarvt und sollten mit Hilfe einer Politik, die sich konsequent gegen linke Positionen wandte, ausgetrieben werden.

Für die Beurteilung der Deutschen bedeutete diese Entwicklung, dass die Niederländer gegenüber ihren östlichen Nachbarn immer gleichgültiger wurden und mitunter sogar Gutes über sie dachten. Zumindest geht dies aus Umfragen hervor.

Dabei spielte eine Rolle, dass Deutsch­land während der schweren wirtschaftlichen Zeiten der Wiedervereinigung als eine immer schwächer werdende Nation wahrgenommen wurde. Damit aber verloren die Niederländer jedes Interesse an den Deutschen. Was blieb, waren lediglich die Rituale im Fußball. Erst in zwei Jahren, wenn in Österreich und der Schweiz die Europameisterschaft ausgetragen wird, werden sich die Niederländer wieder daran erinnern, dass sie im Osten Nachbarn haben, die »Deutsche« heißen.