An einem Abend im November

Der Mord an dem linken Aktivisten Louis Sévèke in Nijmegen wurde bisher nicht aufgeklärt. In seinem Fall spiegelt sich die linke Kultur einer ostniederländischen Provinzstadt. von antoine verbij, amsterdam

In dieser Nacht im August war ein Teil der Innenstadt von Nijmegen eine Geisterwelt. Ganze Straßenzüge der ostniederländischen Provinzstadt wurden vom 22. auf den 23. August abgesperrt. Hier und da waren schwarze Schilder und weiße Bälle befestigt worden. Mehrere Kameras waren im Einsatz. Polizisten und Zivilisten bewegten sich stundenlang in einer makabren Choreografie durch die Szene.

Die ganze Operation diente einer Hightech-Rekonstruktion der Ereignisse vom 15. November 2005. Nach Bearbeitung der Aufnahmen mit Hilfe eines digitalen Panoramascanners hofft die Polizei, ein möglichst genaues 3D-Bild von dem Mord an Louis Sévèke herstellen zu können. Der 41jährige linke Aktivist wurde am besagten Novemberabend an einer Straßenecke im Zentrum mit zwei Schüssen getötet. Noch immer fehlt jede Spur von dem Täter. Das Polizeiteam, das den Mord untersucht, hat im Laufe der Zeit etwa 20 mögliche Mordszenarien aufgezeigt und versucht jetzt, deren Zahl systematisch zu reduzieren. Viele dieser Szenarien sagen etwas aus über das Leben und Wirken von Sévèke, aber auch über die Stadt, in der er lebte und aktiv war.

Es fängt schon damit an, dass die Angehörigen von Sévèke, vor allem auch sein ehemaliger Lebenspartner und Mitstreiter Frank Schoemaeckers, von Anfang an nur schwer zu einer Zusammenarbeit mit der Polizei zu bewegen waren. Es herrschte gegenseitiges Misstrauen, das für die Verhältnisse in Nijmegen kennzeichnend ist. Die Polizei und die linke Szene haben einander in den vergangenen 30 Jahren mit allen Mitteln und oft auch sehr gewalttätig bekämpft.

Sévèke spielte in diesen Auseinandersetzungen oft eine führende Rolle. Bei den Schlachten um besetzte Häuser, insbesondere bei den Kämpfen im Jahr 1987 um den großen Gebäudekomplex Mariënburg im Zentrum der Stadt, war er einer der wichtigsten Strategen der Hausbesetzer. Nachdem er sein Jura­studium aufgegeben hatte, entwickelte sich Sévèke zu einem Spezialisten, wenn es darum ging, Bespitzelungen durch den Geheimdienst und die Infiltra­tion der linken Szene aufzudecken. Er hat dabei manchen Eindringling bloßgestellt. Später spezialisierte er sich darauf, gerichtliche Verfahren zur Freigabe von Akten der Polizei und des Geheimdienstes anzustrengen. Zudem unterstützte er Asylbewerber juristisch.

Mit diesen Aktivitäten hat er sich viele Feinde gemacht. Zum Beispiel wurde der Geheimdienstspitzel Cees van Lieshout von Sévèke in einer detailliert recherchierten Studie vorgeführt. Er hatte sich in die Alternativszene von Nijmegen unter dem Namen Rob Kamphuis als gewaltbereiter Aktivist eingeschlichen, der teilweise andere Aktivisten zu illegalen Handlungen anspornte. 15 Jahre lang konnte er unbehelligt sein Unwesen treiben, bis er im Jahr 1990 enttarnt wurde. Van Lieshout lebt jetzt unter einem weiteren Deck­namen in einem griechischen Versteck. Aber auch mehrere Polizisten, gegen die Sévèke wegen Überschreitung ihrer Kompetenzen klagte, können ihm nicht wohlgesonnen sein. Es war deshalb ein schlech­tes Zeichen, dass in das Rechercheteam der Polizei, welches den Mord an Sévèke untersucht, auch einige von ihm verklagte Polizisten berufen wurden. Spekulationen darüber, dass einer von ihnen der Mörder sein könnte, sind allerdings eher abenteuerlich.

Im Unterschied zu anderen niederländischen Städten, zum Beispiel Amsterdam, konnte das berühmte nationale Konsensmodell in Nijmegen erst relativ spät Fuß fassen. Oppositionelle Gruppen lebten oft abgeschottet nicht nur von der Mehrheitsgesellschaft, sondern auch voneinander. Vielen linksradikalen Kreisen in Nijmegen haftete schon immer etwas Sektiererisches an. Sie waren selbstbezogen, selbstherrlich und oft extrem militant. Das war bereits in den siebziger Jahren so, als sich dort eine dogmatische Gruppe von Intellektuellen herausbildete, die mit ihrem fast theologischen Verständnis des Marxismus lange Zeit die Debatte in der niederländischen Linken monopolisierte. Dabei spielte es eine Rolle, dass Nijmegen traditionell das intellektuelle Zentrum des niederländischen Katholizismus ist, mit der größten und bedeutendsten katholischen Universität des Landes. Viele schafften damals den Übergang vom Katholizismus zum Marxismus, ohne ihren scholastischen Stil zu ändern.

In den achtziger und neunziger Jahren, in der Zeit der neuen sozialen Bewegungen, blühten in Nijmegen zahlreiche militante Gruppen, die oft eine Vorläuferrolle in den nationalen Bewegungen spielten, beispielsweise in der Ökologiebewegung, der Frau­en­bewegung, der antiimperialistischen Bewegung und der Anti-Atomkraft-Bewegung. Auch Hausbesetzer waren in Nijmegen sehr aktiv. Der Kampf mit der Polizei um die Piersonstraat, wo im Jahr 1981 Hausbesetzer versuchten, den Bau eines Parkhauses zu verhindern, war einer der langwierigsten und blutigsten in der niederländischen Geschichte.

Die Radikalität, das Selbstbewusstsein und die selbst gewählte Isolation der dortigen Bewegungen spiegelten sich auch im individuellen Arbeitsstil von Louis Sévèke. Oft arbeitete er im Geheimen an Recherchen. Sogar seine besten Freunde wussten manchmal nicht, womit er sich beschäftigte. Mit seinen Enthüllungen über den Spitzel Kamp­huis etwa hat er die ganze Szene völlig überrascht. Deshalb ist es nicht auszuschließen, dass Sévèke kurz vor seiner Ermordung an einer Recherche arbeitete, von der er niemandem etwas erzählte. Sein Mörder könnte aus dem Umfeld des Objekts dieser Recherchen stammen. Möglicherweise kommt der Täter aber auch aus der Welt der Bauunternehmer, die von Sévèke im Namen der Hausbesetzer hartnäckig kritisiert und juristisch verfolgt wurden.

Auch in Nijmegen hat sich mittlerweile das Konsensmodell durchgesetzt. Die Stadt wird jetzt von einer roten Koalition aus Sozialdemokraten (PvdA), Sozialistischer Partei (SP) und Grünen (GroenLinks) regiert. Dass die linken Bewegungen ihre Isolation durchbrochen haben, ist vor allem der SP zuzurechnen, einer linken Partei mit maoistischen Wurzeln in den siebziger Jahren. Damals zerstritten sich zahlreiche kleine maoistische Parteien und Fraktionen. Aus dieser Zersplitterung entstand die SP. Obwohl das Politbüro in Rotterdam angesiedelt war, hatte die Partei in Nijmegen die meisten Mitglieder und war dort am stärksten im Stadtparlament vertreten. Anders als andere revolutionäre Bewegungen, seien sie kommunistischer, trotzkistischer, anarchistischer oder maoistischer Ausprägung, ist die SP in den achtziger Jahren nicht auseinandergebrochen. Sie verdankt dies ihrer konsequent praktischen Ausrichtung, ihrem ideologisch undogmatischen Stil und ihren guten Kontakten in der Bevölkerung. Die erfolgreiche SP in Nijmegen war dabei immer auch das Vorbild für andere Städte.

Die Partei hat sich inzwischen im ganzen Land etabliert. In aktuellen Umfragen liegt sie vor Groen­Links und gilt landesweit als die viertgrößte Partei. Die aus Amsterdam importierte Nijmegener Bürgermeisterin Guusje ter Horst (PvdA) lobt die SP als eine Partei, die »Brücken schlägt«. Mit den gleichen Worten hatte ter Horst ihrem »Respekt« für Louis Sévèke Ausdruck verliehen. Sofort nach seiner Ermordung meldete sie sich zu Wort und nannte ihn einen »kritischen und kompetenten Verfolger der Justiz«. Die Bürgermeisterin stand auch während der so genannten Plakataffäre auf der Seite der linken Szene, die genau in der Woche, als Sévèke ermordet wurde, ihren Höhepunkt erreichte. Im ehemaligen besetzten Haus De Grote Broek, wo Sévèke jahrelang wohnte, waren Plakate aufgehängt worden, die die Integrationsministerin Rita Verdonk kritisierten. Darauf war zu lesen: »Reisebüro Verdonk: Für Verhaftungen, Deportationen und Feuerbestattungen.« Kurz vorher waren am Flughafen Schiphol elf Asylbewerber, die abgeschoben werden sollten, bei einem Brand ums Leben gekommen.

Verdonk, die in den achtziger Jahren in Nijmegen als pazifistische Aktivistin ihre Karriere begonnen hatte, reichte Klage ein. Polizeibeamte entfernten voreilig die Plakate. Dann wollte die Polizei auch gegen Politiker von GroenLinks, die in ihrem Büro im Rathaus ebenfalls die Plakate aufgehängt hatten, vorgehen, aber Bürgermeisterin ter Horst verhinderte dies. Sie ging davon aus, dass der zuständige Richter die Polizeiaktion als gegen die Meinungsfreiheit gerichtet verurteilen würde, was dann auch geschah.

Am Abend seiner Ermordung nahm Sévèke an einer Versammlung im Haus De Grote ­Broek teil; dort ging es um die Plakataffäre und eine Veranstaltung, die am nächsten Tag anlässlich der Katastrophe auf dem Flughafen Schiphol stattfinden sollte. Auf dem Weg von De Grote Broek zu seinem Appartement, wo er mit seinem ehemaligen Freund Frank zusammenlebte, wurde er erschossen. Die Schiphol-Veranstaltung wurde zu einer Trauerfeier für die toten Flüchtlinge und den linken Aktivisten Sévèke.

Auch die Plakataffäre führt zu einem möglichen Hintergrund von Sévèkes Ermordung. Ministerin Verdonk spielte sich in jenen Monaten als der neue Star des politischen Populismus auf. Sie wurde von ehemaligen Anhängern des ermordeten Politikers Pim Fortuyn als neue Heldin gefeiert. Diese Anhänger von Fortuyn outeten sich im Internet mit aggressiven Websites, auf denen sie sogar »Hit-Listen« mit Namen linker Aktivisten, die erschossen werden sollen, veröffentlichen. Sévèkes Name wurde aber nicht auf einer solchen Liste geführt. In der linken Szene will man aber eine mögliche Verwechslung von Sévèke mit Nijmegener Aktivisten, die tatsächlich für die Plakate verantwortlich waren, nicht ausschließen.

Ein eher unter der Hand gehandeltes Szenario für den Mord betrifft Sévèkes Privatleben. Nach dem Ende seiner Beziehung zu Schoemaeckers soll Sévèke angeblich in düsteren, schwulen Kreisen verkehrt haben. Aber dies gilt vielen als reine Spekulation. Denn Louis Sévèke wird von allen Seiten als ein friedlicher, sanftmütiger, warmherziger Mensch bezeichnet, der sich nicht in Kreisen bewegt haben kann, wo Gewalt und Erpressung zur Tagesordnung gehören. Eben ein Nijmegener Aktivist.

Der Autor war stellvertretender Chefredakteur des De Groene Amsterdammer und arbeitet jetzt als Korrespondent für die Tageszeitung Trouw.